Zur normalen Fassung

Diesseits des Caudillos

Durch Chávez hat der bolivarianische Prozeß einen autoritären Charakter

von Wolf-Dieter Vogel

Ein Ausrutscher war es kaum, als Hugo Chávez Ende Februar zur US-amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice sagte: "Leg dich nicht mit mir an, Mädchen." Im Gegenteil, der venezolanische Staatschef weiß ganz genau, was seine Anhänger dies- und jenseits der Landesgrenzen hören wollen. Und Schelte gegen die "Gringos" kommt immer gut an, selbst wenn sich der Caudillo nicht einmal mehr bemüht, das niedrige Niveau seiner Gegner zu überbieten. Rice hatte sich zuvor für eine "vereinte internationale Front" gegen Chávez stark gemacht, ihr Kollege Donald Rumsfeld verglich ihn mit Hitler.

Chávez könnte keine besseren Kontrahenten haben, denn die USA bieten ihm doppelte Unterstützung: einerseits liefern republikanische Hardliner regelmäßig Vorwände, die noch die dümmste Beschimpfung des "imperialistischen Feindes" zu legitimieren scheinen. Andererseits sind die USA nach wie vor ein wichtiger Handelspartner Venezuelas. Der venezolanische Staatschef weiß beide Seiten dieser eigenartigen Nord-Süd-Beziehung für sich zu nutzen.

Die Einnahmen aus dem Erdölexport garantieren, daß die Sozialprogramme der bolivarianischen Revolution finanziert werden können. Ein Projekt wie Petrocaribe (eine von Venezuela lancierte Erdölallianz karibischer Staaten) spielt zwar politisches Kapital im Sinne lateinamerikanischer Integration ein, kaum aber handfeste Dollar. Kurzfristig zahlen sich die günstigen Lieferungen des braunen Goldes an die Karibik-Staaten jedenfalls nicht aus. Auch die geplante gemeinsame Gaspipeline mit Argentinien, Brasilien und eventuell Bolivien muß erst noch gebaut werden. Der Erdölhandel mit dem ungeliebten Norden bleibt also wichtig. Daß Venezuela den USA den Ölhahn zudreht, wie Chávez jüngst ankündigte, ist kaum anzunehmen. Solange keine anderen Partner die US-Käufer ersetzen, würde eine solche Maßnahme den Staat innenpolitisch in die Bredouille bringen.

"Das Geschäft zwischen dem Wirtschaftsministerium und den USA entwickelt sich in einer beachtlichen Dynamik. Wir sind einer der drei größten Erdöllieferanten der Nordamerikaner, und zugleich einer der wichtigsten Importeure nordamerikanischer Waren", sagt Teodoro Petkoff, ein profilierter Gegenspieler von Chávez. Einst Parteigründer der oppositionellen "Bewegung zum Sozialismus" (MAS), liebäugelt er derzeit damit, bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2006 gegen Chávez zu kandidieren. Den Schlagabtausch zwischen dem Staatschef und der US-Regierung von George W. Bush hält er für "puren Diskurs, sonst nichts. Sowohl von Seiten der Gringos als auch von Chávez."

Abgrenzung zu den Gringos

Außer Zweifel steht, daß "die Gringos" nicht nur auf diskursiver Ebene gegen die venezolanische Regierung vorgehen. Rund 20 Millionen Dollar haben der US-amerikanische Nationale Fonds für Demokratie und die Agentur für internationale Entwicklung an die Organisation Sumate gezahlt, die Unterschriften für das Referendum gegen Chávez vom August 2004 sammelte. Auch der Putsch im Jahr 2002 wird nicht ohne Wissen der US-Regierung geplant worden sein. Mit der vermeintlich bevorstehenden US-Intervention, die Chávez regelmäßig beschwört, hat dies jedoch wenig zu tun. Zwar kann tatsächlich "kaum etwas gefährlicher sein als ein wankender Riese", wie der venezolanische Vizepräsident und Außenminister Vicente Rangel in einem Interview in der Wochenzeitung Freitag mit Blick auf die US-Regierung sagte. Doch auch er weiß: "Die USA haben im Irak genug Schwierigkeiten, um sich neue, vielleicht noch größere aufzuhalsen." Tatsächlich würde ein Angriff auf Venezuela bis in lateinamerikanische Regierungskreise als Aggression gegen den gesamten Subkontinent wahrgenommen und folglich einen Konflikt provozieren, der die Ausmaße der US-Nahost-Politik noch weit überstiege. Kaum ein ernstzunehmender Analytiker rechnet derzeit damit.

Daß die US-Regierung dennoch versucht, den Venezolanern Grenzen zu setzen, ist naheliegend. Für viele Linke Lateinamerikas ist der bolivarianische Prozess zur politischen Orientierung geworden. Chávez kämpft bei den linken Regierungen des Subkontinents für eine klarere Abgrenzung zur US-Freihandelspolitik, die insbesondere bei den brasilianischen, argentinischen oder uruguayischen Kollegen bislang noch schwach ausgeprägt ist. Wenig Freude bereiten Washington auch seine enge Beziehungen zu Kuba und seine Annäherung an die "Achse des Bösen". Immerhin schätzt Chávez den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad nicht nur als Geschäftspartner, sondern auch als engen Verbündeten im "Kampf gegen den Imperialismus, den Kolonialismus, das Lakaientum und die Nachgiebigkeit". Als im letzten Jahr Ahmadinedschads Vorgänger, Mohamed Khatami, in Caracas zu Besuch war, hob Chávez gegenüber dem "Bruder" die gemeinsamen "antiimperialistischen und revolutionären" Tugenden hervor: Wenn auch mit je eigenen Wurzeln, so seien die iranische und die venezolanische Revolution doch die gleiche Sache.

Demnächst wird man auch die palästinensische Hamas empfangen. "Wenn sie kommen, wird es uns eine Freude sein", erklärte Außenminister Rangel, der zu den alten Linken in der Regierung zählt. Von einer Kritik am Terrorismus der Hamas war nichts zu hören. Auch die frauenfeindliche und klerikalfaschistische Politik der iranischen Regierung nimmt man im Rahmen der "Völkerfreundschaft" gern hin. Schließlich hilft der Bezug auf den gemeinsamen Feind USA, die eigenen Reihen zusammenzuschweißen und das in großen Teilen der Linken beliebte manichäische Weltbild des Antiimperialismus aufrecht zu erhalten.

Etwa beim Weltsozialforum (WSF), das Ende Januar in Caracas stattfand. Im dortigen Sportstadion sprach Chávez über die Geschichte des Imperialismus und die Zukunft der antiimperialistischen Bewegung. Die Zuschreibungen ließen keine Zweifel aufkommen: hier wir, wahlweise das lateinamerikanische oder irakische Volk, der antikoloniale Befreiungsheld Simón Bolívar und sogar Jesus Christus, dort sie, also in erster Linie "Mister Danger", der "größte Terrorist der Welt", sprich Bush. Auch das Loblieb auf die "kontinentale antiimperialistische Front" lateinamerikanischer Regierungen durfte nicht fehlen, obwohl die Einheit gegen den Norden eher auf schwachen Beinen steht. Brasiliens Staatschef Luis Ignacio "Lula" da Silva jedenfalls hält sich auf Distanz zu Kuba, zudem hat das Land bei der unter Linken heftig kritisierten UNO-Intervention in Haiti eine führende Rolle übernommen. Und Uruguays Staatschef Tabaré Vasquez meidet engen Kontakt zu Chávez.

Ein differenzierter Blick ist bei Propagandaveranstaltungen wie der im Sportstadion Poliedro aber ohnehin nicht gefragt. Dort bemühte man sich, dem Publikum einzuheizen: Indígenas sprachen auf der Bühne über Armut, während vier Großbildschirme hungernde Kinder zeigten. Plötzlich dröhnte eine Sirene durchs Stadion, dann das Knattern von Maschinengewehren. Auf den Monitoren erschienen Transparente gegen Bush, bevor eine Salsa-Band den bolivarianischen Dauerhit spielte: "Uh, ah, Chávez no se va!" (Chávez wird nicht gehen). Mehrere Tausend Menschen mit roten Mützen, die auf ihre Mitgliedschaft in bolivarianischen und kubanische Organisationen hinwiesen, standen auf den Stühlen und tobten: "Uh, ah, Chávez no se va!" Und: "Das Volk liebt dich unendlich."

Von oben nach unten

Ein Führer, der sein Volk mit massenpsychologischen Redetechniken und einfachen Weltbildern von ganz oben direkt anspricht, ein Agitator, der seine Anhänger mit fragwürdigen Bedrohungsszenarien mobilisiert, ein Antiimperialist, dem im Kampf für nationale Selbstbestimmung Bündnisse mit radikalen Islamisten mehr zählen als die ureigensten Ziele emanzipatorischer Bewegungen - auch das ist die bolivarianische Revolution. Zweifellos haben die Befürworter des "Prozesses" Recht, wenn sie sagen, daß die bolivarianischen Errungenschaften nicht an der Person Chávez gemessen werden dürfen. Daß die Regierung sich bemüht, den gesellschaftlichen Reichtum des Landes gleichberechtigter zu verteilen, hat zu verteidigenswerten Ergebnissen geführt: zu Bildungsprojekten, Gesundheitsstationen, Kooperativen, Basismedienprojekten und zu einer Verfassung, die Elemente einer partizipativen Demokratie festschreibt.

Dennoch ist es naiv, die bolivarianische Bewegung von ihrem wichtigsten Protagonisten trennen zu wollen. Angesichts schwacher Basisbewegungen war es die chavistische Regierung, die wichtige Impulse für eine Organisierung von unten gab. Es ist der Militär Chávez und dessen politische Funktion, die ständig im Zentrum der Auseinandersetzung stehen, und es ist dieser Mann mit soldatischer Schulung, der im Staatsapparat nach Gutdünken waltet. Er macht das im Interesse einer Bewegung, die sich möglichst außerhalb des staatlichen Gefüges organisiert. Das macht ihn zum "Verteidiger" dieser Revolution gegen die korrupten Mächte in den Institutionen. Schließlich setzen radikale Chavisten darauf, diesen Apparat zu zerschlagen und durch ein Netz alternativer Strukturen zu ersetzen. "Die repräsentative Demokratie war immer eine der Eliten, wir glauben deshalb an die Demokratie der Bevölkerung, die partizipative Demokratie", erklärt Chávez selbst.

Ist es dieses zweifellos interessante Projekt, das weltweit Linke aller Couleur nachsichtig werden läßt, wo man anderswo "diktatorische Maßnahmen" oder "Repression" angeprangert hätte? Nicht nur radikale Antichavisten verweisen darauf, daß Menschen, die sich mit ihrer Unterschrift für das Referendum gegen Chávez eingesetzt hatten, keine Arbeit mehr bei staatlichen Unternehmen bekommen oder gekündigt wurden. Auch besteht kein Zweifel daran, daß Chávez zentrale Posten mit ihm genehmen Personen besetzt. Im Oktober 2004 bestimmte er persönlich die Kandidaten, mehrheitlich Offiziere, für die knapp zwei Dutzend Ämter der Gouverneurswahlen.

Das dennoch vertrauensvolle Verhältnis vieler Venezolaner drückt sich in alltäglichen Symbolen aus: der Vater Chávez, der auf einer Promotion-CD der Regierung freundlich von kleinen Kinder bestaunt wird, der Soldat Chávez, der mit roter Armeekappe auf T-Shirts oder als Barbiepuppe verkauft wird, der freundschaftliche Berater Chávez, der jeden Sonntag in seinem Fernsehprogramm "Aló Presidente" über die brennenden Fragen der Zeit aufklärt. Probleme werden direkt geregelt: von oben nach unten, im "Zwiegespräch" zwischen Chávez und dem Volk. Wer will, kann anrufen und Fragen stellen oder seine Meinung sagen.

Diese Herrschaft auf der Grundlage einer autoritär-paternalistischen Beziehung, untermauert mit populären, aber auch propagandistisch inszenierten Sozialprogrammen, ist in Lateinamerika nicht neu. Aus den Erfahrungen von "Caudillos" oder "Populisten" wie Argentiniens Juan Domingo Perón zehrt auch Chávez. Den General Perón ließ er folgerichtig beim "3. Gipfel der Völker Lateinamerikas" im November im argentinischen Mar del Plata vor versammeltem Publikum hochleben. Daß Perón, der Argentinien zwischen 1946 und 1974 mit Unterbrechungen regierte, ein großer Anhänger des italienischen Faschisten Mussolini war, störte ihn offensichtlich wenig.

Ein totalitärer Ideengeber

Ausgerechnet einer der unangenehmsten Vertreter des Peronismus stand Chávez in den 1990er Jahren Pate: Der Argentinier Norberto Ceresole, ein ausgewiesener Anhänger der französischen Negationisten, also Holocaustleugner. Der Dschihad-Freund widmete sich dem "Mythos" der Judenvernichtung, der nur zur "Enteignung des arabischen Palästinas durch Israel" diene. Der wirkliche Völkermord finde an den Palästinensern statt. Die Texte des mittlerweile Verstorbenen sind auf vielen Neonazi-Webseiten als Hintergrundmaterial zu finden.

Chávez hat sich 1999 von Ceresole wegen dessen antisemitischer Haltung losgesagt. Der Argentinier vermutete hinter dieser Trennung eine Verschwörung der jüdischen Gemeinde und des israelischen Staats, tatsächlich aber machte Vizepräsident Rangel Druck gegen den Faschisten. "Mein Lebensweg ist vom Epos des jüdischen Volkes inspiriert", erklärte Rangel. Dieser Zusammenhang dürfte auch bei Chávez` Bemühung eine Rolle spielen, trotz seiner Nähe zum iranischen Holocaustleugner Ahmadinedschad guten Kontakt zu den venezolanischen jüdischen Organisationen und zu Israel zu halten. Er verteidige den israelischen und einen palästinensischen Staat, erklärte der Regierungschef jüngst.

Doch diese Haltung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich wesentliche Aspekte des Ceresol`schen Gedankengebäudes in der aktuellen Politik des Landes wiederfinden. In seinem 1999 veröffentlichten Text "Caudillo, Armee, Volk - ein postdemokratisches Modell für Venezuela" erläutert Ceresole, daß der Rückgriff auf den autoritären Caudillismo kein Rückschritt, sondern fortschrittlich sei, da es sich um ein eigenständiges lateinamerikanisches Modell handele. Die Machtkonzentration in der Hand eines charismatischen militärischen Führers und dessen direkte Beziehung zum Volk sei eine wichtige Voraussetzung für gesellschaftlichen Wandel. Unter diesen Bedingungen sei es besser gelungen, die Einkommensverhältnisse umzugestalten als in einer repräsentativen Demokratie. "Der Kern der aktuellen Macht ist genau diese Beziehung zwischen Führer und Massen", erklärt Ceresole mit Blick auf Venezuela. Es handle sich um ein Volk, das "einem Chef, einem Caudillo, einem militärischen Führer einen Auftrag gegeben hat", und den müsse Chávez erfüllen. Nun gelte es, diese Beziehung gegen "jeden Versuch der 'Demokratisierung' zu verteidigen", denn sonst würde die Macht "verwässern" und letzten Endes zerstört werden. Selbstredend spielen nationalistische Mobilisierung gegen die "nordamerikanische Dekadenz" und das Militär in Ceresolas Welt eine zentrale Rolle.

Man würde es sich sehr einfach machen, die Nähe der bolivarianischen Bewegung zu solchen totalitären Konzepten mit dem Verweis auf Chávez' Trennung von Ceresole abzubügeln. Ceresole selbst betonte 1999, daß sein Vorschlag bei vielen Zivilisten und Militärs auf große Zustimmung gestoßen sei. Das mag teilweise den Machtfantasien des Autors geschuldet sein, außer Frage steht aber, daß seine Thesen in der Entstehungsgeschichte der bolivarianischen Revolution mit dieser kompatibel waren und es in Teilen auch noch heute sind.

Ebenso leicht macht es sich, wer mit dem Verweis auf diese totalitären Fragmente die venezolanische Entwicklung in Bausch und Bogen verdammt. Doch gerade weil alle bisherigen kommunistischen Erfahrungen mehr oder weniger in totalitären Regimen endeten, ist es wichtig, auf diese Strukturen hinzuweisen und gegen sie zu arbeiten. Chávez ist keine isolierte Figur. Er repräsentiert eine Seite der autoritären Beziehung, die den "Prozeß" in Venezuela prägt. Will die bolivarianische Revolution nicht da ankommen, wo die kubanische längst versackt ist, tut sie gut daran, ihren eigenen Vater eines Tages als politische Führungsfigur vom Thron zu stoßen.

Wolf-Dieter Vogel ist Mitarbeiter der Lateinamerika Medienprojekte Poonal und Onda, des mexikanischen Kommunikationsnetzwerkes Boca de Polen und freier Journalist. Er lebt in Mexiko-Stadt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 292.

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sopos 5/2006