Nicht ohne Palästina

Bernd C. Hesslein

Über Unrecht haben wir Deutsche erst nach dem 8. Mai 1945 gesprochen. Es war stets das erlittene Unrecht. Etwa die barbarische Bombardierung Dresdens und die vermeintliche Siegerjustiz oder das angebliche Vertreibungsunrecht. Nie das zugefügte. So geht wohl jede Nation mit ihren Schandtaten um. Nun auch Israel, wenn es ausschließlich die Hisbollah für den derzeitigen Amoklauf seiner Armee verantwortlich macht.

Leider mit Erfolg, wie die salvierende Floskel vom Recht auf Verteidigung zeigt, die auch von der Bundeskanzlerin gern gebraucht wird, aber aus dem Sprachschatz von Orwells »1984« stammt, in dem das Kriegsministerium zum Friedensministerium verdreht wird. Auch Der Spiegel unterlag der Räson solcher Sprachregelung mit dem ästhetischen Titelbild in der Ausgabe vom 24. Juli: eine von Splittern übersäte Hauswand, ein beschädigter Fensterrahmen und darin ein einsames, nachdenkliches Frauengesicht, dazu die suggestive Frage: »Kann Israel so überleben?«

Es ist eine falsche oder doch unvollständige Frage. Zum Überleben Israels gehört ohne Einschränkungen und Behinderungen auch die Existenz eines Staates Palästina. Das ist der Sinn der 1948 vollzogenen Teilung des britischen Mandatsgebietes durch die noch sehr jungen Vereinten Nationen. Auf dieser Grundlage sollten ein israelischer und ein palästinensischer Staat entstehen. Für die jüdischen Siedler erfüllte sich damit ein auch mit terroristischen Mitteln erzwungener Traum, den Arthur Koestler in seinem anrührenden Buch »Promise und Fulfilment« eindringlich beschreibt. Für die palästinensische Bevölkerung, die über Nacht die Hälfte ihres Siedlungsgebiets verlor, war es ein Schock und ein Opfergang. Und beide wurden in dem sich anbahnenden Konflikt zwischen USA und Sowjetunion von der gerade erst sich bildenden Weltgemeinschaft allein gelassen. Alle scheinbar unlösbaren Konflikte beruhen auf vernachlässigten Ursachen.

Hier ist der Dreh- und Angelpunkt aller Kriege zu finden, die Israel aufgezwungen wurden. Die triumphalen militärischen Siege verführten jedoch dazu, ein nicht gerechtfertigtes, seit fast vier Jahrzehnten dauerndes drakonisches Besatzungsregime über Palästina und seine Menschen auszuüben. Entstanden ist ein hochexplosives Gemisch von Rache, Vergeltung und Gegenwehr. Müßig zu fragen, wer angefangen hat.

Jede Seite hat in dieser blutigen Auseinandersetzung ein bißchen Recht. Einen Krieg oder auch nur eine nicht enden wollende Militärorgie hat das nie gerechtfertigt. Der scheinbar unlösbare Konflikt wäre doch noch zu lösen, wenn die so tief zerstrittenen Parteien gezogen und geschoben zurück zum Ausgangspunkt gingen. Sie müßten sich nur gegenseitig die von der UNO für zwei geschundene Völker geschaffenen Heimstätten gewähren. Ein wahres Geschenk in einer Welt von heimatlosen Völkern.

Israel setzt bis heute auf die Rolle Spartas und könnte doch die Athens im Nahen Osten spielen. In seinem hoch gezüchteten Verfolgungswahn erinnert es zur Zeit an den Mann, der um die Litfaß-Säule läuft und ruft: »Hilfe! Ich bin eingemauert!« So wird sich das Land zu Tode siegen, wenn es sich weiter als Vorposten westlicher Geostrategen benutzen läßt. Die aus dem Holocaust rührende Anteilnahme der westlichen Welt kann schwinden, wie auch das billigende Stillhalten und kalkulierte Schweigen mancher Staaten nicht von Dauer ist. Wenn verbriefte Loyalität und »unverbrüchliche Freundschaft« (Merkel) auf die Frage »Öl oder Israel« zusammenschrumpfen, wird selbst der amerikanische Freund verschwinden.

Erschienen in Ossietzky 16/2006