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Begründet wurde diese Ausnahme mit dem eigenartigen Argument, daß durch Kriegsverrat deutsche Soldaten ihr Leben hätten verlieren können – die Ministerin sprach von »nicht ausschließbarer Lebensgefährdung« als möglicher Folge von Kriegsverrat. Wahr ist das Gegenteil: Millionen Zivilisten, KZ-Häftlinge und auch Soldaten hätten nicht mehr zu sterben brauchen, wenn mehr Wehrmachtsangehörige den schändlichen, ganz und gar verbrecherischen Krieg verraten hätten. Nur solange sie die Fronten verteidigten, konnte hinter den Fronten in den Konzentrationslagern gemordet werden. Und ihre Treue zur Führung bewirkte auch, daß mehr und mehr deutsche Städte bombardiert wurden. Der Bundestag stellte die mögliche Lebensgefährdung deutscher Soldaten noch rückwirkend über den realen Tod von vielen Millionen Opfern des deutschen Vernichtungskrieges (allein in der Sowjetunion waren es am Ende 27 Millionen, zumeist Zivilisten) – obwohl Jahrzehnte nach dem Krieg niemand mehr ernsthaft bestreiten kann, was spätestens nach der Schlacht um Stalingrad denkenden, unverblendeten Menschen klar geworden war: daß Deutschland den Krieg nicht gewinnen konnte und ihn nach all den Verbrechen auch nicht gewinnen durfte, daß also Vernunft und Moral geboten, ihn schnellstens zu beenden. Die deutsche Wehrmacht setzte ihn aber fort und befolgte zum Beispiel in Weißrußland den massenmörderischen Befehl, beim Rückzug nur »verbrannte Erde« zu hinterlassen, wodurch dort an die tausend Dörfer mitsamt ihrer Bevölkerung vernichtet wurden. Ludwig Baumann: »Die Soldaten, die nicht mehr mitmorden konnten und wollten, wurden wegen Desertion, Feigheit und – falls sie die Zivilbevölkerung warnten – auch wegen Kriegsverrats bestraft. Die aber mitmordeten, wurden nicht bestraft – auch nicht nach 1945.« Kriegsverrat, ein nach Baumanns Kenntnis allemal politisch-moralisch begründetes »Verbrechen«, war im nazideutschen Militärstrafrecht der einzige Straftatbestand, der grundsätzlich mit der Todesstrafe geahndet wurde. Der Freiburger Militärhistoriker Professor Wolfram Wette – Ossietzky -Leser kennen ihn aus gelegentlichen Beiträgen – erforscht gegenwärtig dieses Kapitel der Militärjustizgeschichte. Aus seiner Fallsammlung stammen folgende Beispiele: Ein deutscher Soldat versuchte im Mai 1944 in Ungarn, 13 Juden zu retten. Er wollte sie mit einem Wehrmachtslastwagen nach Rumänien bringen. Bei einer Grenzkontrolle wurden die zwischen Fässern versteckten Juden entdeckt. Der Soldat wurde vor ein Feldkriegsgericht gestellt und wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt. Das Reichskriegsgericht in Torgau an der Elbe verurteilte im Juli 1944 den Soldaten Adolf Hermann Pogede, der bis 1933 für die KPD der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Wedding angehört hatte, wegen Kriegsverrats und verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen zum Tode. Zu sowjetischen Kriegsgefangenen soll er gesagt haben, Hitler führe Deutschland in den Abgrund, aber die Rote Armee werde bald in Berlin einmarschieren. Die Kriegsrichter befanden, er habe aus staatsfeindlicher Gesinnung den Widerstandswillen der Kriegsgefangenen gestärkt und bei ihnen Hoffnungen auf einen Sieg der Alliierten geweckt. Der Stabsgefreite Josef Salz wurde im Februar 1944 in Stettin wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt und am selben Tage erschossen. General Hoernlein gab wenige Tage später im Verordnungsblatt des II. Armeekorps die Gründe bekannt, versehen mit der Warnung: »So ergeht es jedem, der dem Führer die Treue bricht! Wer durch Feigheit sein Leben erhalten will, stirbt den Verbrechertod!« Das todeswürdige Verbrechen des Stabsgefreiten Salz bestand in einem selbstgeschriebenen Tagebuch, »in dem er sich als Freund der Juden und Bolschewisten ausgab und das deutsche Volk, seine Führung und Wehrmacht in übler Weise schmähte und verleumdete. Er hat dadurch seine Kampfbereitschaft geschwächt und es gleichzeitig unternommen, dem Feind billiges Propagandamaterial in die Hände zu spielen.« Salz hatte jedoch gar keine Verbindung zum »Feind«. Deswegen unterstellte das Gericht, er habe damit gerechnet, »in die Gefangenschaft der Bolschewisten zu geraten«. Weil er von diesen nicht erschossen werden wollte, habe er das Tagebuch geführt. In einer Einheit an der Ostfront wurde als Reaktion auf ungerechte Behandlung durch einen Vorgesetzten ein Soldatenrat gebildet. Der Gefreite Johann Lukaschitz erfuhr davon. Das Reichskriegsgericht fand ihn der Nichtanzeige eines geplanten Hoch- und Kriegsverrats sowie der Zersetzung der Wehrkraft für schuldig und verurteilte ihn zusammen mit elf anderen Angeklagten zum Tode. Alle wurden gehenkt oder geköpft. »Kriegsverräter« waren für die NS-Militärjustiz auch Harro Schulze-Boysen, führender Kopf einer der bedeutendsten Gruppen des deutschen Widerstands (von der Gestapo »Rote Kapelle« genannt), und der in Abwesenheit verurteilte General Walther von Seydlitz-Kurzbach, der nach Stalingrad in sowjetischer Kriegsgefangenschaft dem Nationalkomitee Freies Deutschland beigetreten war, um zum Sturz des Hitler-Regimes beizutragen. Der Major Theodor Steltzer, der im besetzten Norwegen kriegswichtige Informationen weitergegeben und damit den dortigen Widerstand unterstützt hatte, überlebte das Todesurteil und den Krieg; später wurde er erster Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Nach Ihrer Meinung, Frau Bundesjustizministerin, muß auch er posthum verurteilt bleiben, denn »der in Fällen des Kriegsverrats möglicherweise gegebene Unrechtsgehalt (nicht ausschließbare Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten)«, so schreiben Sie an Ludwig Baumann, sei dem Bundestag »äußerst hoch« erschienen, und Sie bescheinigen dem Parlament, »gut und sachgerecht« entschieden zu haben, so daß es keinen Anlaß zur Änderung des vor vier Jahren erlassenen Gesetzes gebe. Äußerst hoher Unrechtsgehalt – das heißt: Diejenigen, die damals am einsichtigsten, humansten und mutigsten gehandelt haben, sind und bleiben für die Bundesrepublik Deutschland die größten Verbrecher. Ein kleines Entgegenkommen ist in dem Brief der Ministerin angedeutet: Die Hinterbliebenen dürfen an die zuständige Staatsanwaltschaft einen Antrag richten, doch bitte gnädig festzustellen, daß die Urteile »unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen oder weltanschaulichen Gründen ergangen« seien. Dazu sei dann, erläuterte Zypries, »eine einzelfallbezogene Prüfung erforderlich«. Baumann antwortete der obersten Rechtsdienerin der Republik sogleich, was er von diesem Entgegenkommen hält: Auch die Wehrmachtsdeserteure, denen der Bundestag im Mai 2002, 57 Jahre nach Ende des Naziregimes, als nur noch wenige von ihnen lebten, endlich die Ungültigkeit der gegen sie verhängten Urteile bescheinigte, hätten vorher, um vielleicht die Aufhebung der Urteile zu erreichen, der Staatsanwaltschaft zwecks Einzelfallprüfung nachweisen dürfen, daß ihre Verurteilung ein Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit war. »Keiner von uns«, so Baumann, »hat sich diese Entwürdigung angetan.« * Inzwischen hat die Stiftung Sächsische Gedenkstätten (s. Ossietzky 8/06, Seite 292 ff.) gegen den Widerstand der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz ein Konzept für die Gedenkstätte Torgau beschlossen, das die Geschichte verdreht und die Opfer beleidigt, indem es die nach dem Krieg dort inhaftierten Täter, darunter 25 Kriegsrichter, zu Opfern macht. Die Stiftung mißachtete damit auch den Sachverstand des Nestors der deutschen Militärgeschichtsschreibung, Professor Manfred Messerschmidt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte zusammen mit der Bundesvereinigung und den anderen Verbänden von NS-Opfern schon 2004 die Stiftung wegen deren reaktionärer Tendenz verlassen, der Arbeitskreis Deutscher KZ-Gedenkstätten und das Internationale Gedenkstätten-Komitee verurteilten die sächsische Gedenkstättenpolitik, besonders in Bezug auf Torgau. Baumann, der selber in Torgau gelitten hat, sagt zu dem beschlossenen Konzept – und damit soll er hier das letzte Wort haben: »Viele der Kriegsrichter, Gestapo- und SD-Schergen, die uns Deserteure und vor allem die ›Kriegsverräter‹ im NS-Deutschland und allen besetzten Ländern verfolgten, folterten und ermordeten, waren nach 1945 im Torgauer Fort Zinna inhaftiert. Ohne Erwähnung dieser Täter und ihrer Verbrechen ist für uns Opfer eine gemeinsame Gedenkstätte unzumutbar. Sie wäre für uns ein Schandmal, das die letzten noch lebenden Opfer hindern würde, den Ort der Verfolgung je wieder zu betreten; sie kann nur gegen unseren Widerstand errichtet werden.«
Erschienen in Ossietzky 12/2006 |
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