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Zurück zum großen KriegManfred Sohn Historische Ereignisse haben es an sich, ihre Wirkungen erst nach und nach zu entfalten. Man muß nicht gleich das chinesische Denken in Jahrhunderten übernehmen, nach dem es auch jetzt noch zu früh ist, die Wirkungen der französischen Revolution von 1789 abschließend zu würdigen. Aber die Zeitzeugen des Epochenbruchs von 1989 sind noch dabei, die ganze Tragik dessen zu begreifen, was viele zunächst als »Befreiung von der sozialistischen Diktatur« bejubelten. Derweil befinden sich die großen kapitalistischen Nationen auf dem Gewaltmarsch zurück in alte Sozial- und Politikstrukturen – in die des späten 19. Jahrhunderts. In Japan zum Beispiel konzentrieren sich die außenpolitischen Debatten immer stärker auf die von Regierung und sozialdemokratischer Oppositionspartei gemeinsam befürwortete Revision des Artikels 9 der Verfassung, der bislang das Führen von Kriegen als Mittel der Politik strikt untersagt. Innenpolitisch sind die auch vorher kargen Sozialleistungen so zusammengestrichen und der Konkurrenz lokaler Behörden überantwortet worden, daß nun erstmals unter amtlicher Aufsicht ein 56jähriger in Kitakyushu verhungert ist. Dem Mann, der bis vor einem Jahr als Taxifahrer gearbeitet hatte, waren vom Sozialamt Mittel verweigert worden, weil seine beiden Söhne ihn ernähren könnten. Auf seine Hinweise, das sei ihnen finanziell nicht möglich, antworteten die Behörden so lange mit immer neuen Formularen, bis der Mann zu Hause blieb und verhungerte. Für die Stadtverwaltung Kitakyushu ist das nur insofern ärgerlich, als es ihren vorher verkündeten Stolz darauf trübt, daß sie besonders sparsam mit ihrem Sozialhaushalt umgegangen ist: Nur 12,88 Prozent der Bewerber um Sozialhilfe, hatte sie nämlich kurz vorher verkündet, seien tatsächlich bedürftig und bekämen in dieser Stadt Hilfe zum Lebensunterhalt. Auch in Deutschland können sich bekanntlich Landkreise darum bewerben, Hartz IV selbst zu gestalten – in dem Bestreben, möglichst wenig Geld dafür aufzuwenden. Ob einer von ihnen eine Delegation nach Kitakyushu schickt, um zu sehen, wie man Sozialhilfekosten drücken kann? Die Armut der einen ist der Reichtum der anderen. In den USA, so war kürzlich im Economist zu lesen, erhält inzwischen das reichste Prozent der Bevölkerung über 15 Prozent des Einkommens, das reichste Promille sechs Prozent. Das war mal anders, als – ausgelöst durch zwei Weltkriege um Rohstoff- und Absatzmärkte – die Völker revoltierten und nach 1917 und vor allem nach 1945 mit einer sozialistischen Alternative ernsthaft die Existenz des Kapitalismus bedrohten. Da traute sich das obere Prozent nur acht Prozent des Einkommens, also kaum mehr als die Hälfte des jetzigen Anteils, in die eigene Tasche zu stecken, das obere Promille zwei Prozent. Die heutigen Werte ähneln bis auf Kommastellen denen, die vor der Oktoberrevolution in Rußland schon erreicht waren. Seit 1989 befindet sich die Welt auf einer rasanten Fahrt zurück zu alten Werten und gesellschaftlichen Spaltungen. Krieg wird Jahr für Jahr mehr ein Mittel der Politik, die Kultur – Sport eingeschlossen – wird mehr und mehr auf nationalen Kitt reduziert, und sozial distanzieren sich die Reichen immer krasser und schamloser von den Armen. Es gibt weder historische noch aktuelle Belege, dass die da oben freiwillig vom Umverteilungs- und Kriegskurs abgehen, der für sie in den letzten 15 Jahren so einträglich geworden ist. Alles deutet darauf hin, daß die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts ähnlich rumpelig wird wie die des vorigen.
Erschienen in Ossietzky 14/2006 |
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