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Wie stark sind die deutschen Gewerkschaften noch? Was können sie für ihre Mitglieder in den Tarifverhandlungen erreichen? Welchen Einfluß haben sie auf die jeweilige Bundesregierung, um im Arbeitsrecht, in Mitbestimmungsfragen und in der Wirtschaftspolitik ArbeitnehmerInnen-Interessen durchzusetzen? Es ist offensichtlich: Sie schwächeln. Aber es wäre falsch, sie allein dafür verantwortlich zu machen. Bei Verhandlungen über höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten sitzen ihnen nicht nur die Arbeitgeber gegenüber, sondern ihre Möglichkeiten richten sich auch nach den wirtschaftspolitischen Umständen, nach dem Klima, das seit langem neoliberal vergiftet ist. Die gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik ist in einen Teufelskreis aus Umverteilung nach oben, Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit geraten. Der durch die Produktivitäts- und die Inflationsrate entstehende Zuwachs, der ohne Eingriff in Besitzstände verteilt werden kann, kommt seit Jahren immer weniger den ArbeitnehmerInnen zugute. Massenarbeitslosigkeit höhlt die Macht der Gewerkschaften aus; Tarifverträge werden durchlöchert, verlieren an Verbindlichkeit. Und je weiter die Reallöhne hinter der Produktivitätsrate zurückbleiben, desto schneller nehmen die Gewinn- und Vermögenseinkommen zu. Der Blick auf die Verteilung des Volkseinkommens ist erschreckend. Seit 1991 ist die Brutto-Lohnquote von 71 Prozent auf 67 Prozent im Jahre 2005 zurückgegangen, und sie wird auch 2006 weiter fallen. Die ganze Dramatik wird aber erst dann deutlich, wenn man sich die absoluten Zahlen anschaut: Seit 2001 ist das Volkseinkommen um 202 Milliarden Euro gestiegen. Um diese Summe ist Deutschland also reicher geworden. Von diesem neuen Reichtum entfallen gut 171 Milliarden Euro auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen; das ist ein Anteil von fast 85 Prozent. Auf die Entgelte der 34 Millionen abhängig Beschäftigten entfallen dementsprechend nur knapp 31 Milliarden Euro, ein Anteil von 15 Prozent. Im letzten Jahr sind die Arbeitnehmerentgelte – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik – sogar um 5,6 Milliarden Euro gesunken; die Unternehmens- und Vermögenseinkommen dagegen haben stärker zugenommen als das gesamte Volkseinkommen. So ist es eigentlich selbstverständlich, daß die IG Metall in der diesjährigen Tarifrunde fünf Prozent mehr Lohn und Gehalt verlangt – auch angesichts der hohen Gewinne in der Elektro- und Metallindustrie. Vor allem die Großunternehmen dieser Branche vermelden enorme Gewinnsteigerungen, aber auch die kleinen und mittleren Unternehmen stehen gut da. Allein die acht Metall-Unternehmen, die zu den 30 im Deutschen Aktien-Index (DAX) erfaßten Aktiengesellschaften gehören, schütteten 2005 an ihre Eigentümer sage und schreibe 4,5 Milliarden Euro aus. Die ArbeitnehmerInnen, die dieses Ergebnis erwirtschaftet haben, gingen leer aus, schlimmer noch: Ihr durchschnittliches Einkommen ist in den letzten drei Jahren um 3,5 Prozent gesunken. Für die IG Metall gibt es daher nicht den geringsten Grund, von ihrer Fünf-Prozent-Forderung Abstriche zu machen. Doch es ist zu befürchten, daß, ähnlich wie in vielen Tarifrunden zuvor, am Ende nicht die Fünf stehen wird, sondern die unheilvolle, gesamtwirtschaftlich kontraproduktive Umverteilung nach oben weitergeht. Aber selbst wenn es zu der Fünf käme, wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine vernünftige Wirtschaftspolitik müßte nicht nur auf produktivitätsorientierte Lohnerhöhungen, sondern auch auf nachhaltige Arbeitszeitverkürzungen sowie auf eine expansive Finanz- und Geldpolitik setzen. Große Produktivitätsfortschritte müssen mit entsprechenden Arbeitszeitverkürzungen beant-wortet werden. Unverständlicherweise greift die IG Metall in den diesjährigen Tarifauseinandersetzungen die notwendige Forderung nach drastischer Arbeitszeitverkürzung gar nicht auf. Zu tief sitzt wohl noch die Enttäuschung über das weitgehend selbstverschuldete Scheitern der Gewerkschaft mit der Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland (s. Ossietzky 14/03). Auch der von ver.di geführte Kampf um Beibehaltung der 38,5-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst reicht nicht aus. Was soll denn dabei herauskommen, wenn man Gewerkschaftsmitglieder in einen unbefristeten Streik schickt und lediglich fordert, daß die bestehenden Arbeitszeit erhalten bleibt? Dieser Kampf kann nur mit einem Kompromiß enden: Die Arbeitszeit wird zwar nicht in dem Maße erhöht, wie es die Arbeitgeber wünschen, aber sie wird erhöht, obwohl sie dringend gesenkt werden müßte. Wo Produktion und Produktivität immer weiter auseinanderklaffen, darf sich gewerkschaftliche Aktivität nicht damit begnügen, heutige Arbeitszeiten (im Durchschnitt 40 Stunden pro Woche) zu verteidigen, sondern alle gewerkschaftlichen Kräfte müssen gebündelt werden, um jetzt – gerade jetzt – die alte Forderung nach der 35-Stunden-Woche sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der privaten Wirtschaft zu verwirklichen. Allein seit dem Anschluß der DDR ist das reale Bruttoinlandsprodukt um 20 Prozent, die Produktivität aber um 30 Prozent gestiegen – eine gewaltige Spanne, eine wachsende Spannung, die sich nur in einer Verringerung des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens entladen konnte, wodurch die Arbeitslosigkeit sich vergrößerte. Eben deswegen müssen die Gewerkschaften eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit auf ihre Agenda setzen. Sie sollten heute auch über ihre alte Forderung nach der 35-Stunden-Woche hinausdenken, etwa in Richtung der Vier-Tage-Woche und des Sieben-Stunden-Arbeitstages. Eine solche Orientierung der Gewerkschaftspolitik ist auch deshalb notwendig, weil die Gewerkschaften nur mittelbar auf eine expansive Finanz- und Geldpolitik hinwirken können. Erschwerend kommt hinzu, daß seit der Übertragung der Geldpolitik auf die Europäische Zentralbank der Nationalstaat nur noch finanzpolitische Möglichkeiten hat (Steuer- und Ausgabenpolitik) und auch dabei durch den, wie Romano Prodi sagt, „törichten“ europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt geradezu stranguliert wird. Um so wichtiger ist die Tarifpolitik, die den Gewerkschaften unmittelbare Wirkungsmöglichkeiten gibt – wenngleich damit eine völlig verfehlte Finanz- und Geldpolitik nicht korrigiert werden kann. Politische Unterstützung ist also unentbehrlich. Wie sehr bisher die Verteilungspolitik versagt hat, zeigt die Entwicklung der Netto-Lohnquote, die das ArbeitnehmerInnen-Einkommen in Prozent des verfügbaren Einkommens aller privaten Haushalte nach staatlicher Umverteilung (Sozial- und Transfereinkommen) angibt. Sie ist seit 1991 von 48,1 Prozent auf 40,9 Prozent im Jahre 2005 geradezu abgestürzt. Ohne einen Wechsel in der Wirtschaftspolitik wird sich an diesem Trend nichts ändern. Die Gewerkschaften allein können es nicht schaffen, für den notwendigen Umschwung zu sorgen. Die Tarifpolitik, auch eine produktivitätsorientierte, reicht nicht aus. Aber sie ist unverzichtbar. Gewerkschaften, die selbstbewußt ihre Forderungen formulieren, sie überzeugend begründen, ihre Mitglieder dafür mobilisieren und konsequent dafür kämpfen, gewinnen dadurch an Stärke und sind dann auch imstande, politische Veränderungen anzustoßen.
Erschienen in Ossietzky 8/2006 |
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