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Als im Frühjahr 1999 die ersten NATO-Bomben auf Serbien fielen, geschah es in Hannover, daß ein junger Patient der Medizinischen Hochschule es ablehnte, von Frau Dr. Ljiljana Verner behandelt zu werden. Seine Begründung: Die Oberärztin habe selber zugegeben, Serbin zu sein. So erging es den Serben am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutschland schon zweimal Serbien überfallen hatte und nun an einem dritten Angriffskrieg gegen dieses Land teilnahm. Im Mai 2006 fanden im deutsch-niederländischen Grenzgebiet wie alljährlich gemeinsame Veranstaltungen zum Gedenken an die Schrecken des zweiten Weltkrieges und zur Mahnung für den Frieden statt, inspiriert von dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder«. Dessen Hauptgründer auf deutscher Seite war der evangelische Pfarrer Koch (Emlichheim) gewesen, der im Widerstand gegen das Naziregime gekämpft und im KZ gelitten hatte. Diesmal war als Rednerin Ljiljana Verner eingeladen, und es sollte auch eine Fotoausstellung gezeigt werden, die ein Kriegsverbrechen dokumentiert: die Zerstörung der Brücke von Varvarin (Zentralserbien) durch NATO-Bomber am Pfingstsonntag 1999. Die Ausstellung wurde vom Bürgermeister der niederländischen Gemeinde Dinkelland abgesagt, und die deutsche Nachbarstadt Nordhorn beeilte sich, dem Komitee »Nooit meer – Nie wieder« die Unterstützung zu entziehen. Von den Opfern des NATO-Kriegs zu sprechen, erschien den tonangebenden Kommunalpolitikern als unvereinbar mit dem Gedenken an die Opfer des zweiten Weltkriegs. Und daß ausgerechnet Ljiljana Verner eingeladen worden war! Die Serbin! Haben wir es etwa nötig, auch einmal die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen! Darüber empörte sich die Nordhorner Stadtverwaltung und warf »Nooit meer – Nie wieder« allen Ernstes »Einseitigkeit« vor. Eine Provinzposse? Nein, herrschende Meinung: Die Gegenseite, die Seite der Opfer, muß ausgeblendet werden. So war es in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg, bis endlich in den 1990er Jahren die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zeigte, was 50 Jahre zuvor in Serbien geschehen war. Und so ist es jetzt wieder seit dem NATO-Krieg gegen Serbien. Wenn wir die Gegenseite zu Wort kommen ließen, würde unsere schöne Selbstgerechtigkeit gestört. Über die Kriegsverbrechen der NATO – und der Angriffskrieg selber war das Hauptverbrechen – muß eisern geschwiegen werden. Mit Serben zu reden, sind wir allenfalls bereit, wenn sie sich der Siegerjustiz demütig unterwerfen. Sie haben selbst im eigenen Land nicht mehr viel zu sagen. Die dortige Presse ist weitgehend von deutschen Konzernen übernommen worden. Man darf sich die Kommunalpolitiker in Dinkelland und Nordhorn nicht als ungewöhnlich beschränkt vorstellen. Ebensowenig die christlich-, frei-, sozialdemokratischen und grünen Stadträte in Düsseldorf, die Peter Handke als Heinrich-Heine-Preisträger ablehnten und rüde beschimpften. Sie fühlten sich offenbar geradezu moralisch verpflichtet, Düsseldorf und ganz Deutschland vor der Gefahr zu schützen, daß plötzlich nicht mehr gilt, was bisher gegolten hat. Darf denn ein Schriftsteller daherkommen und Zweifel daran säen, daß die Serben urböse und wir Deutschen im Recht sind? Dürfen verantwortungsbewußte Politiker staatstragender Parteien zulassen, daß am Ende womöglich wir selber als Mitschuldige am Verbrechen eines Angriffskriegs dastehen? Diese braven Grünen, Frei-, Sozial- und Christdemokraten haben vermutlich einfach geglaubt, was sie auf dem Bildschirm gesehen, im Radio gehört, in Zeitungen gelesen haben, sie haben es für wahr gehalten, haben sich darauf verlassen und wollen sich weiterhin darauf verlassen können. Dann liegt das Problem aber nicht bei diesen Kommunalpolitikern, sondern bei den tonangebenden Medien, die immer im Gleichschritt mit der Bundesregierung und der NATO marschiert sind. Als Rolf Becker und ich mit der Gewerkschaftergruppe »Dialog von unten statt Bomben von oben« im Frühjahr 1999 während des Bombenkriegs der NATO gegen Jugoslawien durch das angegriffene Land reisten, selber einige Bombardements erlebten und viele unvergeßliche Begegnungen hatten, trafen wir in Belgrad auch den damaligen Korrespondenten der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD), Klaus Below. Man hätte annehmen müssen, daß er in jenen Kriegswochen täglich auf dem Bildschirm erschienen wäre, um das deutsche Fernsehpublikum zu informieren; doch gerade damals verschwand er vom Bildschirm. Seine Berichte, so erfuhren wir von ihm, wurden unterdrückt – nicht von jugoslawischer Seite, sondern von den ARD-Verantwortlichen. Was er in Jugoslawien mit eigenen Augen sah, paßte nicht in das Bild, das die NATO-Propaganda vermittelte. Die öffentliche Meinung in den NATO-Ländern wurde damals fast ausschließlich von der NATO gemacht, von den Regierungen der NATO-Länder und vom damaligen Pressesprecher der NATO, Jamie Shea, der später recht offen und sehr zynisch in einem Buch geschildert hat, wie er damals für die rechte Kriegsstimmung sorgte – mit erfundenen Geschichten und flotten Sprüchen. Realistische Kriegsdarstellungen des ARD-Korrespondenten Below hätten da nur gestört. Unsere Gruppe versuchte selber mit äußerst geringem Erfolg, durch tägliche Berichte, die wir deutschen Nachrichtenagenturen und Zeitungen schickten, die Wirklichkeit dieses Krieges bekanntzumachen. Ähnlich erging es Peter Handke, der damals und auch vorher und nachher zu den wenigen gehörte, die sich an Ort und Stelle umsahen und umhörten. Die NATO bombardierte in Serbien neben Chemiefabriken, Kraftwerken, Schulen, Krankenhäusern, Wohngebieten, Eisenbahn- und Straßenbrücken auch Rundfunksender – völkerrechtswidrig. Weil das serbische Fernsehen, in dessen Zentrale bei einem nächtlichen Bombenangriff 16 Kollegen getötet wurden, weiterhin Fotos und Filme von den Kriegszerstörungen ausstrahlte – Zerstörungen, die es laut NATO-Propaganda nicht gab, allenfalls sogenannte Kollateralschäden wurden zugegeben –, erwirkte der damalige deutsche Außenminister Fischer bei der Eutelsat-Zentrale in London die Abschaltung der Satellitenübertragung. Das Fersehpublikum in Deutschland und aller Welt sollte nicht erfahren, was die NATO in Serbien anrichtete. Glatte Zensur! Verfassungswidrig! Zensur und systematischer Mißbrauch der Medien zu Propagandazwecken sind mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. Was damals geschehen ist – und dazu gehörte auch das Mikrofonverbot für einen südwestdeutschen Rundfunkkollegen, der zutreffend den Krieg der NATO gegen Jugoslawien einen Angriffskrieg genannt hatte –, muß endlich aufgearbeitet werden. Es gab Ansätze dazu. So strahlte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) anderthalb Jahre nach dem Krieg eine wohlrecherchierte Sendung unter dem Titel »Es begann mit einer Lüge« aus. Der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping wurde in dieser Sendung mit mehreren krassen Lügen konfrontiert, mit denen er versucht hatte, den Krieg zu rechtfertigen. Zum Beispiel hatte er behauptet, »die Serben« hätten aus dem Stadion von Pristina ein KZ gemacht. Daran war nichts Wahres. Peinlich für Scharping, peinlich für alle, die solche Behauptungen kritiklos übernommen und weiterverbreitet hatten. Politiker der damaligen Regierungskoalition gingen mit Verleumdungen gegen die Sendung vor, an der aber nicht das Geringste zu beanstanden war. In der Berichterstattung über jedweden Konflikt müßten Journalistinnen und Journalisten auf nichts so sehr bedacht sein wie darauf, daß beide Seiten zu Wort kommen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber gerade in Kriegszeiten und schon in den Zeiten der Vorbereitung von Kriegen, also dann, wenn es am meisten darauf ankommt, vergessen die Journalisten das Gelernte, sammeln sich unter der Fahne und machen Propaganda; viele merken nicht einmal, wozu sie sich hergeben – so stark ist der Erwartungsdruck, unter dem sie arbeiten. Die Justiz kennt seit vielen Jahrhunderten den Grundsatz, daß kein gerechtes Urteil gefällt werden kann, ehe nicht beiden Seiten Gehör gegeben wurde. Auch der Souverän in der Demokratie kann sich kein zutreffendes Urteil bilden, wenn er nur einseitig informiert ist. Aus den Erfahrungen in Jugoslawien habe ich den Schluß gezogen, daß Journalisten (ich meine solche, die überhaupt selber recherchiereren, das sind nicht viele) den offiziellen Angaben grundsätzlich nicht trauen dürfen, vor allem nicht den Angaben der eigenen beziehungsweise befreundeten Seite – im Zweifelsfall eher den Angaben der anderen Seite. Deren Darstellung hat zumindest den Wert, daß sie uns kritikfähig gegenüber der Darstellung der eigenen Seite machen kann. Die Gefahr, aus Leichtgläubigkeit mitschuldig zu werden, besteht in der Regel nur auf der eigenen Seite. Die wichtigste Wahrheit in einem militärischen Konflikt ist ohnehin immer die über den Gegner, zum Beispiel über seine Motive und seine Stärke. »Embedded journalists«, wie die US-Streitkräfte sie im jüngsten Irak-Krieg auf Panzern mitfahren ließen, erfahren von dieser wichtigsten Wahrheit nichts. Während des Bombenkriegs gegen Jugoslawien und schon lange vorher kam Slobodan Milosevic, der demokratisch gewählte Staatspräsident Serbiens und Jugoslawiens, in den deutschen Medien niemals im Originalton zu Wort. Der Prozeß gegen ihn in Den Haag hätte Gelegenheit zur Wahrheitsfindung geben können, aber unsere Wahrnehmungsschwäche hielt an. Berichtet wurde immer wieder, die Chefanklägerin Carla del Ponte verfüge nunmehr über Beweise für die Schuld Milosevics. Wie sie dann regelmäßig mit ihren angeblichen Beweisen im Verhandlungssaal scheiterte, interessierte anscheinend nicht. Der Prozeß endete mit dem Tod des Angeklagten, nicht mit einem Schuldspruch, zu dem es nur unter Verdrehung der Fakten hätte kommen können. Weil Milosevic nicht verurteilt wurde, muß er nach einem unaufgebbaren Rechtsprinzip als unschuldig gelten. Doch das Feindbild »die Serben« steckt fest im deutschen Schädel – seit Generationen. »Die Serben« sind Täter und müssen mit Sanktionen belegt werden. Sie müssen schuld gewesen sein an den Kriegen, die wir gegen sie geführt haben. Namentlich Milosevic. Frage ich nach, fällt allen dasselbe Stichwort ein: Srebrenica. Was dort geschah? Was vorausgegangen war? Was Milosevic damit zu tun hatte (nämlich gar nichts)? Das wollen sie nicht so genau wissen. Und Kragujevac? Das interessiert schon gar nicht. Bei diesem größten Massaker auf dem Balkan während des weiten Weltkriegs (7000 Tote) waren Deutsche die Täter gewesen. Das wissen wir nicht und wollen es nicht wissen. 1999 zerbombte die NATO fast alle 50.000 industriellen Arbeitsplätze in Kragujevac und beschädigte auch die Gedenkstätte am Ort des Massakers von 1941. Nein, das müssen wir nicht wissen. Kragujevac kennen wir nicht. Uns genügt Srebrenica. Keine weiteren Fragen. Peter Handke hat in den Auseinandersetzungen der letzten Wochen an uns alle appelliert: »Lernen wir die Kunst des Fragens.« In der Pariser Liberation vom 10. Mai hat er davor gewarnt, über Jugoslawien mit »ausschließlich präfabrizierten Worten, unendlich oft wiederholt, gebraucht wie automatische Waffen« zu sprechen und zu schreiben. »Als Einzelner«, so kommentierte am 31. Mai Cornelia Niedermeier im Wiener Standard , »als Einzelner verteidigt er den Willen zum eigenen Blick gegen den entliehenen Massenblick der Medien«. Verantwortungsbewußte Journalisten sollten das als eine Herausforderung begreifen. Peter Handke, auch und gerade mit seinen Büchern über Serbien, fordert die Medien in den NATO-Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, zum Nachdenken über ihre Rolle heraus – und nicht nur die Medien als Apparate, sondern jeden einzelnen Journalisten. Die Kunst des Fragens wird täglich gebraucht. Nur der eigene Blick kann uns davor bewahren, in immer neue Katastrophen hineingezogen zu werden. Mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern müssen wir reden, wenn wir neue Kriege vermeiden wollen. Wo Regierungen aufhören, den friedlichen Interessenausgleich zu suchen, wo sie aufhören zu verhandeln, wo sie alle Kommunikation abbrechen und wo die tonangebenden Medien die Gegenseite nur noch verteufeln (Milosevic, »der Diktator«, »der Schlächter«, »der neue Hitler«), da ist Krieg nicht fern. Wenn mit der Hamas, der demokratisch gewählten Regierungspartei der Palästinenser, nicht gesprochen werden darf, droht die physische Vernichtung der Palästinenser. Ähnlich beängstigend ist es, daß die westliche Welt sich darauf festgelegt hat, nicht mit dem gewählten Präsidenten von Belarus, Lukaschenko, und anderen Vertretern des Landes zu sprechen. Im Mai fand in Berlin ein Europäisches Friedensforum statt; der Vertreter der Friedensbewegung von Belarus mußte fernbleiben, weil ihm Deutschland das Visum versagte. Völker werden mundtot gemacht, bevor sie Opfer von Bomben werden. Und die Überlebenden müssen mundtot bleiben, damit die Täter nicht an ihre Verbrechen erinnert werden. Mitte Juni führte die Neue Zürcher Zeitung ein ausführliches Interview mit Peter Handke, nachdem er in Deutschland schon fast zur Unperson geworden war. Zum Schäbigsten, was ich hierzulande gelegentlich über ihn las, gehörten Sätze von der Art, daß er zwar kein schlechter Schreiber sei, aber eben einen »Spleen« habe, den »Jugoslawien-Spleen« ( Frankfurter Rundschau ). Das sollte einfach heißen: Handke sei nicht ernst zu nehmen. Aber der Autor läßt sich nicht von seinem Thema trennen. So kommen wir nicht davon. So können wir uns der Herausforderung dieses Mannes nicht entziehen. In einer Pressekonferenz im Berliner Theater am Schiffbauerdamm, in der über den Berliner Heinrich-Heine-Preis für Peter Handke informiert wurde, sagte die Initiatorin Käthe Reichel drastisch-sarkastisch: »Keine Meinungsfreiheit, zumindest für Handke, wenn er von Deutschland – das immer noch mit Auschwitz am Hals belastete – erwartet, ›daß man Milosevic bitte nicht mit Hitler vergleichen‹ möge. Das ist aber zuviel verlangt. Das geht nicht. Wenn Deutschlands Volk nicht lernt, Milosevic mit Hitler zu vergleichen, dann versteht es die Bomben aus Deutschland auf Frauen und Kinder in Belgrad nicht … Die Wahrheit ist dem Krieg nicht zumutbar. An ihr muß er verrecken. Darum wünschte sich dieser Krieg, daß die Deutschen vergessen sollen, daß die Serben sich selbst von Hitler befreit haben. An den Krieg gegen Hitler soll man in Deutschland sich nicht mehr erinnern – jetzt, wo Auschwitz nicht mehr in Auschwitz liegt, sondern in Serbien und, was noch toller ist, das ganze Deutschland am Hindukusch liegt und künftig in der ganzen Welt.« Ein 08/15-Journalist meinte prompt, den Berliner Heinrich-Heine-Preis, dessen Geldbetrag nach Handkes Wunsch dazu verwendet werden soll, auf die Situation der Serben in den letzen Enklaven im Kosovo aufmerksam zu machen, in »Milosevic-Preis« umbenennen zu sollen. Käthe Reichel antwortete schlagfertig: »Hitler-Preis. Eigentlich wollten Sie doch sagen: Hitler-Preis.« Der Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm, Claus Peymann, Unterzeichner des Aufrufs für den Preis, erhielt inzwischen »Heil Hitler«-Zuschriften. Anfang 2007 wird dort ein neues Stück von Peter Handke uraufgeführt werden.
Erschienen in Ossietzky 14/2006 |
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