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Ein deutscher Schriftsteller, vielgelesen, vielgerühmt, gar als moralische Instanz verehrt und auf den Sockel des Nobelpreisträgers erhoben, hat einbekannt, daß er als siebzehnjähriger Faschist sich in den Reihen der Waffen-SS befand, nicht – wie bis dahin bekannt – in jenen der Wehrmacht. Der Unterschied ist, seit den Tagen der sogenannten Wehrmachtsausstellung läßt sich das schwerer wegleugnen, nicht so groß wie bis dahin behauptet und verbreitet. Nach vielen konkreten Fragen (wie: Warum erfolgt dieses »Geständnis so spät? Welches Kalkül ist jetzt in seinem Spiel? Vermarktet er geschickt sein eben in den Handel gelangendes Buch?) knüpften sich an den »Fall« auch Erörterungen, die pseudophilosophisch gespreizt daherkamen: Was ist der Mensch doch für ein Problemhaufen! Hat er nicht das Recht auf Schwäche? Und das auf Irrtum? Ist er nicht geschlagen von Blindheit zu allen Zeiten? Begegnet uns da »etwas« in uns, das völlig Unerklärliche? Soll man es folglich nicht unterlassen, von ihm Dinge zu verlangen, die er nicht leisten kann? Und, wie gehabt, sind wir nicht allzumal Sünder? Müssen wir nun nicht endlich lernen, wie dieses Millionen Jahre alte Lebewesen Mensch funktioniert? Diese Fragen sind Wegweiser in die Unverbindlichkeit, Intonationen jenes Klageliedchens, das Friedrich Engels mit den Worten verspottet hat: Was ist der Mensch, halb Tier halb Engel. Frei-Haus-Lieferung von Entschuldigungen für dieses und jenes eigene Versagen im Alltag. Angebote von faulen, aber hochtrabenden Ausreden für die hierzulande sich ausbreitende Gleichgültigkeit und Enthaltsamkeit gegenüber den Tatsachen und Herausforderungen unserer Tage. Auf diesem Parkett kann die Nation in schwarz-rot-gold gut tanzen. Land der Ideen? Warum ist keiner dieser vor allem über den Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntmachung Grübelnden auf die Frage verfallen, warum sich der Mann nicht vor reichlicher Jahresfrist, Ende Juli 2005, zu Worte gemeldet hat, als Richter des obersten Gerichts in Karlsruhe beschlossen: In diesem Staat Bundesrepublik Deutschland kann auf Straßen und Plätzen die Losung »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« straffrei präsentiert werden? Davon muß doch auch in norddeutschen Zeitungen zu lesen gewesen sein, obwohl sich die Berichterstatter und Kommentatoren dabei nicht halb so ausgiebig und nicht halb so lange aufgehalten haben wie nun bei der Zugehörigkeit dieses einen Mannes zur Waffen-SS. Da hätte Günter Grass doch hervortreten und rufen können: »Das nicht, denn...« Dann hätte seine Mitteilung eine Richtung in die Gesellschaft gehabt und einem Zweck gedient. Dann hätte er sich denen konfrontiert, die aus dem Kreis der seinerzeitigen Regierungskoalition und der Führungsgruppe seiner Partei augenblicklich und beflissen den Kotau vor diesen berobten Damen und Herren machten, Verfassern eines Skandalspruches. Dann wäre er an die Seite jener strikt antifaschistischen Minderheit getreten, der seit Jahrzehnten das Hauptverdienst daran zukommt, daß sich die Bundesrepublik von einem Teil der Lügen verabschiedet hat, die ihr in Wiege und Kinderstube gelegt worden sind. Dieses Urteil vom 28. Juli 2005 bildet einen fortdauernden Skandal dieser bürgerlichen Gesellschaft, vor dem die Verschwiegenheit eines in ihr lebenden Dichters als Blendwand aufgerichtet werden kann. Die jetzt die trübe Tinte ihrer Federn auslaufen lassen, haben ihn entweder als solchen nicht empfunden oder wollen an ihn nicht erinnern. Ganz nebenbei erhalten wir eine weitere Anschauung von einem Journalismus, der sich in die Brust wirft und dabei ganz ohne ein Propagandaministerium funktioniert – wie eben der Mensch.
Erschienen in Ossietzky 17/2006 |
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