von Helmut Heit
"Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben" - dieser Jacques Delors zugeschriebene Ausspruch bringt so mancherlei auf den Punkt, woran die Europäische Union zu hapern scheint. Bisher ist es dem europäischen Projekt und seinen Institutionen nur unzureichend gelungen, die Menschen zu begeistern. Symptomatisch für diesen bürgerfernen Zustand ist der Aktionsplan zur Verbesserung der Kommunikationsarbeit der Kommission zu Europa vom Juli 2005. Er repräsentiert, so die Vizepräsidentin Margot Wallström, "die konkrete und pragmatische Umsetzung unserer politischen Priorität, mit den Bürgern der Europäischen Union in einen Dialog zu treten" (Wallström 2005). Zwar ist die EU ökonomisch und auch weitgehend administrativ erfolgreich, aber die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer quittiert die Leistungen der europäischen Institutionen mit Desinteresse. Manche halten das für unproblematisch, oder für unvermeidlich: Die EU sei nun einmal vor allem eine ökonomische und administrative Institution. Die soziale Integration sei hingegen Aufgabe der Mitgliedsstaaten. Andere sehen darin ein Problem, da ohne eine auch das Herz berührende Bindung an Europa das Maß an politischem Interesse nicht zu wecken sei, das die europäischen Institutionen zur demokratischen Legitimation benötigen. In diesem Kontext spielen Überlegungen zu den "Werten Europas" in den jüngeren politischen, kulturwissenschaftlichen, juristischen und philosophischen Diskussionen eine entscheidende Rolle. Auf welche Weise können Werte, wenn überhaupt, zur Ausbildung eines normativ gehaltvollen und zugleich emotional attraktiven europäischen Selbstverständnisses beitragen?
Das Thema des hier skizzierten Bandes ist das Verhältnis von Werten und Europa, von Wert und Gemeinschaft, von Verfassung und Patriotismus. Ein aktuell relevanter Ausgangspunkt ist dabei der Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVfE). Auch wenn dieses Vertragswerk in Ermangelung demokratischer Zustimmung niemals ratifiziert werden sollte, so dokumentiert die Unterzeichung durch die Regierungschefs am 29. Oktober 2004 doch die aktuell konsensfähige Position der politischen Eliten Europas. Im Verfassungsvertrag wird Europa ausdrücklich als Wertegemeinschaft etabliert: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet" (VVfE Art I-2). Wer wollte sagen, dass sie oder er diese Werte nicht schätzt? Bieten sie nicht einen idealen Identifikationspunkt für die Bürgerinnen und Bürger Europas? "Wir sind die Guten!" Aber die identitätspolitische Kombination von Werten mit Europa ist aus verschiedenen Gründen und in verschiedenen Hinsichten problematisch.
Zu diesen Problemen gehört die Konstruktion von Gemeinschaft überhaupt, zumal mit Bezug auf ein Mehrebenengebilde wie die EU. Das Wesen der europäischen Gemeinschaft, selbst seine Finalität ist durchaus unklar. Wenn es um "Gemeinschaft" oder "Patriotismus" geht, geht es heute in der öffentlichen wie der akademischen Diskussion sehr bald auch um "kollektive Identität". Ob die Identitätskategorie eine höhere theoretische Signifikanz hat als die politisch deutlicher eingefärbten Konkurrenten, sei einmal dahingestellt. Die fragwürdige Karriere und der theoretische Vorzug dieser Kategorie scheint gerade in ihrer begrifflichen Insignifikanz zu liegen (vgl. Siems 2005). Schon Lutz Niethammer hat den Identitätsbegriff meines Erachtens zu Recht im Anschluss an Pörksen als "Plastikwort" bezeichnet (Niethammer 2000, 38). Im Zusammenhang mit Europa ist Identität in der Regel nicht in erkennungsdienstlicher Hinsicht zu verstehen. "Wenn heute von "Identität" die Rede ist, bezieht sich das Wort vor allem auf unterschiedlichste Formen von Gruppenzugehörigkeiten und nicht auf individuelle Unverwechselbarkeit" (Siems 2005, 2). Diese Formen von Gruppenzugehörigkeit sind Ausdruck sozialer Konstruktionen. Diese gleichwohl politisch wirkmächtigen Identitätskonstruktionen haben inklusive und exklusive Dimensionen, durch die die Zughörigkeit zur Gruppe geregelt wird. Für die definierten Mitglieder der Wir-Gruppe müssen sie ein hinreichend attraktives Identifikationspotenzial bereitstellen. Dafür kommen unter anderem gemeinsame Abstammung, gemeinsame Interessen, geteilte historische Erfahrungen, Weltauffassungen oder auch Wertorientierungen in Frage. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann dem entsprechend z.B. auf dem Zufall der Geburt, einer Zwangsmaßnahme oder einer bewussten Entscheidung beruhen.
Neben den Problemen, die jede (europäische) Identitätskonstruktion betreffen, steht die Idee einer Wertegemeinschaft vor zusätzlichen Schwierigkeiten. Die im Verfassungsvertrag für ein europäisches Selbstverständnis genannten Werte beanspruchen universale Geltung, sie sollen für alle Menschen gleichermaßen Anwendung finden. Europa hingegen ist eine zwar geographisch und historisch zumindest unklare, aber in jedem Fall partikulare politische Größe. Viele der im Verfassungsvertrag als "Werte Europas" reklamierten Titel erfreuen sich weltweiter Zustimmung, zumindest haben erst 1993 in Wien 171 Staaten ihre nachdrückliche Anerkennung der Deklaration der Menschenrechte bestätigt. Wie soll man universale Werte anders denn kosmopolitisch verstehen? Um ein partikulares europäisches Selbstverständnis auf global verbreitete und universal geltende Werte zu gründen, müssen diese Werte mit Europa verbunden werden. Dazu sind im wesentlichen drei identitätspolitische Methoden möglich: Eine historisch-ursprungsmythische Vorgehensweise lässt Europa durch die Konstruktion einer tradierten Erbschaft als Urheber bestimmter Werte erscheinen. Identitätspolitisch attraktiv, setzt sich diese Vorgehensweise der Gefahr der Geschichtsklitterung und der Verwechslung von Genesis und Geltung aus. Eine andere Möglichkeit stellt der faktisch-empirische Nachweis dar, dass die in Rede stehenden Werte in Europa in besonderer Weise realisiert seien und Europa als vornehmster Verfechter dieser Werte gelten dürfe. Ein solcher Nachweis ist ebenfalls schwer zu erbringen und enthält vor allem mit Blick auf die westliche Welt einen latenten Anti-Amerikanismus. Man kann die Verbindung von Werten und Gemeinschaften auch politisch-dezisionistisch herstellen, indem sich ein Kollektiv bewusst und ausdrücklich mit bestimmten Werten identifiziert. Verschiedene Deutungen des Verfassungspatriotismus tendieren in diese Richtung. Es ist allerdings fraglich, ob die notwendige Basis eines an Verfassungsprinzipien orientierten Selbstverständnisses innerhalb der Bevölkerungen der EU nicht lediglich unterstellt wird. Alle Varianten sind mit Problemen konfrontiert.
Die Idee einer europäischen Wertegemeinschaft stößt auch im Sinne einer erkennungsdienstlichen Identität zur Bestimmung Europas im Unterschied zu Nicht-Europa auf Schwierigkeiten. Definitorisch kann ein universales Merkmal zur exklusiven Bestimmung eines spezifischen Gegenstandes nicht hinreichend sein. Die Spannung zwischen der universalen, für alle gleichermaßen wirksamen Geltung der reklamierten Werte und der prinzipiell partikularen EU ist kein bloß philosophisches Problem. Aus politisch nachvollziehbaren Gründen kann nicht jeder Staat auf diesem Planeten, ganz gleich wie sehr er sich diese Werte in Wort und Tat zu eigen machte, sagen wir Australien, deshalb schon Mitglied der EU werden. Die spezifische Differenz Europas zumindest zu den Staaten der westlichen Welt ist auf Basis dieser Werte nicht auszumachen. Auch finden die genannten Werte als Teilhabe- und Bürgerrechte, ebenfalls eine politische Selbstverständlichkeit, nicht auf alle Angehörigen der menschlichen Spezies gleichermaßen Anwendung, sondern privilegieren die Bürgerinnen und Bürger Europas. Die von schlichter ökonomischer Not motivierten Männer, Frauen und Kinder, die in überfüllten Booten vor den Küsten Spaniens und Italiens treiben, haben wenig Aussicht auf eine Mitgliedschaft weder in einer europäischen Werte- noch in einer Wirtschaftsgemeinschaft. Obwohl also die EU die historisch beeindruckende Überwindung nationaler Gegensätze repräsentiert und in ihrem Inneren umfangreiche Freizügigkeiten gewährt, ist sie doch weder die UNO noch eine wohlmeinende Non-Government-Organisation. Sie ist nach außen eine, wenn auch in ihren zukünftigen Grenzen noch unklar definierte, geschlossene Gesellschaft. Diese Grenzen sind ebenso wenig wie die Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei allein oder auch nur vor allem durch die kosmopolitischen Werte der Gemeinschaft bestimmt.
Kann man eine verfassungsgemäße Wertegemeinschaft lieben? Warum sollte man? Viele Mütter und Väter des Verfassungsvertrags hätten etwas dergleichen gerne gesehen, aber nach dem Scheitern des Ratifizierungsprozesses in Frankreich und den Niederlanden sieht es nicht so aus, als sei dieses Ziel noch zu erreichen. Es sei denn, man will das doch erhebliche öffentliche Interesse vorher und auch die erhitzten Diskussionen nach dem "Non" und dem "Nee" als Ausdruck eines voranschreitenden Identifikationsprozesses verstehen. Wenn man die Ausbildung eines normativ gehaltvollen europäischen Selbstverständnisses als ergebnisoffenen kommunikativen Prozess der Menschen in Europa versteht, kann man diese Diskussion allein wohlmöglich schon als Fortschritt werten. Insofern könnte sich das Scheitern als Erfolg erweisen. Ob und inwiefern die Europäische Union als Wertegemeinschaft in Betracht kommt, wird in den folgenden Abhandlungen - mit unterschiedlichen Ergebnissen - erörtert. Zu diesem Zweck versammelt der vorliegende Band dreiundzwanzig Forschungsbeiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen und verschiedener Positionen. Diese Beiträge sollen im folgenden im Rahmen von vier thematischen Schwerpunkten kurz vorgestellt werden.
Eine gängige Strategie zur Verknüpfung von Werten und Gemeinschaften ist der Hinweis auf eine besondere historische Erbschaft; das klassische Vorbild dafür ist der Ursprungsmythos. Auch die Präambel des Verfassungsvertrags, "schöpfend aus dem [...] Erbe Europas, aus dem sich [...] universelle Werte entwickelt haben", geht so vor. Durch die genetische Verbindung bestimmter Kultureigenschaften mit der Herkunft und Entwicklung einer bestimmten sozialen Gruppe, wird diese Gruppe als Erbe konstituiert. Die jeweilige Geschichtsauffassung ist dabei, wenn nicht erfinderisch, so zumindest selektiv zugunsten der Selbstverständigungsbedürfnisse der Gruppe. Im ersten Entwurf der Präambel, den das Präsidium unter der Leitung von Giscard d'Estaing im Mai 2003 dem Verfassungskonvent vorgeschlagen hatte, war noch ausdrücklich von der griechisch-römischen Antike und von der Aufklärung als wichtigen Erbteilen Europas die Rede. Das Christentum hingegen, dass typischerweise neben den beiden genannten als dritte Säule Europas gilt, blieb ebenso unerwähnt wie die dunklen Seiten der europäischen Geschichte. Dies musste und hat natürlich Anstoß erregt und Anlass zu verschiedenen Modifikationen des Textes gegeben. Bei genauerer Betrachtung erweist es sich als aussichtslos, in der Präambel eine auch nur halbwegs zutreffende, dabei gehaltvolle und zugleich konsensfähige Kurzgeschichte der kulturellen Entwicklung Europas zu erzählen. Vielmehr setzt man sich unweigerlich der Gefahr der Geschichtsklitterung und damit dem Ideologieverdacht aus. Insofern ist die Möglichkeit einer solchen Geschichte zwar nicht grundsätzlich, aber zumindest für das literarische Genre "Präambel" ausgeschlossen. Nach den Konventsberatungen blieb von den Konkretisierungen der europäischen Entwicklung nur ein Zitat von Thukydides als Motto der Verfassung zurück und auch das wurde kurz vor dem Regierungsgipfel in Rom im Oktober 2004 entfernt. Dem Verhältnis von antiken und modernen Demokratiekonzepten widmen sich Wilfried Nippel und Boris Girnat.
Während ein etwaiger Bezug auf die griechisch-römische Antike, die Aufklärung oder eine andere Epoche der europäischen Geschichte kaum auf allgemeines Interesse stößt, berührt die Frage nach dem Umgang mit dem christlichen Erbe offenbar durchaus die Gemüter in Europa. Der größte Teil der Änderungsanträge und Stellungnahmen zur Verfassungspräambel bezog sich auf diesen Punkt. Im Konvent wurde allerdings nicht mehr als die Anerkennung eines "christlichen Erbes" gefordert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Rede von einem "Christlichen Club", deren Herkunft (wie Peter Antes in seinem Beitrag zeigt) ungewiss ist, in der Medienöffentlichkeit immer nur negativ, zur diskreditierenden Charakterisierung einer Gegenposition verwendet wird. Für diesen Hinweis danke ich Christian Weiß; vgl. Carnevale/Ihrig/Weiß (2005, 84). Ein Grund für diese Differenz ist ohne Zweifel, dass das Christentum nicht als bloß historisch fortwirkendes, sondern als aktuell relevantes Phänomen gilt. Der Streit um einen expliziten Hinweis auf das christliche Erbe Europas wird durch die Ambivalenz des Begriffes "Erbe" erklärlich. Geht es nur darum, auf den historisch kaum bestreitbaren Umstand einer zentralen Rolle des Christentums in der Geschichte des europäischen Kontinents hinzuweisen, oder soll das christliche Erbe auch von verfassungs-wegen angenommen, geachtet, gepflegt und weiter getragen werden? Bekanntlich ist der Verfassungsvertrag ohne einen expliziten Hinweis auf das Christentum unterzeichnet worden. Die engagierte Diskussion um die Bedeutung der christlichen Religion für das gegenwärtige und zukünftige Selbstverständnis Europas ist damit sicher nicht abgeschlossen. Der Umgang mit einem christlichen Erbe in Europa und im Verfassungsvertrag wird in diesem Band in neben Peter Antes auch von Werner Suppanz, Matthias Belafi und Jozef Bordat ausdrücklich und in einer Reihe weiterer Beiträge am Rande diskutiert.
Neben der Herleitung einer europäischen Wertegemeinschaft aus etwaigen gemeinsamen historischen Wurzeln, ist auch ein mehr konstatierend-beschreibender Zugang möglich: Gibt es Werte, die sich mit dem Adjektiv "europäisch" versehen lassen, weil sie z.B. in der Praxis der europäischen Institutionen oder im Selbstverständnis aller Europäer besonders relevant sind? Um die identitätspolitische Signifikanz bestimmter Werte als "europäisch" zu rechtfertigen, wäre allerdings eine exklusive oder zumindest herausragende Bedeutung dieser Werte in Europa (im Unterschied zu anderen Weltgegenden) zu erwarten. Wie Michael Hölscher und Jürgen Gerhards in ihrem Beitrag zeigen, lohnt es, die Frage gemeinsamer europäischer Werte auch empirisch-statistisch anzugehen. Auch wenn es für Überzeugungen wie, ein bedeutender Politiker müsse nicht unbedingt religiös sein, einen breiten Konsens in der aktuellen EU gibt, sind doch auch die Unterschiede selbst zwischen den Ländern "Kerneuropas" z.T. nicht unerheblich. Hinsichtlich der Verfassungskulturen, auf denen der Umgang, das Verständnis und die (identitätspolitische) Wirkung von Verfassung beruhten, macht Daniel Schulz erhebliche Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland aus. Die beiden anschließenden Beiträge von Michael Opielka und Gesa Reisz erörtern die spezifische Signifikanz von "Solidarität" als europäischem Wert. Auf europäischer Ebene seien diese Deutungsverschiedenheiten zentraler Verfassungswerte ein bisher zu wenig erforschtes Problem.
Wenig erforscht ist auch die Werterealität der EU. Insbesondere unter denjenigen, die in öffentlichen Kampagnen gegen den Verfassungsvertrag Partei ergriffen haben, herrscht Skepsis gegenüber der Ernsthaftigkeit des Bekenntnisses zu den europäischen Werten vor. Ist die EU tatsächlich eine Gemeinschaft, "die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet" (VVfE, Art. I-2), oder ist das Ideologie im klassischen Sinne? In diesem Zusammenhang fragt Holger Brecht, welche Motive die Verfassungsgegner tatsächlich hatten.
Kann eine Verfassung zur Ausbildung eines europäischen Patriotismus oder ähnlicher Identitätskonstruktionen beitragen? Die Idee, Europa könne als Gemeinschaft von Freunden einer gemeinsamen Verfassung ein normativ und emotional attraktives kollektives Selbstverständnis ausbilden, beschäftigt die gelehrte Meinung spätestens seit Jürgen Habermas das Konzept des Verfassungspatriotismus von Dolf Sternberger aufgegriffen und auf die europäische Ebene übertragen hat. Einige sehen darin eine besorgniserregende Tendenz zu irrationalistischem Kommunitarismus; andere beharren, Patriotismus könne sich weder auf etwas so Abstraktes wie Rechtsdokumente beziehen, noch daraus hervorgehen. Wieder andere anerkennen vielleicht Sternberger's Konzept, bestreiten aber die Übertragbarkeit auf Europa und verweisen auf das fehlende Volk, die fehlende Sprache, die fehlende demokratische Öffentlichkeit und darauf, dass es (selbst mit dem noch anhängigen Verfassungsvertrag) keine europäische Verfassung gibt. Dennoch hält sich die Idee eines europäischen Verfassungspatriotismus hartnäckig. Ein besonderer Vorzug ist dabei in den Augen vieler seiner Verfechterinnen und Verfechter, dass der Verfassungspatriotismus normativen und kognitiven Ansprüchen genüge und trotzdem emotionale Anknüpfungspunkte biete. Zugleich komme er sehr gut ohne das für nationalen Patriotismus typische repressive Homogenitätsideal aus und sei daher ideal für eine offene, multikulturelle Zivilgesellschaft als Identifikationsrahmen geeignet.
Zu denjenigen, die den Versuch eines Verfassungspatriotismus nicht von vorneherein aufgeben wollen, zählt Sandra Obermeyer. Das Konzept des Verfassungspatriotismus und seine Entwicklung erörtert auch Volker Balli, indem er ihn mit der auf Romantik und Kommunitarismus zurückgehenden Idee der Wertegemeinschaft kontrastiert. Jürgen Nielsen-Sikora zu Folge müsse man sich angesichts der Tatsache, dass der Verfassungsvertrag weder eine Verfassung sei, noch eine besonders herzliche Zustimmung der Bürger erfahren habe, fragen, ob die Rede von einem europäischen Verfassungspatriotismus kein Geisterdiskurs sei. Hinsichtlich der Möglichkeit einer umfassenden Demokratisierung ist aber z.B. Claudia Ritter mit Blick auf die spezifische Struktur der EU skeptisch. Sie charakterisiert die EU als hybrid, da sie staatliche Funktionen realisiere, ohne Staat zu sein, und demokratische, ohne über die entsprechenden Institutionen zu verfügen. Claudia Wiesner zu Folge konstruiere die "Kein-Demos-These" zu Unrecht einen Teufelskreis, in dem fehlendes Volk, fehlende Volksherrschaft und fehlendes Zusammengehörigkeitsgefühl sich wechselseitig ad infinitum bedingten. Nach Auffassung von Bettina Thalmaier ist eine europäische Identität für eine engere politische Gemeinschaft Europas legitimationstheoretisch notwendig.
Die Frage nach dem Verhältnis von partikularer Identität und universalen Werten und damit die Frage nach einer europäischen Werte-Gemeinschaft ist auch Gegenstand der folgenden Beiträge. Mit Blick auf das Verhältnis von Werten und Gemeinschaften plädiert Markus Wirtz für eine eurogenetische Autodidaktik: Wir müssen lernen, dass es in unserem partikularen Interesse liegt, wenn wir uns als Europäer universal orientieren. Für die Verbindung von Partikularem und Universalem spricht sich auch Claudia Attucci aus. Aus etwas anderer, post-strukturalistischer Perspektive nähert sich Cornelia Brüll der Bedingungen der Möglichkeit einer europäischen Wertegemeinschaft, indem sie sprachanalytische und diskurstheoretische Überlegungen für die demokratietheoretische Debatte fruchtbar machen will. Wolfgang Bergem zufolge kann Europa weder als ökonomische noch als Verteidigungsgemeinschaft, sondern nur als erfahrungsgesättigte Wertegemeinschaft eine stabile politische Identität ausbilden. Auch Christof Mandy warnt davor, die Rede von einer europäischen Wertegemeinschaft vorschnell als Sonntagsrede abzutun, denn den Werten komme im Zusammenhang mit der politischen und kulturellen Identität Europas eine zentrale Bedeutung zu. Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Essay von Hermann Lübbe zur europäischen Union als Staatenverbund zwischen Regionalisierung und Globalisierung. Lübbe weist darauf hin, dass die Formel eines "immer enger" zusammen wachsenden Europa zwar seit Jahren wie ein Mantra der EU wiederholt werde, die tatsächliche Finalität Europas indessen offen bleibe. Im Unterschied zu einigen Beiträgen in diesem Band kommt die EU Lübbe zu Folge auch als Wertegemeinschaft nicht in Betracht. Vielmehr sei es wünschenswert, den Erfolg Europas als supranationale Wirtschaftsmacht nicht stets mit dem schamhaften Reflex zu quittieren, man sei doch eigentlich eine Wertegemeinschaft.
Auch wenn der vorliegende Band mit diesem Essay schließt, sind damit die wissenschaftlichen so wenig wie die politischen Diskussionen und Stellungnahmen zu dem Problemfeld "Die Werte Europas" abgeschlossen. Vielmehr ist es gerade der offene Charakter, der im besseren Falle das Wesen solcher Diskurse ausmacht. Die hier versammelten Texte sollen als Beiträge, wenn schon nicht zu einer debattierenden europäischen Öffentlichkeit, so doch zu einer öffentlichen Debatte über Europa verstanden werden.
Helmut Heit (Hg.): Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?, LIT Verlag, Münster 2005, €29,90
Helmut Heit
Einleitung: Die Werte Europas
Erbschaften: Historische und christliche Werte Europas?
Wilfried Nippel
Antike Tradition und europäische politische Kultur
Boris Girnat
Die europäische Verfassung: Das Ende der abendländischen Ethik und der Anfang eines globalen Universalismus?
Peter Antes
Christentum und europäische Identität
Werner Suppanz
Das Kreuz mit den Präambeln. Die österreichischen Debatten über den Religionsbezug im europäischen Verfassungsvertrag
Matthias Belafi
Christliche Werte und Europäische Verfassung
Jozef Bordat
Menschenbild, Menschenwürde, Menschenrechte. Zur Bedeutung der christlichen Wurzeln Europas für die Grundwerte der Union
Eigenarten: Welche Werte sind europäisch?
Jürgen Gerhards und Michael Hölscher
Europäischer Verfassungspatriotismus und die Verbreitung zentraler Werte in den Mitglieds- und Beitrittsländern der EU und der Türkei
Daniel Schulz
Der Wert der Verfassung: Deutsche und französische Verfassungskultur im Vergleich
Michael Opielka
Soziale Verfassungswerte. Die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates als Projekt Europas
Gesa Reisz
Solidarität der Europäerinnen und Europäer, europäische Solidarität? Solidaritätsdeutungen in Deutschland und Frankreich
Holger Brecht
Wertmaßstäbe zur Beurteilung der EU-Verfassung. Eine Bewertung der Motive bei Referenden über den Verfassungsvertrag
Verfassung: Patriotismus für einen Vertrag?
Sandra Obermeyer
Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept für die EU? Verfassungspatriotismus im Kontext der verfassungstheoretischen Diskussion: Konzepte, Voraussetzungen, Chancen
Volker Balli
Europäische Werte in Praxis? Über die Herausbildung eines normativen Selbstverständnis der Europäischen Union
Jürgen Nielsen-Sikora
"Verfassungspatriotismus" in der Europäischen Union?
Claudia Ritter
Kollektive Identitäten zur politischen Einbeziehung in die Europäische Union
Claudia Wiesner
Die Identität Europas und die Balance zwischen partikularen und universalen Werten
Bettina Thalmaier
Braucht die EU eine eigene Identität?
Werte: Kulturelle und normative Gemeinschaft?
Markus Wirtz
Der lange Weg nach EUtopia. Zwei grundsätzliche Aporien europäischer Identitätsbildung und ihre mögliche Auflösung
Claudia Attucci
Common constitutional traditions and European values in the EU Charter of Fundamental Rights
Cornelia Bruell
Sprache als Werkzeug diskursiver Konstruktionen kollektiver EUIdentitäten - Der Verfassungsdiskurs als Ankerpunkt einer Analyse
Wolfgang Bergem
Europas Werte als Fundament europäischer Identität
Christof Mandry
Die Europäische Union als "Wertegemeinschaft" in der Spannung zwischen politischer und kultureller Identität
Hermann Lübbe
Die Europäische Union - Staatenverbund zwischen Regionalisierung und Globalisierung
https://sopos.org/aufsaetze/450de6d5d3d04/1.phtml
sopos 9/2006