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Kürzlich besuchte Wolfgang Tiefensee, unser Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, der zugleich Regierungsbeauftragter für die immer noch »neuen Bundesländer« ist, die Hans-und-Hilde-Coppi-Oberschule im Ostberliner Stadtbezirk Lichtenberg. Darüber freuten sich die Schüler, denn sie erwarteten von ihm tatkräftige Unterstützung gegen Pläne, ihre traditionsreiche Schule wegen zurückgehender Schülerzahl zu schließen. Doch daran zeigte der hohe Gast wenig Interesse, sein Thema war: Die Stasi und die DDR. Hier versteht sich der Held der friedlichen Revolution von 1989, der er sich in Leipzig ziemlich spät anschloß, als Spezialist; und so wußte er den in der Aula Versammelten zu berichten: »Die DDR war eine Alltagsdiktatur, sie wirkte nicht nur in den Zuchthäusern und bei der Bespitzelung, sondern reichte bis in das Familienleben.« Zur Illustration berichtete er, daß er aus einer Familie stammt, die gegen das DDR-System war, und daß ihm deshalb kein Studium erlaubt wurde. Als Schüler habe er oft geheult, weil er mit seiner Meinung allein gestanden habe. Schlimm. Die Jugendlichen lauschten andächtig, und der Minister, ganz in die Erinnerung an seine traurige Kindheit versunken, vergaß zu erläutern, wie er es bei derartiger Drangsalierung geschafft hatte, in der DDR nach erfolgreichem Studium Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik zu werden. Entglitten war seinem Gedächtnis anscheinend auch, daß der aus der gleichen kujonierten Familie stammende Eberhard Tiefensee, gegenwärtig Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Erfurt, von 1973 bis 1979 an dieser Universität Philosophie und Theologie studieren und 1986, noch in tiefsten DDR-Zeiten, zum Dr. theol. promovieren konnte. Da er zeitweilig seelsorgerisch tätig war, wird es ihm gewiß möglich sein, seinem Bruder Wolfgang die kleine Gedächtnislücke als läßliche Sünde zu vergeben. Angesichts der geschilderten Diskriminierung seiner Familie in der »Alltagsdiktatur DDR« vergaß der Ersatzgeschichtslehrer Tiefensee es verständlicherweise, auch nur mit einem Wort darauf einzugehen, daß in der freien Alltagsdemokratie BRD laut den Pisa-Untersuchungen immer stärker die soziale Herkunft über den Bildungsweg eines Kindes entscheidet. Selbst bei gleichem Wissensstand und Lernvermögen hat ein 15jähriger Schüler aus wohlhabenden Elternhaus eine viermal größere Chance, ein Gymnasium zu besuchen und das Abitur als Voraussetzung für ein Studium zu erlangen, als ein Gleichaltriger aus einer sozial benachteiligten Familie. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft nennt das »einen Schandfleck des deutschen Schulsystems«. Aber der Minister suchte andere »Schandflecke«. Er blieb beim Thema, würdigte den Protest der Schüler gegen die Schulschließung als »Zivilcourage« und betonte: »Das wäre in der DDR unmöglich gewesen.« In diesem Punkt ist ihm leider zuzustimmen. Wo der Minister Recht hat, hat er Recht. Allerdings vergaß er hier zu erwähnen, daß in der DDR schwerlich eine Schule wegen zunehmenden Schülermangels hätte geschlossen werden müssen. Es gab vergleichsweise viele Kinder und damit viele Schüler. Auf dem Gebiet der DDR wurden 1988 noch 222.000 Kinder geboren. Sechs Jahre später war die Zahl auf 79.000 zurückgegangen. Ostdeutschland landete mit seiner Geburtenrate auf dem vorletzten Platz in der Welt – aber immerhin noch vor dem Vatikan. Unter solchen Verhältnissen können die Schuldirektoren und Lehrer noch so sehr auf lernbegierige Schüler hoffen – die Klassenzimmer füllen sich nicht einmal zur Hälfte. In Leipzig, wo Wolfgang Tiefensee vor seinem Regierungsamt erfolgreicher, aber skandalumwitterter Oberbürgermeister war, hat sich die Zahl der Grundschüler zwischen 1994 und 2002 von 20.000 auf 9.400 verringert. Auf solche nebensächliche Entwicklungen ging der Gastlehrer nicht ein, sie hätten möglicherweise das schaurig schwarze Bild von der tristen diktatorischen DDR ein wenig aufhellen und das strahlende der BRD trüben können. Als eine ihrer vielen Aktionen für die Rettung ihrer Schule haben die Schüler im Eingangsbereich einen Spruch des polnischen Satirikers Stanislav Jerzy Lec angebracht: »Die Verfassung eines Staates soll so sein, daß sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert.« Ob der Multi-Minister und Ostbeauftragte diesen Satz gelesen hat, ist nicht überliefert. Aber wenige Tage nach seinem Schulbesuch äußerte er sich in einem Interview der Berliner Zeitung optimistisch zum »Aufholprozeß im Osten«: »Wenn es uns gelingt, das Geld richtig einzusetzen, dann werden wir gut 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, also 2020, mindestens in einigen Wachstumsregionen eine stabile Wirtschaft haben.« Das dürfte auch für die Schüler der Coppi-Schule sehr tröstlich sein.
Erschienen in Ossietzky 14/2006 |
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