Vorsicht und Keuschheit

Yang Jie

Nach einer Umfrage an der Peking-Universität, der Pekinger Fremdsprachen-Universität und anderen Hochschulen haben weniger als zehn Prozent der Studentinnen »Liebe gemacht«. Egal, ob sie einen Freund haben oder nicht, die meisten bleiben keusch, denn sie wissen: Die meisten Männer wünschen, wenn sie heiraten, eine jungfräuliche Braut. Diese Tradition, über tausend Jahre alt, wird sich nicht kurzfristig ändern.

Die Umfrage ergab auch, daß mehr als zehn Prozent der Studenten sexuelle Erfahrung mit einer Frau haben. Die meisten wollen nicht bis zur Heirat warten und bedrängen ihre Freundinnen, doch die fürchten die Katastrophe, die ihnen droht, wenn die Freundschaft zu Ende geht und sie dann von den meisten Männern als »unrein« abgelehnt werden.

Es gibt speziell für Studierende etliche Bücher, die über Sex informieren – immer mit der Tendenz, daß man während des Studiums am besten auf Liebe verzichtet. Die Bücher enthalten warnende Geschichten von Abtreibungen und von negativen Auswirkungen auf das Studium. Solche Lektüre bestärkt sicher viele Studentinnen darin, Liebesbeziehungen zu meiden.

Prostitution ist selten, kommt aber vor – aus verschiedenen Gründen. Einer ist Armut. Manche arme Studentinnen prostituieren sich, um ihr Studium zu finanzieren und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Oder sie unterwerfen sich männlicher Macht, um voranzukommen, zum Beispiel für gute Examensnoten oder für einen guten Arbeitsplatz.

In den großen Städten ist in konservativen Kreisen ein Zusammenleben ohne Trauschein undenkbar. Nach der Heirat ist der Mann ohne jeden Zweifel Herr im Haus. In einigen Millionenstädten wie Peking und Schanghai ist die Jugend stärker westlich beeinflußt. Da gibt es Menschen, die einfach tun, was ihnen gefällt – aber sie sind eine Minderheit.

Auf dem Land hat die sexuelle Emanzipation noch gar nicht angefangen, vor allem in armen Provinzen, wo Männer mit ihrer Erwerbstätigkeit die ganze Familie ernähren; die Ökonomie bestimmt die Herrschaft. Frauen müssen in jedem Fall gehorsam sein, sonst werden sie von den Ehemännern geschlagen. Frauenrecht ist zwar gesetzlich geschützt, aber viele geschlagene Frauen lehnen es ab, sich auf juristischem Wege zu wehren, weil sie meinen, in der Familie sei das nun einmal so und müsse ein Geheimnis bleiben, sonst komme es zum Skandal und die familiäre Harmonie werde zerstört. Gegen solche Diskriminierung der Frau in der chinesischen Gesellschaft werden die Frauen selber kämpfen müssen: gegen veraltete Tradition, um mehr Chancen, für gleiches Recht.

Erschienen in Ossietzky 18/2006