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Das gefahrene Volk, das Publikum, wir werden von Schauspielern bedrängt, die unsichtbare Luken öffnen, gefährlich erscheinende Gegenstände von oben herabhängen lassen, von hinten sich anschleichen, uns fast auf dem Schoß sitzen, von vorn Wände vor den Wagen schieben. Fünfzehn Schauspieler sprechen drei Sprachen: Italienisch, Mazedonisch und Türkisch, singen auch und halten Plakate oder Latten mit dem deutschen Text hoch, auch eine Waffe. Drei Nationalitäten, drei Publikumswagen, alles wechselt sich ab. Der kroatische Regisseur Branko Brezovec schafft das Kunststück, das Nationaltheater Bitola aus Mazedonien, das Türkische Theater aus Skopje und das Laboratorio Nove aus Florenz zusammen spielen zu lassen es funktioniert auf diese ungewöhnliche Art. Der Ort des Geschehens: ein öffentlicher Raum, der Eingangsbereich des Audimax der Hamburger Universität. Viele Glaswände, miteinbezogen Menschen, die ausgeschlossen sind, unberührbar vom Vollmond und Lampen angestrahlt. Oder ein Haufen Geld, das ausgeschüttet wird, ganz nah, fast greifbar. Plakate studentischer Gruppen werden Teil des Bühnenbilds. Der ständige Perspektivwechsel läßt Platzangst nicht zu, obwohl mir noch nie Schauspieler so nahegekommen sind. Die Aufführung ist Teil des diesjährigen Hamburger »Laokoon«-Festivals. Das letzte Sommerfestival dieser Art. In diesem Jahr kamen 15.000 Besucher. Alle Aufführungen, die ich sah, waren Deutschlandpremieren. Die französische Gruppe Cie 111 eröffnete das Festival mit dem letzten Teil ihrer Trilogie über den Raum: »More or Less, Infinity«, ein Stück über die Linie. Die große Kampnagel-Halle 6 war voll. Doch die virtuose, technisch ausgefeilte, artistisch perfekte Darstellung ein Jonglieren an und mit Stäben, am Boden und himmelhoch ließ mich kalt. Interessant wurde es, wenn die Starrheit der Linie durchbrochen wurde. Wenn wie durch Magie die auch nur Technik war eine Hand oder ein Kopf sich über den Boden bewegten, ein Tänzer hinterher, auf der Suche. Der künstlerische Höhepunkt des Festivals: Cie Philippe Genty, auch aus Frankreich, eine Gruppe, die schon 30 Jahre besteht. Mit ihrem Stück »La Fin des Terres« das ebenfalls viel Technik und große Virtuosität braucht verzauberte sie die Zuschauer. Aus unbelebten Dingen werden Menschen, die in einem blauen Koffer verschwinden, sich in kleine Puppen verwandeln, dann in riesengroße, absurde: sie wie ein Kind mit Babyspeck, aber Brüsten, er mit männlichem Geschlechtsteil, das zur Schlange wird. Eine Schere tritt in Aktion, es tut nicht weh, macht lachen. Ein lebendiges Paar sucht sich, wird aufgesogen von gewaltigen Wogen kein Wasser Luft, vielleicht Wolken. Sie tanzt somnambul, er bringt ihr ein weißes Kleid. Eine Braut? Sechs Bräute sind es plötzlich. Ein winziges Dorf wird vom Boden verschlungen, Haus für Haus. Und immer wieder Papierblätter, Briefe, die Menschen gefährlich werden können. Aus dem Boden kommt ein Insekt, groß wie die junge Frau, umschlingt, attackiert sie, will vernichten. Und tanzt mit ihr. Eine Marionette mit Menschenkopf, Spinne, webt Fäden um ihr Opfer, das sich befreit. Die Farben wechseln. Kaltes Eislicht wie bei Caspar David Friedrich läßt die Menschen zu Schatten erstarren. Ein zartes Morgenrot überstrahlt winzige Glaspilze am Boden. Die Wolke kommt zurück, wird bedrohlich, nimmt die junge Frau in einem roten Kleid in sich auf, sichtbar, doch unerreichbar für ihn. Dann wird auch er eingesperrt in ein Luftgebilde. Sie berühren sich durch das dünne Gewebe hindurch, sind doch getrennt. Oder sind es Fruchtblasen? Zurück in den Uterus? Oder in den Garten der Lüste? Zwei weiße Blätter fliegen in die Luft, Botschaften auf Papier, tanzend. Beendet wurde »Laokoon« durch die Gruppe »Living Dance Studio« aus Peking mit ihrem Stück über das SARS-Virus: »Report on 37,8°«. Das quälend langsame Waschen von Handschuhen, nein, Händen, Plastikhänden in einer Schüssel, eine Geduldsprobe. Stille, später vom Verkehrslärm aus Peking abgelöst, auf einer Leinwand: Menschen an Haltestellen, in Bussen. Berührungsangst. Die Tänzer versuchen, eine Stelle für sich zu erobern, den winzigen Platz, den ein Fußschemel bietet. Eine Frau schafft sich Raum, indem sie ein Kartenspiel im Halbkreis um sich streut. Die Zukunft? Später entpuppen sich die Spielkarten als Dollars. Die Hände, abgehackte Hände, sie umfassen die Taille einer Tänzerin. Weiß, starr sie sind aus Eis, gefrorene Hände, die sie an sich drückt. Sie fallen herunter, zerspringen. Die Tänzer sehen die Zuschauer an, so intensiv, daß es wehtut. Ein lautloser Appell, wer versteht ihn? Das Virus, sichtbar gemacht: eine Frau im weißen Kleid, das in einer langen Schleppe aus Schläuchen endet, an denen die andern saugen oder blasen. Das Kleid ist bedeckt mit Händen, die sich entfalten durch die Atemluft, die sie zum Platzen bringt. Die Infizierten tanzen wie Irre, wälzen sich auf dem Boden, die Schläuche um den Hals. Dunkel. Jemand kommt mit einer Taschenlampe, leuchtet die in starrer Haltung daliegenden Tänzer ab, minutiös, Körperteil für Körperteil, das Gesicht, die aufgerissenen Augen, den Mund. Wie nach einem Unglück in einem Bergwerksschacht oder Tunnel. Alles riesengroß hinten auf der Leinwand abgebildet. Dann wieder Verkehrslärm, Menschenmassen. * »Theater muß politischer werden und sich in die Gesellschaft einmischen.« Das versprach der Hamburger Theaterchef Ulrich Khuon zum Anfang der neuen Spielzeit. Und es wurde. Mit »Liebe Kannibalen Godard« im kleinen Thalia-Theater in der Gaußstraße löste er sein Versprechen ein. Der 1966 geborene Autor Thomas Jonigk nahm sich den 40 Jahre alten Film »Week-End« von Jean-Luc Godard vor und führte ihn bis in die heutige Zeit, in der die Schreckensvisionen des Films schon zur harten Wirklichkeit geworden sind. Der ebenfalls 40jährige Regisseur Stefan Bachmann machte aus dem manchmal sehr theoretischen Text eine aufregende Inszenierung. Der Mensch, nur noch Konsument, wird zur Ware, die sich schließlich selbst konsumiert. Es ist, so Bachmann, »die Geschichte der Verrohung der Menschheit«, und die wird hier bis zum Kannibalismus getrieben. Der Anführer der Kannibalen, der freundliche Küchenchef, erzählt die Sage von Kronos, der seine Kinder verschlingt. Wer sich einverleiben läßt ins Räderwerk der Industrie, ist zur Ware geworden und erwirbt Waren, um nicht zu sterben. Designerkleidung und Marken, Marken, nicht einfach Autos. Nach dem blutigen Verkehrsunfall mit Totalschaden hebt Corinne (Melanie Kretschmann) um ihre kostbare Hermès-Tasche eine Klage an wie in der griechischen Tragödie was sind schon Menschenleben gegen die beschädigte Designertasche. Ihr Mann Roland (Stephan Schad) denkt wie sie nur an die Erbschaft von 20 Millionen, zu der sie unterwegs sind. Auf der Strecke, die sie nun abgerissen und zu Fuß bewältigen müssen, treffen sie auch auf Godard, den Regisseur, der im Interview resigniert feststellt: »Jede Theorie der menschlichen Arbeit ist verlorengegangen.« Eine BMW-Fahrerin beschimpft den Bauer und Traktorfahrer, am Tod ihres Geliebten Schuld zu sein: »Er war schön, er war jung, er war reich. Also hatte er die Vorfahrt vor allen.« Auf dem Weg zur Erbschaft tauchen auch zwei SS-Leute auf, die wie Automaten mit Falsettstimmen sprechen, künstlich keine Menschen? Sie fordern 150 Frauen aus dem KZ für Pharma-Experimente an. Tonbandstimme: »IG-Farben an Auschwitz « Das Degradieren des Menschen zur Ware wann begann das? Die SS-Leute er und sie ziehen die Uniform aus, werden zu Menschen oder zu Schauspielern? Ein Schwarzer und ein Araber in orangefarbenen Overalls erscheinen, beißen in fette Hamburger. Unser Paar, auf dem Weg zu den 20 Millionen, hat Hunger, will einen Bissen abhaben. Roland erhält einen winzigen Krümel. Der Schwarze: »Bezogen auf die Gesamtheit meines Hamburgers habe ich Ihnen genau das abgegeben, was die USA dem Sudan abgeben. Bezogen auf die Gesamtheit des amerikanischen Haushalts.« Der Koch (Markwart Müller-Elmau) kommt und beantwortet Fragen, die ein Soldat ihm stellt: »Ihr könnt alles haben, was ihr wollt ihr müßt es einfach dem Feind wegnehmen.« Der Koch erschießt, der Koch philosophiert: »Ihr, unsere Gefangenen, ihr seid Monster. Ihr begreift nichts, aber ihr macht mit.« Schließlich endet alles im Fressen und Gefressenwerden: »Sich selber fressen, bevor man gefressen wird. Das ist Freiheit.« Der Koch bietet uns ein Hirn-Ragout an. Am Ende verspeist er sich selbst, bis auf sein zuckendes Herz. Zum Schlußbeifall stoßen sich die Schauspieler gegenseitig von der Bühne, jeder jeden.
Erschienen in Ossietzky 20/2006 |
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