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Nur einen bescheidenen Wunsch fügte Lothar de Maizière hinzu: »Wir und Ihr, Hüben und Drüben, Wessis und Ossis und ähnliche Vokabeln sollten bald aus dem Sprachgebrauch verschwinden.« Leicht gesagt, doch schwer getan, denn die Verhältnisse, die sind nicht so. Das mußte auch der ostdeutsche Übergabe-Premier erfahren. 16 Jahre nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik sind die Lebensumstände, die politischen und gesellschaftlichen Anschauungen und das Wahlverhalten »hüben und drüben« immer noch unterschiedlich. Selbst im Sprachgebrauch de Maizières haben sich die Vokabeln »Wessis« und »Ossis« fest eingegraben, auch wenn er sie heutzutage in einem Sinn gebraucht, der ihm im damaligen Einheitsjubel nicht in selbigen gekommen wäre. In einem Gespräch mit der Mitteldeutschen Zeitung beklagte er ein »nachträgliches DDR-Bewußtsein« und äußerte den Wunsch, »daß nach den Besserwessis nicht die Besserossis kommen sollten«. Noch kurz zuvor, an seinem 65. Geburtstag, hatte er »die innere Einheit der Deutschen« auf einem guten Weg gesehen: »Der Zustand ist besser als die öffentliche Wahrnehmung ... Gerade für jüngere Menschen ist es kein Thema mehr, wer Ossi oder Wessi ist.« Da werden sich die jüngeren ostdeutschen Arbeiter aber gefreut haben. Erst unlängst wurde mit der Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für Gebäudereiniger – das sind in Deutschland immerhin 850.000 Beschäftigte – ein unterschiedlicher Mindeststundenlohn eingeführt: 7,87 Euro im Westen und 6,36 Euro im Osten. Es ist unwahrscheinlich, daß diese Differenz für die jungen ostdeutschen Gebäudereiniger »kein Thema« ist, denn auch ihnen dürfte es schwerfallen zu begreifen, daß der Dreck im Westen schmutziger und schmieriger als der im Osten ist. Oder sind etwa im Westen die Ziegelsteine schwerer, das Phenol giftiger, die Spitzbuben gefährlicher, die Kunden im Einzelhandel unfreundlicher, die Schweine größer, die Haare struppiger als im Osten? Um zu solchen widersinnigen Fragen zu gelangen, genügt es, einen Blick in den von der Hans-Böckler-Stiftung des DGB in diesem Jahr herausgegebenen »Tarifspiegel« der untersten tarifvertraglich vereinbarten Vergütungen zu werfen. Danach beträgt der Mindeststundenlohn eines Maurers im Westen 10,20 und im Osten 8,80 Euro, der eines Chemiearbeiters in Bayern 11,38 und in Ostdeutschland 9,89 Euro. Ein Nachtwächter verdient in Baden-Württemberg 8,23 bis 8,69 und in Thüringen 4,15 bis 4,60 Euro, eine Verkäuferin in Hamburg 9,88 und in Rostock 6,71 Euro, ein Fleischer in Nordrhein-Westfalen 8,87 und in Sachsen 4,50 Euro, eine Friseuse in Hessen 7,99 und in Brandenburg 2,75 bis 3,05 Euro die Stunde. Bei solchen Tarifen kommen im Osten dann doch Fragen auf, was für eine Einheit das wohl sein mag, zumal hier die gezahlten Löhne aufgrund der geringen Tarifbindung vielerorts noch unter dem von der Böckler-Stiftung genannten Niveau liegen. Die Ökonomen drücken das vornehm so aus, daß die Effektivlöhne hinter den Tariflöhnen zurückbleiben. Einkommensdiskriminierung der Ostdeutschen ist gang und gäbe. Auch die Rentner können davon ein nicht sehr lustiges Lied singen. Pro erworbenen Rentenpunkt erhalten die Bürger von Bayern bis Schleswig-Holstein 26,13 Euro, vom Erzgebirge bis nach Rügen müssen sie sich auch 16 Jahre nach ihrer Heimführung ins deutsche Vaterland mit 22,97 Euro, also mit 87,9 Prozent der Westrente begnügen, wobei man noch bedenken muß, daß in Ostdeutschland die gesetzliche Rente für 99 Prozent der älteren Bürger die einzige Einkommensquelle ist. Forderungen nach einer schnellen Angleichung des Rentenwertes Ost an West wurden von den Regierenden, den schwarz-gelben ebenso wie von den rot-grünen und den schwarz-roten, mit fadenscheinigen Begründungen zurückgewiesen. So kommt es, daß die Bundesrepublik Deutschland das einzige Land in Europa ist, in dem die Löhne nicht nach der Arbeits- und die Renten nicht nach der Lebensleistung, sondern nach dem Wohnort, West oder Ost, berechnet werden. Das ist einer, wenn auch nicht der einzige Grund dafür, daß sich die große Mehrheit der Bürger östlich von Elbe und Werra noch immer als »Bürger 2. Klasse«, als Ossis fühlen. Das unterscheidet sie vom letzten DDR-Ministerpräsidenten und auch von dessen Cousin Thomas de Maizière, dem Sohn des früheren Bundeswehrgeneralinspekteurs Ulrich de Maizière. Als Chef des Bundeskanzleramtes bezieht er ein ordentliches Salär, und auch um seine Altersbezüge muß er sich keine Sorgen machen. Und so fällt es ihm nicht schwer, auf die Frage der Berliner Morgenpost , ob er ein Wessi, ein Ossi oder ein Wossi ist, den Wunsch seines Cousins Lothar, diese Worte aus dem Sprachgebrauch zu streichen, mißachtend, zu erwidern: »Ein Wessi werde ich nie mehr werden, ein Ossi aber auch nicht.« Wie es scheint, müssen wir, unabhängig davon, ob uns die Vokabeln »Wessi« und »Ossi« gefallen oder nicht, noch längere Zeit mit ihnen leben – bis 2040, dem Jahr, in dem nach Berechnungen der Bundesregierung der ostdeutsche Rentenwert die Höhe des westdeutschen erreicht hat, oder gar bis 2061, wenn nach einer jüngsten Prognose des renommierten ifo-Instituts das ostdeutsche Pro-Kopf-Einkommen nur noch zehn Prozent unter dem westdeutschen liegen soll. Schöne Aussichten!
Erschienen in Ossietzky 20/2006 |
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