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Wer noch sehr viel mehr Geld auszugeben hat, kann sogar, wie ich kürzlich erfahren habe, einen Zug mit zwei Waggons mieten, um auf einer der Moskauer Straßenbahnlinien Hochzeit zu feiern. Die normalen Passagiere stehen derweil staunend an den Haltestellen und müssen etwas länger als gewöhnlich auf ihre Bahn warten. In Moskau schießen »Sonderagenturen« wie Pilze aus dem Boden. Sie bieten ihre Dienste denjenigen Reichen an, denen normale Hochzeitszeremonien zu fade sind. Also ein Service für Menschen, die sich später brüsten wollen: »Ihre Eheschließung war Dutzendware, Massenware, aber meine...« Zwischen den Agenturen tobt ein schonungsloser Konkurrenzkampf. Jede erklärt sich bereit, die wildesten Phantasien zu verwirklichen. Dafür nur einige Beispiele. Ein Veranstalter lockt mit folgendem Szenario: Irgendwo im Raum Moskau wird Afrika inszeniert. Man serviert den Teilnehmern fünf oder sechs Gänge eines original schwarzkontinentalen Gerichts. Das Essen wird ununterbrochen von Tamtammusik begleitet, dazu tanzen Mädchen. Alle Mitwirkenden tragen Lendenschurz. Der Bräutigam muß für seine Auserwählte eine Abfindung zahlen: die Haut eines Nashorns. Alles in allem kostet die Zeremonie 2.500 Rubel pro Mitwirkenden. sowie 350 Dollar zuzüglich für den Schauspieler, der den Häuptling darstellt und mit – meistens blöden – Witzen die Gäste animiert, sich zu betrinken. Ein Bräutigam wollte unbedingt in der Todeszelle eines Gefängnisses heiraten. Die Agentur arrangierte alles, einschließlich des elektrischen Stuhls, auf dem er einige Minuten heftig bibberte. Selbstverständlich war das Mordwerkzeug eine Attrappe. Manche jungen Ehepaare rasen vom Standesamt direkt zum Flughafen. Man kann da ein Flugzeug mieten oder einen Luftballon; auch Fallschirmspringen wird angeboten. Ein Kuß im freien Fall – geil! Oder unter Wasser. Da gibt es sogar einen Schluck Sekt aus der Flasche. Nur 40 Minuten Übung – und schon darf man im Taucheranzug hinab. Ein Kameramann ist immer dabei. Wer auf Publicity scharf ist, dem erfüllen die Agenturen jeden Wunschtraum. Die Eheschließung wird im Internet übertragen und weltweit live gesendet. Der Partner braucht zur Hochzeit nicht unbedingt anwesend zu sein. Ein Ja-Wort per E-Mail reicht. Die amtliche Urkunde kommt dann gleichfalls mit der elektronischen Post. Sehr bequem und praktisch. Die außergewöhnlichste Idee hatte der Mann, der in einer Irrenanstalt Hochzeit feierte. Sanitäter nahmen das junge Paar und die übrige Hochzeitsgesellschaft mit Krankenbahren in Empfang und rollten sie in einen großen Krankensaal. Dort standen Tische mit Kolben, die mit reinem medizinischem Spiritus gefüllt waren. Prost! Wahrlich, solche Leute gehören ins Tollhaus – gerade wenn man an den Alltag anderer Russen denkt. 31 Millionen Russen leben in Armut – nach den offiziellen, also geschönten Angaben des Statistischen Amtes. Die richtige Zahl liegt viel höher. Und was heißt es, in Rußland arm zu sein? Eine arme Familie hat pro Tag und Person nicht mehr als 3,5 Dollar auszugeben. Dieser Tage nahmen die Abiturienten Abschied von ihren Lehranstalten. Einige junge Leute, prächtig gekleidet und mit Brillanten dekoriert, wurden in Limousinen zu den Feierlichkeiten gebracht. Die Eltern der anderen hatten große Mühe, den Kostenbeitrag fürs Abschiedsessen und -trinken zusammenzukratzen. Jüngst machte unser Präsident Putin eine Entdeckung, die ihm zwar keinen Nobelpreis eintragen wird, aber in seiner Umgebung großes Geschrei auslöste: »Hilfe, die Geburtenrate geht zurück, das Volk stirbt aus.« Was nun? Im Kreml entschied man, die Zuschüsse für das erste, zweite, dritte und nachfolgende Kinder zu erhöhen. Man hofft, daß sich die Frauen in neun Monaten scharenweise in den Entbindungsstationen einfinden werden. Offenbar versteht die Obrigkeit die einfachsten Dinge nicht: Kindergeld ist eine gute Sache, aber nicht die einzige, auf die es ankommt. Eine junge Familie braucht eine Wohnung, Kinderkrippe und Kindergarten, allgemeinen Zugang zur Bildung und zu medizinischer Betreuung. Hauptsache ist, man kann auf ehrliche Weise den Lebensunterhalt verdienen. Sonst haben Kinder aus armen Familien keine Zukunftschancen. Täglich nehme ich öffentliche Verkehrsmittel, laufe zu Fuß durch die Straßen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich in Moskau das letzte Mal eine schwangere Frau gesehen habe.
Erschienen in Ossietzky 14/2006 |
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