Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Vor fünfzig JahrenJean Villain Der Schweizer Journalist Marcel Brun, den Hans Leonard, der damalige Herausgeber, im Jahre 1950 zur Weltbühne holte und der dann unter dem Pseudonym Jean Villain hauptsächlich Reportagen schrieb, arbeitet jetzt an seinen Memoiren. Wie er das Jahr 1956 erlebte (»Das infernalische Jahr«, wie er es nennt), schildert er in der hier beginnenden Ossietzky -Serie. Für die europäische Linke begann das Jahr verheißungsvoll. Auf der ersten Seite der Neujahrsnummer der Neuen Zürcher Zeitung las man, daß »das Gefühl einer akuten Bedrohung«, welches »zur Zeit des Koreakrieges sehr stark war«, spürbar im Schwinden sei. Man schaue heute in die Zukunft, ohne sich große Sorgen zu machen. Die Wahrscheinlichkeit eines Kriegsausbruchs sei wohl geringer geworden, seit die beiden Lager über nukleare Waffen verfügten und keine Partei mehr erwarten könne, mit diesen grausigen Mitteln einen künftigen Krieg zu ihren Gunsten zu wenden. Allerdings habe eben deshalb »die Gefahr einer ›kalten‹ Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft« zugenommen. Obschon sich die Schweiz »gegenüber der kommunistischen Lehre als unempfindlich erwiesen« habe, könne doch »übertriebene Sorglosigkeit zu überraschenden Einbrüchen führen«. Als einen solchen kommentierten die Redakteure der NZZ bereits in der folgenden Nummer ihres Blatts den Ausgang der Parlamentswahlen in Frankreich. Am 2. Januar 1956 hatten die Kommunisten mehr als 400.000 Stimmen hinzugewonnen, was ihre Fraktion zur stärksten im Palais Bourbon werden ließ. Grund genug auch für die Washington Post , »das demokratisch-republikanische Regime Frankreichs in Gefahr« zu sehen und den Atlantikpakt »entscheidend geschwächt« zu wähnen. Noch düsterer orakelte in der NZZ nur der konservative spanische Philosoph Salvador de Madariaga: Je enger die [kommunistische; J.V. ] Umklammerung der freien Welt werde, um so bedenklicher erschienen die Risse, die den Block der Verteidiger schwächten. Statt sich dem Kampf zwischen Kommunismus und Kultur zu widmen, der die bei weitem wichtigste Aufgabe unserer Zeit darstelle, verlören sich die Nationen des Westens in Kirchturmpolitik und ließen die Weltprobleme zum Spielball im Parteienkampf werden. Dabei habe Präsident Eisenhower doch erst vor kurzem wieder erklärt, »daß die Befreiung der osteuropäischen Völker eines der Ziele der amerikanischen Außenpolitik bleibe …« Dem bereits seit 14 Monaten tobenden Krieg in Algerien widmete das damals führende Qualitätsblatt Zürichs und der restlich-westlichen Welt dagegen noch immer nur gelegentlich ein paar unauffällige Zeilen, die obendrein zumeist am unteren Ende der Randspalten ihres politischen Teils versteckt waren. So, wenn »Terroranschläge der Aufständischen« zu vermelden waren oder wenn sich wieder einmal Massendesertionen von Fremdenlegionären ereignet hatten. Zu solchen kam es öfter, wenn französische Truppentransporter, beladen mit Söldnern, die von Vietnam nach Algerien versetzt werden sollten, den Suezkanal passierten. Weit größeren Raum widmete das Zürcher Weltblatt der um so rosigeren Wirtschaftsprognose für das neue Jahr. Selbst in den westeuropäischen Billiglohn-Ländern verknappten sich die Arbeitskräfte, die Löhne stiegen und mit ihnen die Nachfrage nach hochwertigen Konsumgütern, die deren Produzenten Rekordumsätze und dem Handel Umsatzsteigerungen wie noch nie bescherten. Zum Wochenende fuhren neuerdings so viele Schweizer wie nie zuvor, die Skier auf dem Wagendach, zum Wintersport ins Hochgebirge, und wer noch immer kein Auto vor dem Haus stehen hatte, riskierte der Nachbarn mitleidige Blicke und begann, sich als Außenseiter zu fühlen. Schon bald nach Neujahr wurde es freilich selbst den eifrigsten Wintersport-Begeisterten etwas gar zu winterlich. Das Thermometer fiel auf ungewohnte Minustemperaturen. Selbst der Zürichsee fror zu, zum ersten Mal seit 1929. Weit draußen auf dem von einer hohen Schneeschicht bedeckten Eis warteten die Enten, Bleßhühner und andere Wasservögel reglos und dick aufgeplustert bessere Zeiten ab. In Zürich wurden in der Nacht zum 22. Februar minus 14 Grad, in Basel minus 20 Grad gemessen, und am nächsten Morgen prophezeite der Wetterbericht für große Teile Mittel-, West- und Südeuropas weitere Kälterekorde. Ein paar Tage später erstarrte selbst der Rheinfall zum surrealen Monument, und der Eispanzer auf dem Zürichsee war dick genug, daß ihn ein paar Verrückte per Auto befahren konnten. Als Urheberin der ungewohnten Wetterlage wurde eine extreme Antizyklone ausgemacht, die bereits seit Wochen stabil über Nordwestsibirien lag und auch weiterhin keine Anstalten traf, sich zu verändern. Je länger aber die polare Kälte anhielt, desto mehr Strom verheizten die Schweizer, und desto schneller schwanden die Wasserreserven ihrer Stauseen, so daß das eidgenössische Amt für Elektrizitätswirtschaft die Verbraucher schließlich dringend ersuchte, ihren Energie-konsum doch wenigstens ein bißchen einzuschränken. Etwa zur selben Zeit begann im nicht minder winterlichen Moskau der XX. Parteitag der KPdSU, und mit ihm mehrten sich die Zeichen, die endlich so etwas wie ein poststalinistisches Tauwetter ankündigten. * Ich bereitete in jenen Tagen meine Spanienreise vor. Während der Genfer Gipfelkonferenz von 1955 hatte mir Hans Leonard vorgeschlagen, meiner ab September 1954 in der Weltbühne erschienenen Frankreich-Reportagenserie eine über das innenpolitisch zusehends unruhiger werdende Spanien des alternden Caudillo Franco folgen zu lassen. Auf einer ersten, im Sommer 1955 unternommenen kurzen Erkundungsreise hatte ich mich in den Universitätsbuchhandlungen Barcelonas und Madrids mit rund 20 Kilo aktuellen Dokumentationsmaterials eingedeckt, eine der führenden Zeitungen des Landes abonniert und mir den neuesten Spanisch-Schallplatten-Kurs von Berlitz besorgt. Monatelang paukte ich täglich Vokabeln, übte mich im Entziffern spanischer Leitartikel und Wirtschaftsnachrichten, fragte Schweizer Freunde aus, die während des Bürgerkrieges als Interbrigadisten gegen Franco und die zu seiner Unterstützung von Mussolini und Hitler nach Spanien entsandten Truppen gekämpft hatten, merkte mir die Namen und Adressen der von ihnen genannten potentiellen Gesprächs- und Interviewpartner und machte mich endlich, der heimatlichen Eiseskälte gründlich überdrüssig, auf den Weg. Die Grenze passierte ich im französisch-spanischen Koprinzipat Andorra auf einer »Carretera«, die, über weite Strecken nur im zweiten Gang befahrbar, tatsächlich eine solche war. Im altrömischen Sinn des Wortes taugte sie vielleicht für Ochsenkarren, nicht jedoch für Autos. Statt, wie geplant, die Hauptstadt Kataloniens noch am selben Tag zu erreichen, kam ich nur bis Manresa. Dort spielte sich vor dem Gasthof, in dem ich übernachten wollte, zum ersten Mal jene Szene ab, die ich fortan jeden Tag erlebte, egal, in welcher Stadt ich in meinen Wagen parkte. Noch ehe ich die Handbremse angezogen hatte, umringte mich schon eine Horde kleiner Bettler. Sie schrien so laut sie konnten, versuchten, ihre krätzigen, verlausten Köpfe, ihre kleinen Hände durchs offene Fenster zu strecken, und belagerten mich solange, bis ein jeder von ihnen wenigstens eine Pesete abbekommen hatte. Ein weiteres Erinnerungsbild, das sich auf meinen »Carretera«-Fahrten kreuz und quer durch Spanien fest in mein Gedächtnis einbrannte, sind die Kolonnen hagerer Männer jeden Alters, die in praller Sonne von Bomben und Panzerketten herrührende Straßenschäden reparierten. Alle trugen sie dieselbe grell eingefärbte uniforme Kleidung. Fuhr ich vorschriftsmäßig langsam an einem dieser Trupps vorbei, ließen sie ihre Werkzeug für Sekunden ruhen und machten einander mit Handzeichen auf mein ihnen sichtlich noch ungewohntes schweizerisches Nummernschild aufmerksam, und einige winkten mir zu. Seltsam diskret, als wären sie darum bemüht, dabei nicht aufzufallen. Natürlich winkte ich zurück, beim ersten Mal noch ahnungslos. Ein paar Meter weiter hatte ich begriffen. Hinter der nächsten Kurve standen, den steifen schwarzen Papphut auf dem Kopf, die Maschinenpistole lässig im Anschlag, ein halbes Dutzend Zivilgardisten. Die meinen Gruß so verhalten quittiert hatten, waren »Galeerensträflinge«. Obschon es bereits seit Jahrhunderten keine Kriegsgaleeren mehr gab und somit auch keine an ihre Bänke geketteten Rudersklaven mehr, wurden zu Zwangsarbeit verurteilte Strafgefangene umgangssprachlich noch immer als solche bezeichnet... Das Wahrzeichen Francospaniens war das Falange-Emblem, fünf gebündelt zur Erde züngelnde Blitze, mit dem Motto »Todo por la patria«. Es war nahezu allgegenwärtig. In den Städten prangte es nicht selten über den Portalen repräsentativer Neubauten, in Dörfern über der Amtstür des Alcalde, vor der, auf seinem Stuhl, seine Uralt-Flinte auf den Knien, ein nicht besonders überzeugend wirkender Wächter döste. Ausgeborgt hatte sich die Regierungspartei das Symbol des Himmelsfeuerschleuderers von Kaiser Karl V., in dessen Weltreich die Sonne nie unterging. In seinem Bündel steckten allerdings noch zwei Blitze mehr, und sein Motto lautete »Per aspera ad astra!« So informativ derlei Beobachtungen auch immer sein mochten, für eine Reportagenserie reichten sie nicht aus. Hinzu kam, daß die mir von Schweizer Freunden genannten Ansprechpartner unauffindbar blieben. Ihre einstigen Nachbarn beantworteten meine Erkundigungen nach deren Verbleib, wenn überhaupt, monoton und leise mit einem gemurmelten »Verzogen, unbekannt wohin« und behielten dabei die Tür, hinter der jetzt andere Leute wohnten, mit scheuem Blick im Auge. Nicht viel mehr Erfolg war meinen Versuchen beschieden, Kontakt zu Mitgliedern der verbotenen Linksparteien zu finden. Dagegen war es in den Dörfern und Städten überhaupt nicht schwierig, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Sobald sie sicher waren, daß ich einfach nur von ihnen wissen wollte, wie sie lebten, begannen sie zu erzählen, auch die, welche mit den verfolgten politischen Parteien sympathisierten. Und wenn sie merkten, daß ich mich für ihre zumeist spannenden Geschichten wirklich interessierte, geschah es, daß sie mich zu sich einluden. Sie tischten Wein, Fladenbrot und Käse auf und erzählten bis tief in die Nächte hinein von ihrem schwierigen spanischen Alltag, von ihren phantasiereichen Strategien, ihn trotz allem Ungemach zu meistern, von dem, was sie liebten, was sie haßten, von ihren Hoffnungen und Nöten. So kam nach und nach doch eine Reportagenserie zustande, dank der Freundlichkeit und Offenherzigkeit Dutzender von Zufallsbekannten, die mir Einblicke in das Elend der Proletarierviertel der Industriestädte ermöglichten; die mich durch die abenteuerlichen Gebrauchtwarenmärkte der Ärmsten der Armen führten; die mich in einem abgelegenen, mehrheitlich von Anarchisten bewohnten Dorf in ihren unterirdischen Cuevas rührend bewirteten und noch immer auf Bakunin schworen; die mir die faszinierende arabische Vergangenheit der »Gärten« von Valencia und ihrer gastronomischen Hochkultur verständlich machten; die mir die richtigen Tips zur Erschließung weiterer wichtiger Informationsquellen gaben und die mich – dies vor allem! – ihr unverwechselbares Alltagsspanien der sogenannten kleinen Leute von Herzen lieben lehrten. * Doch selbst unter Spaniens Frühlingssonne wurde ich immer wieder mit der großen Kältewelle des vergangenen Winters konfrontiert. Spaniens gesamte Zitrusernte lag erfroren unter den Bäumen. Frostschäden, wohin man blickte, der Export von Früchten und Gemüsen tendierte gegen null. Schlug ich eine Zeitung auf, las ich, daß in Asturien, im Baskenland und anderswo in höheren Lagen Hunderte von Dörfern des enormen Schneefalls wegen schon seit Wochen unerreichbar seien und ihre Bewohner Hunger litten. Es drohte eine nationale Katastrophe. Nur über deren Ausmaß und die Größenordnung der Verluste schwieg sich das Madrider Ministerium für Information derart beharrlich aus, als handle es sich um Staatsgeheimnisse. Um so eifriger hielt man Ausschau nach Sündenböcken, denen man die Kälteschäden anlasten konnte. Als erste wurde Vanguardia , die größte Tageszeitung Kataloniens, fündig. Unter dem Titel »Frio Siberiano« orakelte ihr Leitartikler am 17. Februar 1956: »... Ich hege den Verdacht, daß an der Kältewelle, welche dies Jahr Westeuropa geißelt, der Kommunismus schuld ist. ... Hier die Gründe, welche mich zu meiner Vermutung führten: Alle meteorologischen Dienste stimmen darin überein, daß die Kältewelle aus Sibirien stammt. Dies für sich wäre zwar noch nicht außergewöhnlich, denn die nordischen Regionen sind nun eben mal kalt, ohne daß die Kommunisten etwas dafür können. Es fragt sich nun nur, ob die Kommunisten nicht am Ende eine gewaltige Anstrengung unternommen hätten, um die nordische Kälte über Sibirien loszuwerden und sie uns zu schicken ... Bestimmt wird Ihnen diese Hypothese infantil vorkommen. Doch bitte keine über-eilten Urteile ... Welch machiavellistische und gigantische Pläne kann der Kreml mit den sibirischen Winden im Schilde führen? Falls Sie nicht sehr gut informiert sind, könnte Ihnen scheinen, gar keine, doch seit zwei Jahren wissen wir, daß er eben doch welche im Schilde führt. Der Ingenieur Davidow entwickelte sie als erster im Jahre 1953, die russische Regierung nahm sie an und mit ihrer Verwirklichung wurde im Jahr 1954 begonnen. Der Plan von Davidow sah die Schaffung zweier künstlicher Meere im Innern Sibiriens vor ... was voraussetzte, daß man zuerst einmal einen großen Teil der gewaltigen Gletscher des Nordpols zerstörte, jener Gletscher, die für die sibirische Kälte verantwortlich sind ... Und tatsächlich wissen wir, daß im vergangenen Jahr damit begonnen wurde, mittels Atombomben die Eismassen des Nordpols wegzuschmelzen ... Diese Arbeiten wurden im Laufe dieses Winters fortgesetzt ... Auf jeden Fall finde ich es durchaus nicht unlogisch, anzunehmen, daß die Russen mit ihrer künstlichen Eisschmelze die Härte unseres diesjährigen Klimas bewirkt haben ...« Ungefähr im selben Stil berichteten die Medien Franco-Spaniens über den XX. Parteitag der KPdSU und die dort von Chruschtschow am 25. Februar, dem letzten Tag der Beratungen, gehaltene »Geheimrede«. Meine beharrlichen Versuche, in Algeciras, im fernen Galicia, in Madrid, im Baskenland oder wohin mich meine Recherchen sonst noch führten, Genaueres über sie zu erfahren, scheiterten an meinem Autoradio. Um brauchbare Nachrichtensendungen sowjetischer, französischer, englischer oder schweizerischer Sender zu empfangen, war es zu schwach. So erfuhr ich erst nach meiner Rückkehr in die Schweiz, Anfang Juni, worum es im Februar in Moskau tatsächlich gegangen war. * In jenen Jahren schenkte Spaniens nationale Presse der blutigen Welt des Stierkampfs mindestens so viel Beachtung wie der nicht minder blutigen internationalen Politik. Grund genug, mich auch mit Spaniens Bullen, ihrem Dasein, ihren Lieferanten und ihrer Höllenfahrt in die Arena zu befassen. Als neugieriger Schweizer mit feudalen Großgrundbesitzern, die von der Aufzucht dieser Tiere lebten, ins Gespräch zu kommen, war nicht allzu schwer, und ebenso wenig, zu einer Besichtigung ihrer Güter eingeladen zu werden. Als um so schwieriger und mühsamer dagegen erwies sich die Erkundung der Kampfstier-Paradiese in den unermeßlichen Weiten Andalusiens, denn die war nur auf Pferden möglich. Meine Beziehungen zu solchen hatten sich zuvor darauf beschränkt, dem einen oder anderen gelegentlich ein Zückerchen zu verfüttern. Geführt vom kerzengerade auf seinem Gaul sitzenden »capataz«, dem Vertrauensmann des Haziendero, trabte ich, krumm und schief auf meinem Sattel balancierend, tagelang durch monotones Grasland, doch so weit wir auch herumkamen, stets sorgte mein Begleiter gewissenhaft für ein paar hundert Meter Abstand zwischen uns und den weidenden Edel-Jungstierherden. Galt es doch, der gehörnten Jeunesse dorée Spaniens nicht nur den Umgang, sondern möglichst auch den Anblick menschlicher Wesen bis ins Erwachsenenalter hinein zu ersparen. Als Kampfstiere, erfuhr ich, seien sie nur dann brauchbar, wenn sie völlig ungestört und natürlich in Gottes freier Natur aufwüchsen; keines der Tiere dürfe vorzeitige Bekanntschaft mit den Menschen machen. Selbst ihre späteren Käufer müßten sich damit begnügen, sie aus angemessener Distanz per Fernglas zu begutachten. Erst wenn der Handel durch Handschlag besiegelt sei, trieben die Knechte des Züchters dann ein paar an Menschen gewöhnte Ochsen ins Gehege. Obschon deren Hörner gemeinhin länger seien als die der normalen Jungstiere aus gutem Stall und obwohl sie ganz anders röchen und ihnen außerdem auch jenes Etwas fehle, das zwischen den Hinterbeinen ernstzunehmender Bullen baumele, nähmen die Jungstiere die eunuchischen Ochsen dennoch gern als Spielgefährten an – nicht ahnend, daß ihnen die nur beigesellt worden sind, um sie ans Messer zu liefern, genauer gesagt: an den Degen des Matador! Auf einen bestimmten Pfiff des »capazaz« setzen sich dessen willige vierbeinige Agenten stumpf und langsam in Bewegung und trotten brav in einen beidseits von hohen Bretterwänden abgesperrten Korridor. Die Jungstiere ihren neuen Freunden hinterher. Bis knapp vor ihrer Nase eine Wand aus Blech herniederfällt und eine zweite hinter ihnen. Und schon setzt sich das Gefängnis ratternd in Bewegung, fährt die blutjungen, glänzendschwarzen, kerngesunden, dummen, stolzen, ahnungslosen Prachtbullen, die bis dahin nur die Freiheit der leeren Steppe und nichts anderes kannten, zur Stätte ihrer öffentlichen Hinrichtung. * Dem Rat eines gastfreundlichen Anarchisten folgend, besichtigte ich ein paar Tage später den Escorial. Der Weg dorthin führte mich an einem riesigen Bauplatz vorbei. Zum ewigen Gedenken an Francos Sieg über Spaniens Republik und ihre demokratische Ordnung wuchs dort, inmitten einer kargen Felslandschaft, ein gigantisches Monument empor. Eine Art Nekropolis, überragt von einem hundertfünfzig Meter hohen Kreuz aus Granit. Noch hatte es seine volle Höhe nicht erreicht, doch schon dominierte es das über 120 Hektar umfassende Gelände und weit darüber hinaus die granitene Einöde. Auch an der unterirdischen Basilika, die sich der Diktator als künftiges Grabmal gewünscht hatte, wurde noch gemeißelt und gesprengt und ebenso an den Sammelgrüften, in denen die Gebeine ausgewählter Bürgerkriegstoter unter der Inschrift »Gefallen für Gott und Spanien« ruhen sollten. Gleichfalls bereits beschlossen war der Name des monströsen Denkmals: »Val de los Caidos«, »Tal der Gefallenen«, sollte es dereinst heißen. Auf dem Bauplatz schufteten fast nur Zwangsarbeiter: antifrancistische Bürgerkriegsgefangene, einstige Funktionäre des republikanischen Staatsapparats, republikanische Politiker. ( Wird fortgesetzt )
Erschienen in Ossietzky 13/2006 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |