Zur normalen Fassung

Wie wir Freiheit buchstabieren könnten

Offener Brief an alle Mitglieder der SPD-Fraktion im Bundestag

von Sylvia Zeller und René Talbot

Von der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion am 9. Mai berichtete der Focus Nr. 20 auf Seite 34:

"Was machen wir eigentlich, um endlich die Arbeitslosenzahl zu senken?" knöpfte sich einen Tag später der SPD-Kollege Ottmar Schreiner seinen Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) vor. Bisher gehe es nur um immer neue Sanktionen gegen Arbeitslose. Wütend faltete Müntefering den Genossen daraufhin zusammen: "Was du hier abziehst, ist schwer erträglich...!" Im Übrigen gelte: "Wer arbeitet, muss was zu essen haben, wer nicht arbeitet, braucht nichts essen." Fassungslos hielten die Genossen daraufhin den Mund."

Außerdem veröffentlichte die WASG das gleiche Zitat und berief sich glaubhaft auf Zeugen aus der SPD-Fraktion. Später erfuhren wir, daß auch die Bild-Zeitung über diesen Vorfall berichtet hatte.

Zwei Tage danach wurde in allen Medien berichtet, daß eine weitere Verschärfung der Hartz IV-Gesetze mit den Stimmen der SPD beschlossen wurde, nach der eine dreimalige Verweigerung eines Arbeitsangebotes zu einer völligen Streichung der Leistungen inklusive des Wohnungsgeldes führt.

Wir, Mitglieder der SPD, fragten daraufhin in persönlichen Briefen an alle Mitglieder der Fraktion, selbstverständlich auch an den Arbeitsminister Franz Müntefering, nach, ob sie diese Aussagen bezeugen könnten und wenn ja, welche Konsequenzen sie daraus ziehen würden.

Von den 222 Mitgliedern der Fraktion erhielten wir 37 Antworten. Nur zwei Abgeordnete waren aufrichtig genug, zu bestätigen: "Franz hat in meiner Anwesenheit diesen Satz so gesagt."

All die Ausflüchte von Franz Müntefering und seiner Verteidiger können demnach nur als Schutzbehauptungen gewertet werden: So wurde uns fälschlich unterstellt, unsere Quelle sei die Bild-Zeitung gewesen, in der durchsichtigen Absicht, die Nachfrage unsererseits mit dem Hinweis auf diese vermeintliche Quelle zu diskreditieren. Franz Müntefering selber behauptete gar, wir hätten ihn nicht persönlich angeschrieben. Da man davon ausgehen kann, daß er seinen Briefeingang unter Kontrolle hat, sind beides offensichtliche Ablenkungsmanöver, mit deren Hilfe versucht wurde, unsere Integrität in Zweifel zu ziehen, anstatt sich inhaltlich mit der Ungeheuerlichkeit der Aussage zu befassen.

Um die Aussage des Vize-Kanzlers zu rechtfertigen, wurde von ihm selbst wie auch von vielen Fraktionsmitgliedern der strittige Satz in eine Traditionslinie von Bibel und Bebel gestellt. In dem Werk "Die Frau und der Sozialismus" (1879) bezog sich August Bebel positiv auf den Paulus-Brief, in dem es heißt: "wenn jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen (2. Brief an die Thessalonicher. 3,10). Bebel folgerte daraus: "Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen."

Wir halten Franz Müntefering zugute, daß er nicht sagen wollte, daß Arbeitslose, die arbeiten wollen, nicht essen dürfen bzw. dies in seinen weiteren Ausführungen zurückgenommen hat. Das ist aber nicht der springende Punkt, denn wir hatten in unserer Anfrage ja ausdrücklich die "Arbeitsscheuen" miteinbezogen, denen in dem fraglichen Zitat mit Hungermord gedroht wird. Wir wissen heute nur zu gut, wie sehr diese Maxime des Paulus auch nach Bebel noch Verwendung fand. Bei allen Unterschieden zwischen den Nazis und den Stalinisten wurden in beiden Systemen Arbeitsscheue als "Asoziale", die das Mitmachen beim Aufbau des Sozialismus bzw. den Dienst für die Volksgemeinschaft verweigerten, durch systematisches Totverhungern lassen und mit anderen Mordmethoden verfolgt. Wer also heute meint, sich positiv auf die Traditionslinie Bibel-Bebel beziehen zu können, will mit den als Reaktion auf die Verbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts proklamierten Menschenrechten brechen. Vielmehr hat sich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ja gezeigt, welche menschenfeindlichen Abgründe in Bibel & Bebel zu finden sind.

Genau um diese Diktion aber geht es Franz Müntefering. Wie uns ein MdB mitteilte, hat Franz Müntefering sich bereits am 27.5.2005 in dieser Form während eines ZDF-Interviews geäußert, Zitat: "Es gab einen ganz alten Spruch in der Sozialdemokratie: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". Das traut man sich heute gar nicht mehr zu sagen. Aber das war sozialdemokratisches Denken." (www.zdf.de) Welche rhetorische Platitüde bemüht er, wenn er meint, man traue sich das heute nicht mehr zu sagen, also sich scheinbar davon distanziert, um es dann endlich doch wieder auszusprechen, genau das, was spätestens durch die Nazi-Verbrechen delegitimiert wurde?

Der hier entscheidende Punkt im Sinne der Menschenrechte und des Grundgesetzes ist hingegen, daß es keine Zwangsarbeit mehr geben, daß nicht mit einem besonderen Übel eine Tätigkeit nötigend erpreßt werden darf, daß allein schon die Drohung mit einem besonderen Übel die Würde der Person antastet. Im Telefongespräch mit uns hat ein MdB behauptet, die Würde sei ja dadurch gewahrt, daß nach der Ablehnung von drei Arbeitsangeboten und dem Entzug der Sozialleistungen der Hungermord durch Sammelunterkünfte und Essensmarken vermieden würde. Wie können wir sicher sein, daß diese minimalen Überlebenshilfen tatsächlich geleistet werden? Ist die staatliche Fürsorgepflicht - als Gegenleistung für das staatliche Gewaltmonopol- auf kirchliche Suppenküchen und Obdachlosenasyle abgewälzt worden?

Im Übrigen kann mit Verweis auf Artikel 23 der UN Erklärung der Menschenrechte von 1948 nur von einem Recht auf Arbeit, jedoch von keiner Pflicht zu Arbeit die Rede sein, insbesondere nicht für die, die zu den angebotenen Bedingungen nicht arbeiten wollen.

Solange sich Sozialdemokratie immer noch als Vertreterin der Interessen der Lohn- und Gehaltsabhängigen versteht, seien sie eingestellt oder freigestellt, widersprechen wir unseren eigenen Grundsätzen, wenn wir, wie es durch die aktuelle Gesetzgebung verschärft geschieht, Arbeitslosen das Recht "Nein" zu sagen absprechen. So wird ein Zwangsregime der Arbeit organisiert. Mag es auch nur bei den Ärmsten exekutiert werden, so induziert es doch Druck in alle gesellschaftlichen Beziehungen. Eine solche Politik, die im akademischen Diskurs als "(Re-)Kommodifizierung" bezeichnet wird, ist nichts anderes als die Fortsetzung einer erfolglosen Politik eines "Genossen der Bosse", die 2005 abgewählt wurde. Die Rekommodifizierung der Arbeit ist nicht nur anti-emanzipatorisch, sie ist reaktionär. Sie macht tendenziell die ganze Gesellschaft zum offenen Strafvollzug (Zitat Götz W. Werner, DM-Drogeriemärkte, in: Stern 17/2006, S. 177).

Sozialdemokratische Politik kann nur das Gegenteil zum Ziel haben: Es muß die Möglichkeit gegeben sein, "Nein" zu sagen, eine verantwortliche Entscheidung treffen zu können, um als ziviler Mensch Persönlichkeitsrechte zu haben und nicht nur zum Befehlsempfänger degradiert zu werden. Und dies obwohl man keine Vermögenswerte hat, sondern lediglich seine Arbeitskraft verkaufen kann. Durch Dekommodifizierung, das heißt durch Entkoppelung von Arbeitsbereitschaft und Grundeinkommen, wird das Arbeitskräfteangebot auf dem Arbeitsmarkt verknappt und damit dem Lohndumping und der Ausweitung eines Niedriglohnsektors entgegengewirkt.

Wir freuen uns mit dem Mannesmann-Chef, Herrn Esser, 60 Millionen rechtmäßig dafür erhalten zu haben, daß er seine Vorstandsarbeit beenden konnte, aber selbstverständlich steht dann außer Frage, daß ein Überleben in Würde, wie es durch den Sozialhilfesatz gewährleistet sein müßte, ohne jede Diskriminierung denen garantiert wird, die nicht arbeiten wollen und sonst nichts haben. Eine sog. "Kürzung" der Hartz IV Leistungen auf Null - also deren Verweigerung - ist ein Verbrechen!

Die Behauptung, Solidarität sei keine Einbahnstraße, kann nur radikal ausgrenzend gemeint sein, wenn es gegen jene gewendet wird, die nichts außer ihrer Arbeitskraft verkaufen können. Mit dieser Parole werden sie zur Arbeit um jeden Preis genötigt. Ganz im Gegenteil dazu haben die Lohn- und Gehaltsabhängigen ein unmittelbar finanzielles Interesse an Transferleistungen an die "Faulen", weil sie nur unter dieser Prämisse selbst Entscheidungsspielräume gewinnen können.

Wir alle wissen, daß die Schikanen des "Forderns" - also der Repressionsapparat, um die Schikanen zu implementieren und zu überwachen - einerseits selbst hohe Kosten verursachen und andererseits die verständliche Gegenreaktion ausgelöst haben, die verschärften Vorschriften phantasievoll zu unterlaufen. Bei einer klugen Analyse wäre dieser finanzielle Mehraufwand vorhersehbar gewesen. So aber zeigt sich, daß er von vornherein billigend in Kauf genommen wurde, nur um die Peitsche zu zeigen und Druck auszuüben. Warum wird also jetzt noch weiter mit Frau Merkel & Co. am Schröderismus festgehalten? Warum klammert sich unsere Fraktion an eine Mehrheit rechts von der Mitte? Mit einer anderen Koalition gäbe es eine Mehrheit links von der Mitte, mit der wir sozialdemokratische Ziele, wie sie zuvor dargelegt wurden, durchsetzen könnten, eine Koalition aus der SPD mit Linkspartei und den Grünen.

Diese Wende zurück zu sozialdemokratischen Zielen in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ist von Oskar Lafontaine lange vor seinem Austritt aus der SPD angemahnt worden. Wir haben dargelegt, wie wir - sozialdemokratisch - mehr Freiheit buchstabieren. Jetzt gilt es daraus ein Projekt zu schmieden, das Projekt einer repressionsfreien Grundsicherung. Es ist nicht mehr und nicht weniger als das Projekt eines "Rechts auf Faulheit", das zwar einerseits zivilisatorisches Neuland ist, uns aber andererseits dem Reich der Freiheit jenseits des Reichs der Notwendigkeit näher bringt.

Bei der Linkspartei gibt es eine Strömung um MdB Katja Kipping, die dort in Abgrenzung zu den Traditionalisten und Kommunisten einen "emanzipatorischen Sozialismus" konzipiert. Aber sollten nicht WIR wieder die treibende Kraft für gewaltfreie gesellschaftliche Weiterentwicklung werden? In einer Koalition mit diesen neuen Linken stehen uns alle Chancen offen, sie zu verwirklichen.

Donnerstag, 06. Juli 2006

Kontakt:
Sylvia Zeller oder René Talbot.

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sopos 7/2006