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Die Bundesrepublik Deutschland ließ mehr als ein halbes Jahrhundert verstreichen, bis sie im Mai 2002 die Urteile der Nazi-Militärjustiz gesetzlich aufhob. Inzwischen waren die Opfer, soweit sie das Nazi-Regime und dessen Krieg überlebt hatten, fast alle gestorben. Der Fiskus wurde durch dieses Gesetz nicht belastet. Zwei Bundesländer stimmten im Bundesrat dennoch nicht zu: Bayern und Sachsen. Wie kann man nun ausgerechnet von Sachsen erwarten, daß es mutige Menschen ehrt, die sich einst dem militärischen Massenmorden entzogen oder widersetzt haben? Der Bundesgerichtshof nannte 1995 die Wehrmachtsjustiz eine „Blutjustiz“, deren „Richter sich wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen“. Hätten sie. Haben sie aber nicht. Denn die BRD war seit Adenauers Zeiten auf Remilitarisierung bedacht; daran sollten die Wehrmachtsoffiziere maßgeblich mitwirken. Deswegen blieb es ihnen erspart, sich verantworten zu müssen. Marinerichter Filbinger wurde Ministerpräsident. Die sowjetische Besatzungsmacht sperrte die Blutrichter und Schergen, die ihr in die Hände fielen, dort ein, wo vorher deren Opfer eingekerkert waren. In Torgau entstand so eines der sowjetischen Speziallager, die dazu bestimmt waren, neben Nazis auch Besitzer von Waffenlagern und antisowjetische Terroristen aufzunehmen. Im heutigen Sachsen gelten die Häftlinge dieser Lager als Opfer, deren von Staats wegen zu gedenken ist. Wenn die Opfer der Nazi-Militärjustiz, es sind nur noch wenige, das akzeptieren würden, dürften sie vielleicht auch ein bißchen Respekt erwarten. In der zuständigen Stiftung Sächsischer Gedenkstätten wünscht man sich einen solchen „antitotalitären Konsens“. Die Gleichsetzung von Nazi-Opfern und denjenigen Tätern, die nach dem Krieg zwecks Entnazifizierung interniert waren, durchzieht die Gedenkpolitik im Freistaat Sachsen. Hinzu rechnen die tonangebenden „Antitotalitaristen“, die in Wahrheit vor allem Antikommunisten sind, auch alle diejenigen, die in der DDR aus politischen Gründen in Haft saßen. Von den westdeutschen Justizopfern des Kalten Krieges weiß man in Sachsen nichts. Ihrer wird aber auch in Westdeutschland nicht gedacht. Nirgendwo. Sie bleiben aus dem „antitotalitären Konsens“ ausgegrenzt. Gegen sie richtet er sich gerade. Nach der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom Juli 1999 (Bundestagsdrucksache 14/1569) beteiligt sich der Bund in Sachsen an zwei „Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft“. Man liest dort: „Das Dokumentations- und Informationszentrum Torgau setzt sich für die Aufarbeitung des Unrechts in den verschiedenen Verfolgungsperioden des 20. Jahrhunderts in Torgau ein. Es legt dabei den Schwerpunkt auf das Bewahren der Erinnerung an die Opfer der Wehrmachtjustiz... In der Gedenkstätte Bautzen soll das Unrecht in den beiden Bautzener Gefängnissen während der nationalsozialistischen Diktatur, der sowjetischen Besatzung und der SED-Diktatur dokumentiert werden, wobei der Schwerpunkt auf der Information über das Unrecht zwischen 1945 und 1989 liegen wird.“ Das scheint schön ausgewogen zu sein – im Sinne des „antitotalitären Konsenses“. In der gedenkpolitischen Praxis erweist sich all die Auswiegerei und Gleichsetzerei als heuchlerisches Geschwätz. In Bautzen wird heute fast ausschließlich der nach 1945 Inhaftierten gedacht, „während in Torgau nirgends der Schwerpunkt des Gedenkens für die Opfer der Wehrmachtsjustiz verwirklicht wurde“, wie die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz Anfang dieses Jahres in einem Schreiben an die Stiftung Sächsische Gedenkstätten feststellte. „Im Gegenteil: In der am 9. Mai 2004 gegen unseren entschiedenen Widerstand neu eröffneten Dauerausstellung im Torgauer Schloß werden zur NS-Verfolgung noch 31 Exponate gezeigt, zur Verfolgung nach 1945 hingegen 57.“ Der Schwerpunkt ist also in dieselbe Richtung gerutscht wie in Bautzen. Und als einziges Täterporträt hat die Stiftung in Torgau ausgerechnet das einer Jüdin ausgewählt, die für die Gestapo gespitzelt hatte (siehe Ludwig Baumann: „Wo Gedenken zur Schändung wird“, Ossietzky 5/05) . Im übrigen macht der Ausstellungstext die Täter – besonders die Schergen der Gestapo und des NS-Sicherheitsdienstes (SD) – pauschal zu unschuldigen Opfern. Anders als bei der Darstellung der Nachkriegsinhaftierten bemüht sich die Stiftung, die Opfer der Wehrmachtsjustiz möglichst vage, möglichst niedrig zu beziffern. Die Stiftung schreibt beispielsweise: „Mehrere zehntausend Gefangene durchliefen bis Kriegsende die Torgauer Wehrmachtsgefängnisse.“ Dazu die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz: „Das ist eine Verharmlosung. Es müßte ‚Mehr als 60.000 Gefangene' heißen.“ Und das Wort „durchliefen“ verhöhne nicht nur die rund 1.000, die in Torgau hingerichtet wurden, nicht nur die an Hunger, Mißhandlungen und Folter Verstorbenen, sondern alle, die unter unmenschlichen Bedingungen ihre Strafen verbüßen mußten, wie auch die mehr als 17.000, die in Feldstraflager oder Konzentrationslager überführt oder in Strafbataillonen an vorderster Front verheizt wurden. Um nicht als Alibi zu dienen, haben sich die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz und andere NS-Opferverbände, auch der Zentralrat der Juden, längst aus dem Beirat der Stiftung zurückgezogen. Inzwischen ist dort vor allem Ludwig Baumann, der Vorsitzende der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, der selbst 17 Monate in Torgau inhaftiert war und gefoltert wurde, zum Buhmann geworden. Laut Protokoll einer Sitzung vom vorigen Herbst wurde im Beirat Baumanns „dogmatische Sicht“ gerügt. Seine Argumentation sei „ideologisch begründet“. Er habe „ein vergiftendes Moment“ eingetragen, das „zunehmend schwer erträglich“ werde. Mit den zuletzt zitierten Worten begegnete Beiratsvorsitzender Tobias Hollitzer, der ein „Bürgerkomitee Leipzig“ vertritt, der Kritik an Beschimpfungen, mit denen die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) Baumann bedacht hatte; die Schmähungen reichten bis zu dem Vorwurf, daß sich Baumann „mit den Nationalsozialisten auf eine Stufe“ stelle. Als sich Baumann bei der Stiftung darüber beschwerte, antwortete ihm deren Geschäftsführer Norbert Haase: „Ich kann Ihnen nur raten, wegen dieser Formulierung selbst den Kontakt zum Landesverband Sachsen der VOS zu suchen.“ Ein Kernsatz aus der protokollierten Beratung des Beirats über die Gestaltung der Gedenkstätte in Torgau lautet: „Gelitten haben aber alle – ob Täter oder nicht“ – und alle verdienten „Respekt“. Im Beirat weiterhin vertreten, im „antitotalitären Konsens“ wohlgeborgen ist der Waldheim-Kameradschaftskreis. Er erweist gelegentlich auf dem Friedhof in Waldheim 24 nach dem Krieg Hingerichteten „die Ehre“, zumeist Mitgliedern des Volksgerichtshofs und der Militärjustiz. Unter den 24 war auch der Kommandant eines der beiden Torgauer Lager, Friedrich Heinicke, an den sich Baumann genau erinnert: Heinicke habe viele Opfer der Militärjustiz grausam gequält, manche selbst erschlagen. – So stört Baumann den „antitotalitären Konsens“. Wie das Grundgesetz die weitere Militarisierung der bundesdeutschen Politik stört.
Erschienen in Ossietzky 8/2006 |
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