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Ein Abgrund tat sich aufDie Bundesrepublik ist bekanntlich ein Land, das von seinen Agrarprodukten lebt, besonders von Spargel und Erdbeeren. Und so verwundert es nicht, daß ein Bericht des Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit über die Mängel beim Arbeitseinsatz von Arbeitslosen panikartiges Echo bei Nachrichtenagenturen und Zeitungen fand: Hartz-IV-Empfänger hätten sich geweigert, landwirtschaftlich tätig zu werden, andere seien zwar zum Landdienst erschienen, hätten aber »mutwillig die Ernte zerstört«. Da müßten »harte Sanktionen verhängt werden«, und Drückeberger sollten »sofort zum Ein-Euro-Job einbestellt werden«, verlangte der Nürnberger Arbeitsmarkt-Weise. So sind sie, die Arbeitslosen: verwöhnt durch die üppige Staatsknete setzen sie, sobald man sie an frischer Luft beschäftigen will, die ganze Wirtschaft in den Sand. Marja Winken
Rüttgers als SPD-ErsatzDen Unionsparteien geht es derzeit in der Gunst der WählerInnen nicht gut. Eine Ausnahme ist das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Hier hat die CDU demoskopischen Erfolg – auf Kosten der SPD, die in ihren Stammlandschaften an Rhein und Ruhr in die Bedeutungslosigkeit absackt. Nach der Landtagswahl 2005 konnte der jetzige Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) sich in die Brust werfen: »Der Vorsitzende der Arbeiterpartei in NRW bin ich.« Und neulich fand das Meinungsforschungsinstitut FORSA heraus, daß die Mehrheit des ehemaligen SPD-Anhangs sich unter sozialdemokratischer Politik gar nichts mehr vorstellen kann. Rüttgers gibt sich alle Mühe, die Rolle eines Anmahners sozialer Gerechtigkeit überzeugend zu spielen. Medienwirksam verkündet er, die CDU sei »keine kapitalistische Partei«. Auch legt er Sachverhalte offen, von denen die SPD-Prominenz nicht reden möchte: daß die Senkung von Unternehmenssteuern nicht zu mehr Arbeitsplätzen geführt hat und daß die Löhne in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich nicht zu hoch, eher zu niedrig liegen. Schon warnen Unionspolitiker in anderen Bundesländern und FDP-Granden vor einem »Linksruck« in der nordrhein-westfälischen CDU. Doch mit der Düsseldorfer Regierungspraxis hat das alles nichts zu tun, dafür sorgt schon die mitregierende FDP. Es geht ums politische Marketing, um Seelenmassage beim Arbeitnehmerklientel, das in diesem weitaus bevölkerungsreichsten Bundesland nach wie vor als politischer Faktor ernstzunehmen ist und von den Politikern verlangt, daß sie seine Sprache sprechen. Da sitzt der Frust über die Entwicklung der SPD tief. Clement, Müntefering, Steinbrück & Co. haben es geschafft: Als einstige sozialdemokratische »Bastion« ist NRW nur noch eine Ruine. A.K.
Lorenz Knorr zum 85.Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, & Co. – in solchen Zeiten fällt es schwer, sich an eine andere Sozialdemokratie zu erinnern, die eine »neue Gesellschaft« anstrebte, einen »neuen Menschen« gar. Es gab sie, immer als Opposition, aber als kräftige, zum Beispiel in der Tschechoslowakei. Dorther kommt Lorenz Knorr, 1921 in Eger/Cheb geboren, politisch aufgewachsen in der dortigen sozialistischen Jugendbewegung, frühzeitig im Konflikt mit den sudentendeutschen Nazis, dann hineingezwungen in die hitlerdeutsche Wehrmacht, wegen Wehrkraftzersetzung vor Gericht gestellt, nach 1945 über viele Jahre hin in der westdeutschen Sozialdemokratie aktiv – bis 1960, als Wehner von oben her die SPD auf NATO-Kurs brachte. Lorenz Knorr verstand die Sozialdemokratie als Kulturbewegung, und so war es konsequent, daß er zeitweise seine ganze Energie in die Entwicklung des sozialistischen Jugendverbandes »Die Falken« setzte. Nach seinem Ausscheiden aus der SPD war er Mitbegründer der Deutschen Friedens-Union, in den 1990er Jahren Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten, und unentwegt ist er bis heute als Publizist und Redner aktiv: gegen Faschismus und Kriegstreiberei, gegen die Militärherren und Rüstungskapitalisten, immer mit dem Blick auf eine menschheitsgeschichtliche Chance – die »Gesellschaft der Freien und Gleichen«. »Aufklärung, Frieden, Antifaschismus« ist eine soeben erschienene Sammlung mit Reden und Schriften von Lorenz Knorr betitelt (herausgegeben von Lorenz Gösta Beutin im PapyRossa Verlag Köln), und mit diesen Worten ist auch eine Veranstaltung anläßlich seines 85. Geburtstages angekündigt, zu der die DGB-Region Frankfurt, die VVN, der hessische Freidenkerverband und andere Gruppen einladen, Samstag, 2. September, 14 Uhr im DGB-Haus Frankfurt am Main, Wilhelm-Leuschner-Straße 69. Ossietzky grüßt den Antimilitaristen Lorenz Knorr. Red.
Gedächtnisschwund gewünschtAlles, was ich bisher über die Mitwirkung westdeutscher Politiker und wirtschaftlicher Machthaber an der Zweiteilung Deutschlands und am Anheizen des Kalten Krieges wußte, muß ich jetzt vergessen, wenn ich auf dem Weg zur Linkspartei nicht als Störenfried gelten will. Mit »scharfem Widerspruch« nämlich, so warnte der Fusionsbeauftragte der L/PDS, Bodo Ramelow, müsse bei seiner Partei derjenige rechnen, der die damals in Westdeutschland Herrschenden für »mitschuldig am Mauerbau« halte. Erinnerung an geschichtliche Wahrheiten scheint zum Ballast zu werden, den abzuwerfen sich empfiehlt, wenn man in der Berliner Republik »ankommen« will. Anders als Ramelow vermute ich aber, daß eine kommende Linkspartei dadurch an Glaubwürdigkeit nicht gewinnen, sondern verlieren wird. Nicht alle Menschen im vereinten Deutschland sind geschichtsblind, schon gar nicht diejenigen, auf die eine Linkspartei setzen kann. Arno Klönne
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Hat Tucholsky das verdient?Wenn eine Partei bei der letzten Wahl 22,6 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten hat und ihre Führer dann für die folgende, fünf Jahre später, als Erfolgsmarke »17 plus« vorgeben, signalisieren sie damit ihre Bereitschaft, jeden vierten ihrer seinerzeitigen Wähler abzuschreiben, ohne das als Verlust anzusehen. Das ist der Fall der Partei der demokratischen Sozialisten in Berlin, die 2006 als »Die Linke« im Kampf um die Stimmen antritt. Da stellen sich Fragen ein: Glauben ihre Lokalmatadoren, daß diese Zehntausende nicht mehr leben oder aus der Stadt verzogen sind und deswegen nicht an der Wahl teilnehmen? Dagegen sprechen Angaben der Statistiker, die sogar ein Anwachsen der Zahl der Stimmberechtigten ermittelt haben. Vermeinen die Kämpfer im Startloch, daß ihre Wähler von gestern sich inzwischen zu anderen Parteien bekennen? Das würde auf Unzufriedenheit mit der Politik hindeuten, die von dieser Partei mit zu verantworten ist. Womöglich auf mehr: Enttäuschung. »Die Linke« danach zu befragen, wäre müßig, denn das kann sie nicht gut zugeben. Also dürfte, sofern Fragen überhaupt noch gestellt und einer Beantwortung für wert gehalten werden, wohl zu hören und zu lesen sein, was andere Parteien in Fällen i hrer Mißerfolge – freilich erst nach deren Eintreten – schon vorgesagt haben: Wir hatten da ein kleines Vermittlungsproblem und müssen unsere Politik demnächst erfolgreicher »rüberbringen«. Das Sprachbild vom »wir hier« und »ihr da drüben« sagt alles. Es ist verräterisch, assoziiert es doch zudem: Hier diejeni-gen, die ihre frohe Botschaft aussenden, da die anderen, bei denen sie nicht an-gekommen ist, aus technischen oder Witterungsbedingungen oder wegen des Zusammentreffens beider. Wer sich für den Wahltag im Sep-tember ein solches reduziertes Ziel setzt, muß gleichwohl dafür sorgen, daß er es nicht verfehlt. Darum sucht er nach Helfern alias Rüberbringern. Am besten wären Zugpferde vom Typ Kaltblüter. Aber Klinsmann, Beckenbauer, Christiansen, Beckmann und die anderen auf vielen Feldern Eingeübten sind nicht zu kriegen oder zu teuer. Hingegen: Kurt Tucholsky kostet nichts. Seit seinem 70. Todestag kann sich jeder frei bei ihm bedienen. Diese Gelegenheit hat sich der Spitzenkandidat nicht entgehen lassen. Was er sich grabscht, kann man nicht einmal Schnäppchen-Artikel nennen, für die ja immer noch ein Restbetrag zu entrichten ist. Geklappert wird mit Worten, die Tucho unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel in der Weltbühne über Berlin und die Berliner drucken ließ. Er bescheinigte ihnen damals, daß in dieser Stadt »immerhin Bewegung ist und Kraft und pulsierendes rotes Blut«. Ist Harald Wolf, um nun den Namen des Spitzenmannes zu nennen und Ver-wechslung auszuschließen, politisch sui-zidgefährdet? Sitzt und denkt in seinem Vorzimmer niemand, der bereit wäre, ihn zurückzuhalten, indem er ihm etwa des Meisters Spottlied vom kleinen Kompromiß vorlesen würde oder – bes-ser noch – es ihm in der einfühlsamen Vertonung Hanns Eislers und dem un-übertroffenen Gesangsvortrag Ernst Buschs zu Gehör brächte? Wahrscheinlich wäre dieses Gedicht um einige Strophen vermehrt worden, hätte sein Verfasser diesen Wirtschaftssenator erlebt. Aber vielleicht hätte Tucho abgewinkt: Olle Kamellen. Das auf einem Werbeplakat bemühte Tucholsky-Zitat stammt übrigens aus dem Jahre 1927. Da stellten in der Ber-liner Stadtverordneten-Versammlung aufgrund des Stimmergebnisses von 1925 die Sozialdemokraten und die Kommunisten die Mehrheit der Abge-ordneten. Es hätte für gemeinsames Regieren gut gereicht. Doch lagen die Ansichten der beiden ungleichen Brüder, die sich – das läßt von Bruderschaft sprechen – jeweils noch zum Ziel Sozialismus bekannten, über Politik in Deutschland und Kommunalpolitik in dessen Hauptstadt damals zu weit aus-einander, als daß sie sich dazu gefunden hätten. Selten gingen sie bei Abstim-mungen zusammen. Denkwürdig, daß sie es doch mehrfach taten – in der Grundstückspolitik. Sie mehrten zwi-schen 1924 und 1929 das Grundeigen-tum Berlins durch den Ankauf der Güter Britz, Düppel, Biesdorf, Neu-Cladow und Marienfelde, was teils nur durch die Zurückstellung der sonst gepflegten Feindschaft gelang. Die Bürgerlichen wetterten gegen diese Käufe als »sozialistische Vorratspolitik«. In die Reihe der erwähnten Tucholsky-Lieder aus der Eisler-Busch-Produktion gehört auch eines, das anhebt »Damals«. Der Wahltag naht und dann wird sich erweisen, ob eine Beobachtung Tuchol-skys aus dem Text »Das Gesicht der Stadt« (1920) noch Geltung besitzt; der vom sozialen Wandel in der Stadtbevölkerung und dem Auseinanderdriften von Sehrreich und Sehrarm handelt, aber auch auf Gebliebenes kommt: »Und, soweit die Leute noch wirklich Berliner sind, die alte Eigenart ist noch da, sich nichts vormachen zu lassen, das Miß-trauen gegen Schwindel, die Abneigung gegen die großen Worte. ›Bei mir? – Ocke ‹ Und der andere kann abziehen.« Kurt Pätzold
An die LokalpresseEndlich dürfen diejenigen nationalgesinnten Jungdeutschen, die aufgrund der begrenzten Einberufungsquoten keine Chance haben, die Bundeswehr zu verstärken, wenigstens Soldat spielen Das NVA-Museum in Harnekop bei Strausberg bietet für lachhafte 150 Euro pro Person Erlebniswochenenden mit Schlammrobben, Sturmbahnlauf und Drill an der Eskaladierwand an. Wenn das nicht ausreicht, dann kann man mit dem Fallschirm durch die Lüfte gleiten wie der märkische Adler oder per Panzer die brandenburgische Heimat aufwühlen. Den freiwilligen Macho-Rekruten werden Uniformen, Stahlhelme und Waffen-Attrappen (warum eigentlich nur Attrappen?) verpaßt, und dann werden sie zwei Tage lang geschunden und herumkommandiert, bis ihnen, wie es schon bei Preußens so schön hieß, das Wasser im Arsch kocht. Selbstverständlich wird auf Doppelstockbetten aus Metall und mit kratzigen Decken geschlafen, aber dazu kommt es kaum. Denn nachts heulen die Alarmsirenen, und dann geht es marschmarscheinlied ins unbekannte Gelände. Jeder muß dann selbst sehen, ob und wie er zurückfindet. »Wir zwingen niemanden, wir machen nur, was gewünscht wird«, versichern die Ausbilder. Die große Resonanz gibt ihnen recht, denn der als »Einberufungsbefehl« getarnte Gutschein wird immer öfter als Geburtstagsgeschenk vergeben. Dazu meinen herzlichen Glückwunsch! – Friedrich Wilhelm Preuß (44), Oltn. d. R., 18196 Dummersdorf * Im Preußenspiegel , der sich als kritische Zeitung für Nauen, Falkensee und Umgebung versteht, habe ich im Mai zwei sehr interessante Beiträge über preußische Tugenden gefunden. Zum einen wurde für eine Wildwest-Show in Elstal geworben. »Ob Messerwerfen, Schießerei oder Banküberfall«, hieß es in der Pressenotiz, »dem Besucher wird eine enorm große Palette vorzüglichster Unterhaltung geboten, wobei natürlich auch genug Komik zum Einsatz kommt«. Es gehörte schon immer zu den preußischen Tugenden, auch in gefährlichen Situationen die Ruhe und den Humor zu bewahren. Ein anderer Bericht informierte auf derselben Seite über die Initiative »Weg der Vernunft« und die erstmalige Verga-be des »Landespräventionspreises der Sicherheitsoffensive Brandenburg«. Auf einem gut gelungenen Farbfoto war zu sehen, wie General a.D. Schönbohm, unser brandenburgischer Innenminister, den mit 5.000 Euro dotierten Preis der Initiative »Weg der Vernunft« über-reichte und den Gewaltgegnern kräftig die Hände schüttelte. Ich finde es sehr gut, daß beide Mel-dungen unmittelbar nebeneinander standen, wurde doch dadurch eine weitere preußische Tugend überzeugend nachgewiesen, nämlich die Toleranz. – Hannshellmuth Hagedorn (62), Buch-halter, 16356 Krummensee Wolfgang Helfritsch
Die durch die Hölle gingenDas Buch erscheint für die Kirchen zur Unzeit. Gerade hat Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen sie als Garanten der abendländischen Wertegemeinschaft vorgestellt und die Bedeutung »evangelischer Jugendarbeit« für die »Wertevermittlung« hervorgehoben, da schreckt schon der Titel des von Peter Wensierski, einem Redakteur des Spiegel , herausgebrachten Buches die Kirchen auf: »Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik«. Auf Grund von Berichten zahlreicher Betroffener, die von unabhängigen Zeugen bestätigt wurden, stellt der Verfasser dar, wie die »Jugendarbeit« in den über 3.000 – zu 80 Prozent von den Kirchen geführten – Erziehungsheimen bis in die späten 1970er Jahre gestaltet wurde: durch Schläge, Zwangsarbeit, Folter und Gebet. Mehr als eine halbe Million Kinder und Jugendliche mußten die Torturen christlicher JugenderzieherInnen (Pfarrer und Diakone, Patres und Nonnen) ertragen, die dabei viel von Gottesliebe redeten, aber häufig die Menschenwürde mit Füßen traten. Von den Erziehungsmethoden, denen sie hilflos ausgeliefert waren, haben sich den Opfern besonders diese ins Gedächtnis eingebrannt: Bespritztwerden mit kaltem Wasser, Scheinhinrichtungen, Strammstehen zum Abendgebet, Wegsperren in eine »Klabause« oder ein »Besinnungsstübchen« (was Isolationsfolter war) und immer wieder Schläge. Und der Essenszwang. Ein Beispiel: »Für uns wurde minderwertiges Essen zubereitet. Wir wußten, daß sich die Nonnen in der Küche heimlich das magere Fleisch nahmen, wir bekamen die Fettklumpen. Im Eintopf schwammen immer diese Speckschwarten, an denen noch die Borsten hafteten. Wir alle ekelten uns schon beim Anblick davor, aber es gab kein Pardon, es mußte aufgegessen werden... Oft saß ich mit Würgen davor, Tränen und Schnodder liefen in den Teller, dann setzte es Ohrfeigen, die Nonnen rissen mir den Löffel aus der Hand und schlugen damit auch zu...« Das Erbrochene mußte unter allen Umständen aufgegessen werden. Die Verantwortlichen in den Kirchen wußten schon in den 1950er Jahren von diesem verbrecherischen Treiben in ihren Heimen. Aber weil das »außerhalb von Fachkreisen kaum jemanden interessiert hat«, so entschuldigt der (inzwischen geschaßte) Chef des Diakonischen Werkes, Jürgen Gohde, die evangelische Kirche, ließ man es einfach weiterlaufen. In den Kirchengemeinden wurde mindestens einmal im Jahre für diese »Arbeit« eine Pflichtkollekte erhoben. Vertreter der Heime boten sich für Vorträge an, in denen sie den Kirchengemeinden das Märchen von ihren segensreichen Tätigkeiten erzählten. Was nie zur Sprache kommt und auch in diesem höchst empfehlenswerten Buche unerwähnt bleibt: Eine erbarmungslose Erziehung, Ausfluß einer patriarchalischen Weltsicht, war schon jahr-hundertelang Wesensmerkmal christlicher Lehre und Praxis ebenso wie die Diffamierung der Frauen, die Unterdrük-kung der Triebe und die Rechtfertigung von Kriegen (noch in unseren Tagen). Johann Hinrich Wichern (1808–1881), der Gründer des »Rauhen Hauses« in Hamburg, gilt bis heute als Vater (und Vorbild) der evangelischen Liebestätigkeit. Sein Erziehungscredo war: Strafe gehört »so wesentlich in die christliche Erziehung hinein, als der Unterschied von gut und böse vorhanden ist und Strafe und Lohn wesentliche Handlungen und Offenbarungen der göttlichen Gerechtigkeit sind«. Wichern empfahl schon für Acht- und Neunjährige »härteste körperliche Strafen« wie »Freiheits-entzug, körperliche Züchtigungen, Essensentzug, das Verbot zu spielen, Zurechtweisungen, An-der-Tür-stehen-müssen und andere Beschämungen«. Erst die Ende der 1960er Jahre von An-dreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin ausgelöste »Heimkampagne«, zunächst im hessischen Heim Staffelberg, dann im hannoverschen Birkenhof, beendete allmählich die Gräuel christlicher Jugendarbeit. Zurück blieben die Opfer, die nun ihr Schweigen brechen und von der Hölle erzählen, in die sie kirchliche Jugendarbeit geschickt hatte. In Irland hat die katholische Kirche, deren Heimterror durch den Film »Die unbarmherzigen Schwestern« 2003 auch bei uns bekannt gemacht wurde, inzwischen 128 Millionen Euro für ihre Opfer bereitstellen müssen – auf Grund öffentlichen Drucks. Ob es nun auch bei uns zu einer solchen Entschädigung kommt, entscheidet sich daran, ob auch hier eine kritische Öffentlichkeit sie immer wieder anmahnt. Von selbst werden die Kirchen kaum irgendwelche Zahlungen leisten. Hartwig Hohnsbein Peter Wensierski: »Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik«, Deutsche Verlags-Anstalt, 207 Seiten, 19.90
Georg WeerthAm 30. Juli jährt sich zum 150. Mal der Todestag eines deutschen Dichters, den die deutsche Literaturgeschichte lange ignorierte, obwohl er in seinen Gedichten, Romanen und Aufsätzen zu den witzigsten und lyrisch anrührendsten Poeten des 19. Jahrhunderts zählt. Einer, der seine Werke anerkannte und rühmte, war hingegen Heinrich Heine, der ihn, als er das Ende seines Lebens nahen fühlte, um einen Besuch an seiner Matratzengruft bat. Der Sohn des Detmolder Generalsuperintendenten Wilhelm Weerth, Georg, hatte einen großen Fehler begangen: Er hatte sich schon als junger Mann auf die Seite der armen Leute geschlagen. Und er war nicht nur mit Heine, sondern auch mit Marx befreundet und vor allem mit Engels, mit dem er in England die Auswirkungen des Manchester-Kapitalismus hautnah erlebte. Engels nannte ihn den »ersten und bedeutendsten Dichter des deutschen Proletariats«. In einem – leider nie vollendeten – Roman hatte Weerth zum ersten Male in der deutschen Literaturgeschichte einen Arbeiter zur zentralen Figur gemacht und – schlimmer noch für jene Zeiten – die gesellschaftlichen Umstände und Herrschaftsstrukturen als veränderlich dargestellt. In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er sich als Genossen der Arbeiter. Während der bürgerlichen Revolution von 1948 redigierte er das Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung. Ein Gedicht soll hier stellvertretend für seine politischen Werke stehen: »Verehrter Herr König, / Weißt du die schlimme Geschicht? / Am Montag aßen wir wenig, / Und am Dienstag aßen wir nicht. / Und am Mittwoch mußten wir darben, / Und am Donnerstag litten wir Not, / Und ach, am Freitag starben / Wir fast den Hungertod. / Drum laß am Samstag backen / Das Brot, fein säuberlich. / Sonst werden wir sonntags packen / Und fressen, o König, Dich!« Das »Hungerlied« wurde zu seinen Lebzeiten niemals veröffentlicht. Die damaligen Literaturrichter in Verlagen, Universitäten und Schulbürokratie mußten zwar Heine und Freiligrath, die längst weltberühmt waren, auch dann zu Wort kommen lassen, wenn diese auf Ausbeutung und auf Verlogenheit der Herrschenden hinwiesen, aber den jungen Weerth konnten sie totschweigen. Nach der gescheiterten Revolution von 1849 wurde er wegen seiner Tätigkeit bei der Neuen Rheinischen Zeitung vor Gericht gestellt und verurteilt; drei Monate mußte er im Kölner Klingelpütz absitzen. Daraufhin emigrierte er nach Frankreich, dann nach England und schließlich nach Westindien, wo der gelernte Kaufmann eine Handelsagentur übernahm. 34jährig starb er in Kuba –noch vor Heine. Es dauerte 100 Jahre, bis man ihn wiederentdeckte. Und zwar in der DDR, die sein Gesamtwerk in fünf Bänden herausgab. In der bundesdeutschen Literaturgeschichte und fast allen Lexika bis heute ist er weiterhin nur eine Randnotiz – im besten Fall. In seinem Geburtsort Detmold steht ein Weerth-Denkmal. Das des Generalsuperintendenten Wilhelm Weerth. Werner René Schwab
Walter Kaufmanns Lektüre»Über Millionen Tote kann man nichts sagen. Aber über drei oder vier könnte man eine Geschichte erzählen!« Fred Wander hat es bewiesen. Er hat nicht wenige seiner Schicksalsgenossen, die unterm nazideutschen Stiefel zugrunde gingen, zum literarischen Weiterleben erweckt. Durch ihn haben sie in all ihrer Menschlichkeit und Würde die Wiedergeburt erfahren. Man sieht sie, hört sie, ist ihnen nah. Vornehmlich darin liegt der Wert dieser Erinnerungen. Aber auch die Lebenden, die er vorstellt, werden einem sofort vertraut – wie Jean-Marie Teisseire, der tiefsinnige Einzelgänger, mit dem sich Fred und Maxie Wander anfreundeten. Er scheut keine Mühe, ihnen sein Paris zu erschließen, Orte, die ihm von Bedeutung sind. Und wenn ihm die beiden – wie etliche Male geschehen – in der Provence wiederbegegnen, kann er in seiner Freude »tobsüchtig werden«. Eilends tischt er ihnen wunderbares Essen mit Wein von den eigenen Feldern auf. Er wird erlebbar wie so viele, an die Fred Wander erinnert, erlebbar wie jener Mecklenburger namens Volker Bartsch, ein Mann von etwa fünfzig, »groß, blond, blaue Augen, ein nordischer Typ«, der vom Sitz seines Bulldozers die Landschaft wie ein Feldherr überblickt und sich erst nach reiflicher Überlegung an die Arbeit macht. Später (da hat er für Fred Wander einen alten Schweinestall zertrümmert und in einen Graben versenkt) wird er bei einer angebotenen Entlohnung von 100 Ostmark rot und sagt zornig: »Mit mir nicht!« Wander muß sich fragen, ob sein Angebot zu niedrig war. Dann aber sagt der Mann, ehe er »stolz und aufrecht« auf seiner riesigen Maschine davonrattert: »Geben Sie mir zwanzig.« Ein Ostdeutscher wird hier lebendig, durch den ein Stück DDR erkennbar wird, Wander äußert vielfach Kritik an den Verhältnissen in der DDR (wo es ihn und Maxie fünfundzwanzig Jahre lang freiwillig gehalten hat). Er hätte sie weniger polemisch anlegen sollen. Mußte er sich wirklich in diesen schrillen Nach-der-Wende-Chor einreihen? Er ist ein begnadeter Erzähler, und was ihm an der DDR nicht paßte, hat er wirkungsvoll in die Schilderung von Begegnungen mit ihm mißfallenden DDR-Bürgern, Gegenspielern zu Volker Bartsch, einbetten können – solcher Art Leute sind ihm zweifellos zur Genüge begegnet. Pure Polemik – weit eher die Sache Ralph Giordanos oder Erich Loests – wirkt bei Fred Wander gewollt, nicht stimmig. Spätestens aber, als ich gegen Ende des Buches von der Notwendigkeit eines neuen Weltbewußtseins las, der Notwendigkeit einer neuen Ethik im Gebrauch materieller Schätze, einer neuen Einstellung zur Natur, »die auf Harmonie und nicht auf Unterwerfung, auf wahnsinnigen Konsum der natürlichen Energiequellen beruht«, wurde ich mir der Wandlungen bewußt, die er bis hin zur Altersweisheit vollzogen hatte, und fand mich in totalem Einklang mit ihm. Es ehrt ihn, daß er gegen Ende des Buches auch dies schreibt: »Ich habe fünfundzwanzig Jahre in einem Berliner Vorort gelebt (gemeint ist Kleinmachnow; W. K. ) und dort Freunde gefunden wie nie zuvor in meinem Leben – das muß hier einmal gesagt werden ... und ich blicke mit Dankbarkeit auf diese Zeit zurück ...« Ich wünschte, Fred Wander lebte noch, daß ich ihm sagen könnte, was mir diese Zeilen bedeutet haben und daß ich seine Stimme zu hören glaubte, ihn vor mir sah bei den Worten, die am Schluß stehen: »Das Denken an den Tod stimmt mich heiter. Und das Wissen um den Hunger meiner Jugend und den Hunger in der Welt gibt dem Brot, das ich esse, einen kräftigen Geschmack. Ich bin unterwegs, mein Gepäck ist leicht.« W. K. Fred Wander: »Das gute Leben oder von der Fröhlichkeit im Schrecken. Erinnerungen«, Wallstein Verlag, 399 Seiten, 24
Zeitgeschichte in TheaterkritikenHeinz Kersten, Rundfunkjournalist, Beobachter von Film und Theater, hat seine kritischen Blicke auf Ostberliner Bühnen von 1973–1990 noch einmal öffentlich gemacht: in Buchform. Im Vorwort nennt er die Texte unmodern. Heute schreibe man anders. Aber sie sind noch immer lesenswert. Eindringlich reflektieren sie, was dem Kritiker damals widerfuhr: »Theater und Film haben meinen Blick auf die Welt verändert – gerade in der Begegnung mit der Kulturszene der DDR.« Seine Weltsicht damals war uns im Osten, die wir seine Frühkritiken im RiaS oder Deutschlandfunk hörten, wichtig. Die Reaktion »von der anderen Seite des Planeten« gab manchem Film- und Theaterschaffenden eine Antwort auf die Frage, ob seine Arbeiten – entstanden im Ausgegrenztsein, eingeschränkt durch Auflagen des Kulturministeriums, des Politbüros – über die Landesgrenzen hinaus wirken könnten. Der Künstler braucht ja Bestätigung. Kersten bescheinigte dem Theater in der DDR hohe künstlerische Qualität: »Regietheater, das sich nicht in Originalitätssucht erschöpft, Historisches für die Gegenwart neu« vermittelt. Das Buch enthält viele Beispiele für diesen Umgang mit Geschichte, für vielschichtige Deutung von Bühnenliteratur. Mit profunder Kenntnis schilderte Kersten die Szene »Theater im Osten«. Er meinte, das Unbehagen der Theaterschaffenden in der DDR formulierte sich als »Warten auf den Sozialismus«. Ich denke: Es waren Versuche kritischer Mitgestaltung des Sozialismus. »Mehr als Theater« signalisiert der Titel der gewichtigen Sammlung. Kersten förderte dieses »Mehr« aus dem gesellschaftlichen Kontext, den die Aufführungen der Ostberliner Bühnen dem boten, der ihn zu lesen verstand. Aufmerksam, kundig analysierte der Kritiker, wie und wozu Theater im Lande Ehemals genutzt wurde (Information, Analyse, Schärfung gesellschaftlichen Bewußtseins). Kerstens politische Draufsicht verleitete ihn manchmal, Darstellungskunst, Bühnenbild, Kostüm, Musik eher marginal zu vermerken. Aber seine Engagiertheit war und ist für seine damaligen Hörer und seine heutigen Leser immer ein Gewinn. Sein Buch kann auch künftig als Kompendium eines bedeutenden Teiles der Theatergeschichte der DDR dienen. Unmoderne Texte? Im Gegenteil. Anne Dessau Heinz Kersten: »Mehr als Theater. Kritikerblicke auf Ostberliner Bühnen 1973–1990«, hg. von Christel Drawer, VISTAS media production, Berlin. 471 Seiten, 24
Almos Csongár aus UngvárIn einer alten ungarischen Sage wird von einem Almos erzählt, dessen Mutter geträumt habe, sie werde einen Sohn gebären, der die Magyaren in eine neue, endgültige Heimat führen werde. Almos, das ist also ein »Traumgeborener«. Von einem solchen Almos träumte im Jahre 1920 im östlichen Zipfel der einstigen k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn auch eine junge Frau, und zwar in Ungvár, einem kleinen Städtchen, das nach dem Zerfall des Vielvölkerstaates gerade der neu gegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen worden war. Auf ihn habe in der Kindheit allerdings die ursprüngliche Bedeutung des Wortes zugetroffen, gesteht der Almos, von dem hier die Rede ist: »Ich war eher ein ›Schläfriger‹, wie man nicht ohne Grund lästerte.« In Almos Csongárs Erinnerungen an ein langes, immerhin schon 86 Jahre währendes Leben kann von Schläfrigkeit jedoch keine Rede sein. Der Mann redet beherzt und heiter, kritisch und re-spektlos, in sich selbst verliebt und seine Seele nicht schonend wiederum »Mit tausend Zungen« – so der Titel seines ersten autobiografischen Buches aus dem Jahre 1984 – über »Fluch und Segen eines Jahrhunderts«. Almos Csongár, um ihn in aller Kürze vorzustellen, kam 23jährig als Forschungsstipendiat der damaligen Humboldt-Stiftung nach Berlin und ist dieser Stadt treu geblieben – wie auch der Literatur und der Philosophie, die ihn seit seiner Studentenzeit im ungarischen Debrecen beschäftigen. Mit Literaturkritiken, literarischen Essays, Übersetzungen und philosophischen Abhandlungen – darunter Streitbares über seinen Favoriten Freud – hat er sich nicht nur in seinen beiden »Heimatländern« Ungarn und der DDR einen Namen gemacht. Mehr als dreißig ungarische Romane hat er ins Deutsche übertragen, mit sachkundigen Nachworten versehen und auf diese Weise hiesigen Lesern magyarischen Geist und ungarische Würze serviert. Nun schreibt er über seine Odyssee von Ungvár nach Berlin, wo den »Träumer« damals nicht etwa die Trümmer festhielten, sondern eine hübsche Blondine mit großartigen Eltern aus dem einst »roten Wedding«. Das oberungarische Städtchen Ungvár, aus dem Csongár kommt – das schließlich einige Jahre zu Ungarn gehörte, dann als Ushgorod zur Sowjetunion und nun zur Ukraine –, lag seinerzeit in einem der ärmsten Winkel Europas. Da lebten Magyaren, Slowaken, Juden, Rumänen, Polen, Zigeuner, Deutsche und Ruthenen, später Karpato-Ukrainer genannt. Nationale, politische, religiöse Zwiste waren an der Tagesordnung und die Csongárs immer mitten drin. Wie der Mann über diese Zeit und das Elternhaus berichtet, über Vater, Mutter und die vier Geschwister, über Großeltern, Tanten, Onkel, Gevattern, über sonstige Verwandte, Bekannte und aller Alltag, das hat, wenn auch unter völlig anderen Bedingungen, etwas von der Atmosphäre in Joseph Roths »Radetzkymarsch«. Allein für diese Kapitel lohnt es, dieses Buch aufzuschlagen. Nicht minder interessant und abenteuerlich aber sind die Jahrzehnte dieses notorischen Einzelgängers in DDR und BRD als Freiberufler. Csongár kehrt das Innerste nach Außen, schildert seine literarischen und philosophischen Auseinandersetzungen mit sich und der Welt, die Debatten mit Prominenten, in die er sich eingelassen und die er gesucht hat. Das ist ein Erinnerungsbuch voller Stimmung, Detailtreue und gründlicher Analyse. Köszönöm szépen – Danke schön! Klaus Haupt Almos Csongár: »Wie die Jungfrau zum Stier wurde«, Roman, Oberbaum Verlag, 446 Seiten, 29
Ein Straßenbahner auf WeltreiseDas ist ein ungewohnter Roman. Ohne allen Beschleunigungsdruck erzählt er eine lang daherkommende Geschichte. Ferne ist seine Sache. Die ferne Kindheit am Kriegsende, die Ferne der Frauen, unser fernes Leben in der DDR, die Ferne der USA, wohin es den Protagonisten verschlägt, die Entferntheit dessen, wohin zu kommen sich lohnen könnte oder sollte oder müßte. Es ist eine Lebensreise, kein ungewöhnlicher Stoff für einen Roman, sie ist auch heute noch verbreitet, jene alte Konstellation, die der alte Hegel eine der für den Roman »passendsten Kollisionen« nannte, der »Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse«, aber insofern ungewöhnlich als Romanstoff, als hier ein in seine Geschichte leiblich Verwickelter erzählt. Kein ferner Klang das Geschehen. Mit Laabs – der vor 89 schon ein Autor von Graden war (drei Romane tragen seinen Namen, und auch als Lyriker ist er hervorgetreten) – durchbricht eine Erzählergeneration ihr Schweigen und nimmt sich der Geschichten von Herkunft und Erfahrungsbildung in Ostdeutschland an, die sie in den letzten Jahren für immer den Kindern und Enkeln überlassen zu haben schien. Sein Buch läßt sich nicht als Kurzfassung anbieten. Die scheinbar übersichtliche Geschichte des uns seinen Namen nicht nennenden Ich-Erzählers ist unbeschadet all ihrer Wirklichkeitsbessenheit und all ihres Detailauserzählens eine Parabel. Ein Knabe erlebt das Kriegsende, glaubt, wie er heranwachse, wachse auch eine neue Gesellschaft heran, studiert Verkehrswesen, hat mit dem Straßenbahnwesen in der DDR zu tun, hat mit der DDR zu tun, sehnt sich nach Liebe, hat eine Frau, probiert es mit anderen Frauen, ist voller Sinnsehnsucht, vor allem Sehnsucht, die Welt auch geographisch kennenzulernen. Die DDR setzt diesem Wunsch die bekannten anachronistischen Schranken. In ihrer letzten Minute macht unser Protagonist eine späte Reise, die weiteste seines Lebens, man hat ihn als Verkehrstechniker zu Vorträgen in die USA eingeladen. Die Ferne gibt keine Antwort. Der letzte Romansatz ist eine Frage, ein Satz aus einem Lied: »Was treibt dich raus? Paladin, Paladin, weit von zu Haus!« Die Geschichte des weltbesessenen Straßenbahners ist scheinbar übersichtlich. Gleichwohl ist zu raten, ihrer Geradlinigkeit nicht zu trauen. Die Obermelodie hat ihre eigenen Grundtöne. Der Verkehrsingenieur, der das Straßenbahnwesen in der DDR zu begutachten hat, findet sich auf seiner Rundreise stets in Orten mit geographisch nachvollziehbaren Namen ein, doch einmal muß man für die Orientierung die Literatur zur Hilfe nehmen. Kaisersaschern heißt die Station des Ingenieurs, sie findet sich im »Faustus« von Thomas Mann und ist wie dort ein Synonym für Naumburg und Auftrittsort eines altdeutschen Straßenbahnverteidigers, den Thomas Mann gekannt haben könnte. Auch seine eigenen frühen Romanfiguren zitiert Laabs. »Hezi«, der Kommilitone des Erzählers aus dem ersten Roman von Laabs, »Das Grashaus oder die Aufteilung von 35.000 Frauen auf zwei Mann« (1971), ist auch hier wieder Erzählerkommilitone, wenn auch das Gespann in eine ganz andere Zukunft startet, als sie die beiden jungen Leute von damals vor sich sahen. Und dann gibt es immer wieder Kapitel, die Atemnot auslösen. Beide Hemisphären sind daran beteiligt. Die Schilderung einer Zollkontrolle bei Bad Schandau, wo es um die Einführung eines simplen Autoersatzteils geht, ist ein Akt, Kontrollierte und Kontrolleure gleichermaßen zerstörend, und das Liebesdrama, in das der Erzähler in den USA hineingezogen wird, besitzt die Verlorenheit von Liebesgeschichten der Patricia Highsmith. Laabs hat den Bonus seiner Erfahrung in einem außerordentlichen Roman eingelöst. Werner Liersch Joochen Laabs: »Späte Reise«, Roman, Steidl Verlag, 604 Seiten, 22
Press-KohlDem Spiegel sagte Carl Halff, Chef des katholischen Weltbild-Verlags, in den regelmäßigen Debatten mit dem Aufsichtsrat werde über den Gesamtkurs gestritten. »Das sind nicht immer Harmonieveranstaltungen, aber als Medienmensch könnte ich gar nicht ohne diese Diskussionen.« Punkt. Was könnte Halff gar nicht ohne diese Diskussionen? Seine preiswerten »Volksbibeln« verkaufen? Atmen? Harfe spielen? Oder könnte er sich nicht mehr am Weltbild-»Tischbrunnen Lichtzauber«, 14,95 Euro, der beim Sprudeln seine Farben wechselt, die Halbmonde der Fingernägel polieren? * Der »Tourismusbeauftragte der Bundesregierung (was es alles so gibt!), Herr Hinsken, hat sich (der Chemnitzer Freien Presse zufolge) »dafür ausgesprochen, Hartz-IV-Empfänger für die Reinigung der 1.520 unbewirtschafteten Rastanlagen einzusetzen«. Wovon sollten die Arbeitslosen die unbewirtschafteten 1.520 Autobahn-Rastanlagen reinigen? Zunächst mal vielleicht von jenen historischen Schnapsideen, die Herr Hinsken dem historischen Reichsarbeitsdienst (RAD) des Autobahn-Projektanten A. H. abgeguckt hat. Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 16/2006 |
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