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Im Koalitionsvertrag heißt es, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe solle »ein Konzept für eine Reform der Unfallversicherung entwickeln«. Als Zweck wird, ähnlich wie vor den anderen »Reformen« angegeben, »das System auf Dauer zukunftssicher zu machen«. Darum müsse man ein »zielgenaueres Leistungsrecht« entwickeln – was nur bedeuten kann: Leistungskürzungen, dadurch geringere Kosten für die Unternehmen und höheres Risiko für die Beschäftigten. Eine inzwischen eingesetzte Expertengruppe hat schon erste Pläne vorgelegt: Wenn ein Unfallopfer später Einkünfte beziehen kann, fällt die Unfallrente weg oder wird reduziert. Ist die Erwerbsfähigkeit durch den Unfall um weniger als 30 Prozent (bisher 20 Prozent) gemindert; besteht kein Anspruch auf Unfallrente. Generell sollen kleine Unfallrenten nach einem »Gesundheitsschaden« in einmalige Abfindungen umgewandelt werden; die Gesamtkosten würden dadurch verringert. Mit diesen noch als relativ klein eingeschätzten »Reform«-Schritten wird aber die Große Koalition bei ihren Auftraggebern nicht durchkommen. In den Wochen, als das Wahlvolk mit dem Weltfußballzirkus im kollektiven Rausch gehalten wurde, redete Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt Tacheles: »Ohne durchgreifende Reform ist die Finanzierbarkeit und Leistungsfähigkeit der Berufsgenossenschaften nicht dauerhaft gesichert.« Heute gebe es eine »Überversorgung«. Laut Financial Times Deutschland verlangte er den Wegfall der Unfallrenten bei Einsetzen der Gesetzlichen Altersrente. Außerdem forderte er, bestimmte Unfälle ganz aus der Gesetzlichen Unfallversicherung herauszunehmen, zum Beispiel die Unfälle auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Solche Wegeunfälle seien schließlich keine »betriebsspezifischen Risiken«, die der Arbeitgeber zu verantworten habe, sondern Teil des »allgemeinen Lebensrisikos«. Hundt und seine Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) stellen hiermit ein seit über 120 Jahren ausgebautes und bewährtes System der Absicherung bei Arbeitsunfällen radikal in Frage. 1884 war die Gesetzliche Unfallversicherung als staatliche Pflichtversicherung für alle Betriebe gegründet worden, um die individuelle, privatrechtliche Haftung des Unternehmers gegenüber seinen Beschäftigten abzulösen. Seitdem haben die Berufsgenossenschaften für Verdienstausfall, Krankenbehandlungskosten, Entschädigungen und gegebenenfalls Renten aufzukommen; ihre Leistungspflicht besteht unabhängig davon, wer den Unfall verursacht hat. Schadenersatz wird also auch dann gewährt, wenn ein Verschulden des Arbeitgebers nicht nachweisbar oder Fahrlässigkeit des Beschäftigten anzunehmen ist. Diese bisherige Praxis mag großzügig erscheinen, lag aber bisher offenbar auch im Interesse der Unternehmer, die sich dadurch langwierige, teure Prozesse ersparten. Jetzt aber wollen Hundt und seine BDA zu den Laisser-faire-Regeln des Frühkapitalismus zurückkehren – ohne staatliche Reglementierungen. Damals konnte jeder Unternehmer nach seinem Gusto Arbeitsverträge mit einzelnen Arbeitern abschließen, er übernahm also möglichst wenig Haftung. Heute scheinen die Unternehmer die Justiz noch weniger zu fürchten als im 19. Jahrhundert – gewiefte Rechtsanwaltskanzleien werden schon dafür Sorge tragen, daß mögliche Unfallschäden nicht auf »betriebsspezifische Risiken« zurückgeführt, sondern dem »allgemeinen Lebensrisiko« zugerechnet werden. Dagegen kann sich dann ja jeder selbst privat versichern, sofern er das nötig zu haben meint. Schließlich leben wir in einem freien Land … Die Gesetzliche Unfallversicherung ist noch 1996 in modifizierter Form in das Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik übernommen worden. Danach hat sie bisher auch den Auftrag, in den Betrieben Unfälle und Berufskrankheiten zu verhüten, den Ursachen aller arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren nachzugehen und bei solchen Forschungstätigkeiten eng mit den Krankenkassen zusammenzuarbeiten. Die jetzt zwecks Kostensenkung vorgeschlagenen Änderungen der Verwaltungsstruktur gefährden auch diesen Präventionsauftrag. Kanzlerin Merkel verhieß in ihrer Regierungserklärung mehr »Bürokratieabbau« und versprach, »mehr Freiheit« zu »wagen«. Wie wir hier lernen, meinte sie den Abbau gesellschaftlich geregelter Solidarität zugunsten von Markt und Kapital. Aufgebracht werden die Beiträge zur Gesetzlichen Unfallrente bisher konsequenterweise nur von den Arbeitgebern, die dafür durchschnittlich ein Prozent der Bruttolohnsumme zahlen. Diese Kosten von insgesamt rund zehn Milliarden Euro im Jahr möchten sie am liebsten ganz loswerden, zumindest halbieren. Hundt drängt deswegen auf zügige Umsetzung seiner Forderungen, damit die Konzerne noch höhere Gewinne machen, mit denen sie noch mehr ausländische Firmen aufkaufen können. Auf dem Binnenmarkt aber hat die Senkung der Bruttolohnsumme um mehrere Milliarden Euro zwangsläufig zur Folge, daß die Konsumnachfrage weiter zurückgeht und entsprechend auch die Beschäftigung – wie schon nach den früheren »Reformen«.
Erschienen in Ossietzky 16/2006 |
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