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Nein, keiner dieser gutdotierten Chefredakteure oder Ressortleiter wollte das Thema aufgreifen, sie bejammerten lieber weiterhin den angeblichen „Reformstau“ hierzulande und ziehen die Kanzlerin, bisher nur „viel zu kleine Schritte in die richtige Richtung“ („Senkung der Lohnnebenkosten“, „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“) zu wagen. Die tatsächlich fast revolutionäre Situation im Nachbarland, dessen Regierung den unter 26jährigen für zwei Jahre den Kündigungsschutz nehmen wollte, läßt sich allerdings nicht ganz totschweigen. Darum geben unsere berufsmäßigen Systembewahrer dem Lese- und Fernsehvolk ihre abschätzigen Einschätzungen mit auf den Verstehensweg: Die Gallier? Nicht ganz ernst zu nehmen, noch nicht richtig angekommen in der Globalisierung, keine richtigen Demokraten. Und die Studenten dort wollten nur ihre „Privilegien“ behalten. Das längst neoliberal gemodelte ehemalige Barrikadenidol des Pariser Mai 68, Daniel Cohn-Bendit, wird mit dem Satz zitiert: „Frankreich ist eine blockierte Gesellschaft.“ Staatstragend und systemerhaltend doziert der Herausgeber und Chefkommentator Günther Nonnenmacher in seiner „Zeitung für Deutschland“ ( FAZ , 24.3.06): Die französische Fünfte Republik sei nur ein „kastrierter Parlamentarismus“. Darin hätten Parteien oder die Nationalversammlung als Parlament „weniger Dignität und politisches Gewicht“, als ihnen bei uns in Deutschland „zugeschrieben“ würden. Das „Votum der Straße“ verkörpere dort leider eine „Legitimität, die mit jener der repräsentativen Institutionen konkurriert“. Politiker wie Chirac müßten dem Volk viele soziale Zugeständnisse machen, und anschließend könnten sie ihr „Scheitern nicht veränderten Umständen zuschreiben“, wie „zum Beispiel Umbrüchen der Weltwirtschaft oder demographischen Verschiebungen“. Deshalb habe es auch das „verheerende Ergebnis des Referendums über die EU-Verfassung“ gegeben. Fazit des FAZ -Kommentars: „Die Ära Chirac geht in einem Fiasko zu Ende.“ Wenn derartige deutsch-nationale Herrenreiter so könnten, wie sie möchten, würden sie mit der neugestylten Deutschen Bundespolizei in Frankreich einmarschieren und dort endlich für einen funktionierenden „Parlamentarismus“ sorgen. Sie werden es aufrichtig bedauern, daß die Aufstellung einer EU-Eingreiftruppe unter deutschem Oberbefehl noch nicht so recht vorangekommen ist… Denn von uns Deutschen in der BRD ließe sich lernen, wie große „Volksparteien“ den Willen des tumben Wahlvolkes derart zu okkupieren und anschließend zurechtzubiegen verstehen, daß in den Parlamenten all das abgesegnet und legitimiert wird, was Kapital und Kabinett verlangen. Bei uns hat es schließlich, auch dank eines geordneten Medienkartells, bestens geklappt, all die von den Unternehmern geforderten Sozialstaatszerstörungen oder den Abbau von Arbeitsschutzgesetzen „der Globalisierung“ oder „der Demographie“ „zuzuschreiben“ (dank Herrn Nonnenmacher und seinen KollegInnen ) . Kündigungsschutz? Ist hierzulande schon mit den Job-AQTIV- und Hartz-Gesetzen unter SPD und Grünen für Neueingestellte zu einem Fremdwort geworden. Für alle über 52jährigen gibt es derzeit keinen Kündigungsschutz, ähnlich für Berufsanfänger, die in der Regel nur als PraktikantInnen (meist ohne Bezahlung) oder zur Probe eingestellt werden. Betriebe mit bis zu zehn Angestellten können neue Mitarbeiter ohne Kündigungsschutz einstellen. Hinzu kommt, daß auch in Großbetrieben fast nur noch mit befristeten Verträgen gearbeitet wird, dreimal hintereinander darf die Befristung innerhalb von zwei Jahren verlängert werden – und so weiter und so fort. Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU und SPD verpflichtet, den Kündigungsschutz generell erst nach zwei Jahren wirksam werden zu lassen, bei Firmenneugründungen greift der Kündigungsschutz sogar erst nach vier Jahren. Gab es bei uns einen Aufstand der Betroffenen oder der Gewerkschaften? Mir ist nichts davon zu Ohren gekommen. Sie befinden sich stattdessen – vor allem seit der rot-grünen Regierungszeit – nur noch in Abwehrkämpfen, um Mehrarbeit und Lohnkürzungen etwas zu mildern, anstatt dringend gebotene Arbeitszeitverkürzungen und höhere Lohnanteile an den Produktivitätssteigerungen durchzusetzen. In Frankreich gingen die Proteste von den Universitäten aus, griffen auf die Oberschüler über, bald gab es Bündnisse mit fast allen Gewerkschaften; mit von der Partie waren auch die linken Oppositionsparteien. Mehr als fünf Wochen gingen jeden Dienstag bis zu drei Millionen Menschen auf die Straße, an den Wochenenden waren die Großstädte in der Hand der Protestierer. Es kam regelmäßig zu Zuständen wie bei einem Generalstreik, auch wenn die Gewerkschaften ihn nicht offiziell beschlossen hatten. Chirac mußte zurückrudern, am 10. April zog Ministerpräsident de Villipin das Gesetz zurück. Die Studierenden und Schüler wollen längst viel mehr als zurück zum Kündigungsschutz auch für Berufsanfänger, sie wollen eine „andere Welt“, eine Gesellschaft, in der alle Platz zum Leben haben, zum selbstbestimmten Arbeiten ohne Angst und Ausbeutung. Mit den Gewerkschaften haben sie sich für deren Forderungen nach mehr Lohn, kürzerer Arbeitszeit und Arbeitsangeboten für alle verbündet, und sie lassen die Parteien nur mitreden, sofern diese sich ihren Losungen anschließen. Mag sein, daß nach der erfolgreichen Abwehr des einen neoliberalen Gesetzesvorhabens die Studenten und Schüler zunächst eine Protestpause einlegen. Sie werden aber wiederkommen, wenn den Regierungsversprechungen, endlich Chancengerechtigkeit für alle zu schaffen, keine Taten folgen. Insofern fällt ihr Aufstand viel pragmatischer aus als im Mai 68. Das muß kein Nachteil sein. Wer praktische Fortschritte in Richtung Emanzipation für alle erkämpft hat, wird nicht derart schnell von der Konter-Reform der Reaktion integriert werden wie viele Achtundsechziger. Zu hoffen ist, daß die Bevölkerung von Paris und Marseille NachahmerInnen und MitstreiterInnen in allen Städten der EU findet, nicht zuletzt in Berlin, Hamburg, Köln, München. Schon seit 217 Jahren kann man von Frankreich lernen, daß „Demokratie“ die „Macht der Bevölkerung“ heißt und nicht die Oligarchie einer kleinen Schicht der Kapitalbesitzer, die sich Parlamente und Parteien als Feigenblätter und Legitimationsbeschaffer halten.
Erschienen in Ossietzky 8/2006 |
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