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Im Escorial, dem kasernenartig düsteren, aus Granitblöcken errichteten klösterlichen Hauptquartier König Philipps II., durchwanderte ich die endlose Flucht der kalten, kleinfenstrigen Säle, verirrte mich in den insgesamt 16 Kilometer langen Korridoren und den einander zum Verwechseln ähnlich sehenden Höfen des von mehreren tausend Verwaltungsbürokraten mitbewohnten Labyrinths, das mich, obwohl es erst im 16. Jahrhundert erbaut ist, weit mittelalterlicher anmutete als so manche viel früher entstandene gotische Kathedrale. Dennoch: Von diesem eisigen Palast aus, der mir in mehr als einer Hinsicht wie eine bedrückende Vorwegnahme des nahe gelegenen Caudillo-Monuments vorkam, wurde einst das erste Weltreich der Menschheitsgeschichte regiert, in dem die Sonne niemals unterging. Die einzige Räumlichkeit dieser Kommandozentrale der Frühzeit des Kolonialismus, die ich als ein bißchen weniger kalt empfand, war das »Pantheon de los Reyes«, die Grabstätte der Könige. Die Verkleidung ihrer Wände mit bräunlichem Carrara-Marmor gab ihr, wenigstens farblich, fast schon ein wohnliches Aussehen. Als erster wurde in der Sammelgruft Karl V. beigesetzt. Ihm folgten, in wuchtigen, schwer gedeckelten Sarkophagen stets derselben Machart, die weiteren gekrönten Häupter Spaniens. Unter ihnen eine einzige Frau: Königin Isabel II. Die Gattinnen der Herrscher liegen, statt an deren Seite, in einer zweiten Reihe eingesargt; die ungekrönt gebliebenen Prinzen separat. Und auf Don Carlos' Sarkophag die ominöse Inschrift: »Jetzt hast Du, was Du wolltest.« Hoch über der Gruft, in krassem Widerspruch zum geometrisch nüchternen Gesamtkonzept der übrigen Architektur, Philipps II. eigentümlich verwickelte Wohngemächer. Sie wirken, als wäre Philipp sogar hier, weit ab vom sündhaft-weltlichen Leben in Madrid, noch immer vom zwanghaften Bedürfnis verfolgt gewesen, sich zu verkriechen, sich unsichtbar zu machen. Als hätte er hier nur noch mit Gott allein verkehren wollen, als dessen Vollstrecker er sich selber sah. Um aber mit dem Allmächtigen auch nachts in Blickkontakt zu bleiben, ließ er sein Schlafgemach so richten, daß ihm dessen einziges Fenster sogar vom Bett den Blick zum Hauptaltar der Hauskapelle freigab. Auch etliche der andern 43 Altäre und einige der 7.500 zum königlichen Schatz zählenden Reliquien vermochte er von dort sowie von seinem Schreibtisch aus zu sehen. Um der Versuchung des Anblicks Geist und Seele beschmutzender weltlicher Dinge zu entrinnen, tat der Mann, der von hier aus mit Gänsekiel, Papier und Tintenfaß die Welt beherrschte, ein übriges. Da der Weg zur Hölle bekanntlich auch mit Büchern gepflastert ist, befahl er, die seinen mit dem Rücken zur Wand aufstellen. So vermochten ihn weder ihre Titel noch die Namen der Autoren zu sündhaften Gedanken zu verführen. 1956 standen die Bücher der Bibliothek des Escorial noch immer mit dem Rücken zur Wand. * Zurück in Zürich erfuhr ich endlich Näheres über die von Chruschtschow am 25. Februar gehaltene mysteriöse Rede. Allerdings nicht aus der kommunistischen Parteizeitung Vorwärts , sondern aus dem bürgerlichen Blättern. Noch immer schwiegen sich die »Zentralorgane« des Ostblocks über den Wortlaut der Chruschtschowschen »Geheimrede« aus, mit ihnen auch fast alle kommunistischen Zeitungen des Westens. Kein Wunder, daß sich die desorientierte westeuropäische Linke alsbald in einem Irrgarten wildester Spekulationen wiederfand und einen Großteil ihrer Kräfte über Monate in ebenso rat- wie uferlose Diskussionen investierte. Daß der »Geheimbericht« 43 Seiten umfasse und hauptsächlich vom »Personenkult und seinen Folgen« handle, daß in Moskau die bis dahin allgegenwärtig gewesenen Stalinbilder von den Wänden genommen worden seien und die Rehabilitierung von Opfern der Moskauer Schauprozesse der dreißiger Jahre anstehe, erfuhr man tröpfchenweise. Dieweil man sich auf der Linken noch um die Bedeutung und die Folgen dieser Tröpfchen stritt, waren die Redakteure der Neuen Zürcher Zeitung bereits einen großen Schritt weiter. Allen Ernstes befürchteten sie, daß »viele wohlmeinende Leute im Westen die demonstrative Abkehr der neuen russischen Führergarnitur von Stalin als Anzeichen einer Läuterung des Sowjetregimes deuten« könnten. Und als das sowjetische Politbüromitglied Mikojan die sofortige Auflösung des Kominform-Büros (Kommunistisches Informationsbüro, eine 1946 gegründete, vom Apparat Stalins beherrschte überstaatliche Kontroll-Institution, der sämtliche Ostblock- sowie die meisten westlichen kommunistischen Parteien angehörten. 1957 aufgelöst; J. V. ) bekannt gab, argwöhnte das Blatt nicht mehr und nicht weniger als »ein neues Manöver Moskaus zur Aufweichung des Westens«. Indem dessen kommunistische Parteien »von jeder formellen Bindung von Moskau befreit« würden, solle »ihre Manövrierfähigkeit und Verhandlungsfähigkeit gegenüber den sozialdemokratischen Parteien vergrößert werden«. Dagegen behauptete die italienische KP-Zeitung Unità , die inzwischen veröffentlichten westlichen Fassungen der Geheimrede Chruschtschews enthielten »zahlreiche Fälschungen« und »viele Dinge, (...) die der Wirklichkeit nicht entsprechen«. Dem hielt Edgar Woog, gerade erst zurück aus Moskau, wo er als Delegierter der Schweizer Partei der Arbeit (PdA) den XX. Parteitag verfolgt hatte, mit dem Gewicht des Augen- und Ohrenzeugen entgegen, die Kritik am Genossen Stalin habe den Parteitag, anders als die bürgerliche Presse behaupte, »nur am Rande« beschäftigt. In Wirklichkeit sei fast nur über die nächsten Etappen des ungeachtet aller militärischen Hochrüstung unaufhaltsamen Siegeslaufs der sozialistischen Gesellschaftsordnung debattiert worden. Chruschtschow habe allerdings hervorgehoben, daß Revolutionen auf keinen Fall Exportartikel seien und auch nicht auf Befehl erfolgten. Der künftige Triumph des Sozialismus werde somit keinesfalls durch bewaffnete Interventionen sozialistischer Staaten in die inneren Angelegenheiten kapitalistischer Länder zustande kommen, sondern aufgrund künftiger Überlegenheit der sozialistischen Produktion. Auch sei er der Meinung, daß eine der Grundvoraussetzungen für den friedlichen Übergang kapitalistischer Staaten zum Sozialismus die stabile, durch eine gut organisierte sozialistische Linke eroberte parlamentarische Mehrheit sein könne. Linke Organisationen würden sowohl den Arbeitern vieler kapitalistischer Länder als auch den kolonialen Völkern den Weg zum Sozialismus öffnen. Darauf die NZZ in wachsender Besorgnis: Im Westen könne die Meinung entstehen, daß das Sowjetregimes »nun die rauhen revolutionären Sitten abgelegt habe und damit verhandlungs- und bündnisfähig geworden sei. In Wirklichkeit stellt aber die neue Entwicklung etwas ganz anderes, höchst Gefährliches dar, nämlich den groß angelegten Versuch, durch die Rückkehr zum Leninschen Internationalismus den Fanatismus und die revolutionäre Kampfkraft der im Sta-linschen Dogma erstarrten kommunistischen Bewegung zu steigern.« Diese »Läuterungen« stärkten tatsächlich jene Fraktion der PdA, die ganz auf Chruschtschow setzte. Daß er statt nach bisherigem Brauch irgendwelche allgegenwärtigen Agenten des »Gegners« erstmals Stalin selber und den um ihn betriebenen »Personenkult« für die politischen Irrtümer, Fehler und Verbrechen der Stalinzeit verantwortlich machte, ließ hoffen. Daß er die unerläßliche Analyse der Gründe, die zu solch schweren Abweichungen vom ursprünglichen Ziel der Oktoberrevolution geführt hatten, nicht gleich mitlieferte, sah man ihm nach. Immerhin war ja die Diskussion hierüber schon im vollen Gange – jedenfalls in einigen Ländern des Westens. Wohl am weitesten gediehen war sie in Italien, wo Palmiro Togliatti und andere das sowjetische Demokratie-Defizit im Klartext zur Sprache brachten: Leider habe die sozialistische Revolution von 1917, anders als die bürgerliche von 1789, bisher keinerlei demokratische Instrumentarien wie einen funktionierenden Parlamentarismus, verbunden mit einer verläßlichen Kontrolle der Exekutive durch Gewaltenteilung, und auch noch immer kein mit dem Code Napoleon vergleichbares zivilrechtliches Gesetzeswerk zustande gebracht... * Ende April kündigte Polens Ministerpräsident Cyrankiewicz die Amnestierung von 30.000 politischen Gefangenen an. Wenig später gab Ungarns Spitzenpolitiker Rakosi bekannt, der Oberste Gerichtshof seines Landes habe »Rajk und andere Genossen rehabilitiert«. Dazu schrieb Karl Odermatt im Vorwärts vom 6. April: Weil begangenes Unrecht »nie wieder gutzumachen« sei, gehe es jetzt weder um Entschuldigungen noch um die Beschönigung des Geschehenen, sondern um die Erklärung, wie und weshalb es habe geschehen können. Verfahren wie der Rajk-Prozeß und die dort gefällten Urteile seien nur möglich geworden, weil damals, infolge des auch in den volksdemokratischen Staaten üppig entwickelten Personenkults und der durch ihn mitbedingten Verletzung innerparteilicher Demokratie, Leute vom Schlage eines Berija zu unkontrollierbarer Macht gelangt seien. Am 18. Juni zitierte der Vorwärts eine Rede Togliattis, des Vorsitzenden der kommunistischen Partei Italiens, demzufolge das sowjetische Muster für andere kommunistische Parteien nicht länger obligatorisch bleiben könne. Dann endlich brachte wenigstens die NZZ erste Auszüge aus der viel beschworenen »Geheimrede«, betonte dabei jedoch, daß das Washingtoner Staatsdepartement, welches das kurioserweise in der Zwischenzeit auf 58 Seiten angewachsene Dokument verbreite, für dessen Echtheit keine absolute Gewähr gebe. Wirklich deutete Außenminister John Foster Dulles ein paar Tage später an, es handle sich wahrscheinlich um eine »bereinigte« Version der Rede. Kaum erschienen, wurde sie durch riesige Schlagzeilen über schwere Unruhen im polnischen Poznan aus den Spitzenmeldungen und Schlagzeilen der Medien verdrängt. Die Schreckensmeldung lautete: Aufstand in Posen. Während der internationalen Handelsmesse, die dort alljährlich in der zweiten Junihälfte stattfand, eskalierte ein Streik um höhere Löhne und bessere Lebensmittelversorgung zur Revolte. Bewaffnete Aufständische stürmten den lokalen Sitz der Kommunistischen Partei und ein Gefängnis. Sie forderten den Abzug der sowjetischen Truppen und riefen zum Sturz des kommunistischen Regimes auf. Ihr Versuch, auch das Hauptquartier der Poznaner Polizei zu okkupieren, wurde durch den Einsatz von Panzern verhindert. Amtlichen polnischen Quellen zufolge kamen bei den Kämpfen rund fünfzig Menschen ums Leben, über dreihundert wurden verletzt. Über das Blutvergießen in Poznan zutiefst erschrocken, warnte die Führung der Ungarischen Arbeiterpartei vor der Gefahr, daß die von den »Feinden des Sozialismus« geschürten Unruhen auch auf ihr Land übergreifen könnten: »Reaktionäre Gruppen« um den früheren Ministerpräsidenten Imre Nagy, der hauptsächlich kulturpolitisch engagierte Petöfi-Kreis sowie gewisse Mitglieder des ungarischen Schriftstellerverbands versuchten, »die Rolle der Arbeiterklasse zu vermindern und bourgeoise Ideen zu verbreiten«. * Aber nicht nur in Osteuropa, auch in anderen Weltgegenden standen die Zeichen auf Sturm. In eben jenen zunehmend schwülen Sommertagen kam es in Frankreich erstmals zu größeren Kundgebungen gegen den bereits seit mehr als anderthalb Jahren tobenden schmutzigen Krieg in Algerien. Von den Demonstranten aufgefordert, mit der für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfenden algerischen Befreiungsfront endlich direkte Verhandlungen aufzunehmen, erklärte der sozialdemokratische Premierminister Guy Mollet, er werde die mit der Niederwerfung des Aufstands betrauten französischen Truppen in Kürze um weitere 150.000 Mann verstärken und den dort bereits stationierten 85 Militärhubschraubern weitere 40 hinzufügen. Gleichzeitig häuften sich die von französischen Militärgerichten in Algerien gefällten Todesurteile, die mittels der Guillotine vollstreckt wurden. Spürbar besorgt schrieb die NZZ hierauf von einer sich in der wichtigsten französischen Kolonie Nordafrikas ausbreitenden »Feuersbrunst«. Frankreichs Kommunisten, die ihre Kampagne gegen den Krieg in Algerien bis dahin »ungewöhnlich zahm« geführt hätten, hofften, mit Streiks und Kundgebungen »einer Volksfront näher zu kommen« und für diese auch Anhänger der sozialistischen Partei zu gewinnen. Noch hatte ich zu jenem Zeitpunkt meine wohlgefüllten Spanien-Notizbücher längst nicht abgearbeitet, als mich Hans Leonard bat, in der Weltbühne auch über diese Vorgänge ausführlich zu berichten. Am 27. Juli 1956 nationalisierte Gamal Abdel Nasser, Regierungschef Ägyptens, den Suezkanal. Noch am selben Abend rief mich Leonard an und trug mir auf, fortan auch diese hochexplosiven weltpolitischen Vorgänge im Auge zu behalten. Also verbrachte ich den Vormittag des 28. Juli im mittelalterlich verwinkelten, vom Keller bis unters Dach mit Büchern vollgestopften legendären Zürcher Altstadt-Antiquariat von Theo Pinkus. Grub dort Werke über König Mohammed Ali aus, der bereits im frühen 19. Jahrhundert versucht hatte, Ägypten ins Industriezeitalter zu führen. Stieß dort ferner auf die mehrbändigen, unglaublich aufschlußreichen Memoiren Lord Cromers, der als einer der einflußreichsten Wahrer und Mehrer der imperialen Interessen Großbritanniens in die Geschichte einging und Ägypten im Auftrag der Krone ab 1882 selbstherrlich wie ein Pharao regierte, feilschte mit Theo, der wahrlich sein Geschäft verstand, ein wenig um den Preis des Ganzen, beschaffte mir anderswo noch etwas aktuelle Dokumentation und kniete mich in die Materie. Notierte, daß Gamal Abdel Nasser bis zum 26. Juli 1956 fest davon ausgegangen war, daß ihm die Westmächte die für die Errichtung seines Assuandamm-Projekts erforderlichen Kredite und technischen Hilfsmittel gewähren würden. Doch an jenem Tag verkündete ein Sprecher der US-Regierung, die »aggressive Haltung Ägyptens gegenüber Israel« zwinge die Vereinigten Staaten dazu, »vorläufig« von einer Beteiligung an der Finanzierung des Staudamms Abstand zu nehmen. Gleichzeitig zogen die Weltbank und die Londoner Regierung ihre Zusagen zurück. Noch am selben Tag beantwortete Kairo den koordinierten Affront mit der sofortigen Enteignung des Suezkanals. Zwar wurde der »Compagnie du Canal de Suez«, der dieser hochprofitable Schiffahrtsweg bis dahin gehört hatte, eine angemessene Entschädigung garantiert, doch entschieden wichtiger als die finanziellen waren den Westmächten die strategischen Folgen dieses Schrittes. Erst recht, als Moskau verlautbarte, die Sowjetunion werde in das Assuan-Projekt einsteigen und sämtliche vom Westen zurückgenommenen Verpflichtungen übernehmen. Damit hatte im Westen kaum jemand gerechnet.
Erschienen in Ossietzky 15/2006 |
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