Ungleichzeitigkeiten

Sabine Kebir

Jean Villain lernte ich 1967 als Abiturientin kennen. Er befreundete sich damals mit meinen Eltern, mit denen ihn Interesse für französische Aufklärung verband. Durch negative Schulerfahrungen war ich geneigt, mich nach anderen Weltbildern als dem sozialistischen umzuschauen. Da lud mich Villain ein, ihn bei der Recherche für eine Reportage zu begleiten. Es ging nach Potsdam-Rehbrücke, wo auf Versuchsfeldern Spinat, Kartoffeln und Tomaten für Babynahrung in Gläsern gezüchtet wurden. Die gab es bislang nur im Westen, obwohl die arbeitenden Ost-Mütter sie dringender benötigten. Auf dem Wege erklärte mir Villain, daß die Entwicklung babygerechter Nahrung eine technische Herausforderung war, weil man dafür pestizidfreies Gemüse zur Verfügung stellen wollte. Nicht nur, daß mir ein Sozialist die noch unüblichen ökologischen Prinzipien erläuterte, auch, daß solche in meinem lausigen Land sogar hier und da zur Anwendung kamen, beeindruckte mich. Und ausgerechnet, als uns ein Ingenieur auf dem Acker mit viel zu bescheidener Attitüde das großartige Projekt vorstellte, entschloß ich mich, es doch noch mal mit dem Sozialismus zu versuchen. Villain hatte ihn mir als Prozeß voller Ungleichzeitigkeiten erklärt, bei dem man einfach nicht locker lassen dürfe.

Erschienen in Ossietzky 19/2006