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Heute, 35 Jahre nach meiner Studienzeit, besitze ich mehr als 500 dieser billigen Reclam-Bücher, gleich vielen meiner ostdeutschen Altersgenossen. Später arbeitete ich im Rostocker Hinstorff Verlag als Lektor und betreute dort neben Manuskripten von Klaus Schlesinger, Martin Stade, Thomas Brasch, Joachim Walther und vielen anderen, im Westen weniger bekannt gewordenen Autoren ein für die Zeit ungewöhnliches Manuskript von Wolfgang Hilbig, das zu veröffentlichen wir uns sofort vornahmen. Aber es ging dann nicht. Ein anderes Manuskript von Hilbig, »Stimme, Stimme«, war etwas früher im Reclam Verlag Leipzig gelandet, der Verleger Hans Marquardt hatte sich auf Franz Fühmanns Empfehlung hin seiner angenommen, und so erschien das erste und einzige Buch von Hilbig in der DDR dort und nicht in Rostock und das nächste nicht sehr lange danach in Frankfurt am Main. Weil ich seit zwanzig Jahren der Redakteur des Aufbau-Literaturkalenders bin, ist mir jetzt der Name des vor gut einem Jahr auf Rügen gestorbenen Hans Marquardt wiederbegegnet. Der diesjährige Kalender hatte die Ehre, auch von dem Kritiker Jürgen P. Wallmann beachtet zu werden, und in dessen Sammelrezension lese ich, was er, leicht variiert, in den Westfälischen Nachrichten , im Darmstädter Echo und in der Rheinischen Post über Marquardt zu sagen hat. »Bei Aufbau regiert der Osten« steht da als Zwischentitel. Dazu einfach mal die Zahlen: Von 54 Kalenderblättern sind acht ehemaligen DDR-Autoren gewidmet, und vier erinnern an Autoren aus ehemaligen »Ostblock«-Ländern. Zwölf regieren, 42 parieren? Diese Art Zahlenspiele kenne ich aus der DDR-Vergangenheit des Kalenders, und der parteiische Umgang mit Zwischentiteln ist mir aus dem alten Neuen Deutschland noch in Erinnerung (»95 Prozent der Ernte sind eingebracht« hieß es auch dann, wenn wegen permanenten Regens ein Drittel des Getreides auf dem Halm verfault war). Den ehemaligen Reclam-Verleger erwähnt das Kalenderblatt für die 50. Woche mit diesen Worten: »Der umtriebige Hans Marquardt gehörte zu den markantesten Verlegern in der vergangenen, auch auf kulturellem Gebiet von der herrschenden Partei bevormundeten DDR. Und so leistet er sich und seinem Leipziger Reclam-Verlag, dem er vorstand, gegen viele Widerstände ein zusätzliches Programm mit bibliophilen Ausgaben, die sein Taschenbuchprogramm auf vollendete Weise ergänzten. 1976 faßte er den Plan, Volker Brauns widerborstigen Text von 1975 ›Guevara oder Der Sonnenstaat‹ mit Farbholzschnitten von HAP Grieshaber zu drucken. Der Malbrief des Künstlers an seinen Verleger stammt vom 4. Juli 1977. Erst 1983 kann das Buch erscheinen. Volker Braun legt Guevara den Traum von einer Zukunft in den Mund, den die DDR-Führung mitzuträumen so ohne weiteres nicht gewillt war.« Auf dem Kalenderblatt ist der Malbrief abgebildet, daneben finden sich ein paar Zeilen aus Brauns Text. Wallmann, noch immer an den Zuständen in ehemaligen DDR-Verlagsstuben interessiert, ist wachsam: »Es geht nun aber bei aller DDR-Nostalgie zu weit, wenn jetzt auf einem Kalenderblatt der ›umtriebige‹ Reclam-Verleger Hans Marquardt aus Leipzig nicht nur gerühmt, sondern sogar als eine Art Widerständler hingestellt wird.« In der zweiten Variante der Rezension ist die Passage ergänzt um den Satz: »Dabei ist jetzt schon in den Lexika nachzulesen, daß dieser Hans Marquardt zahlreiche offizielle und inoffizielle Beziehungen zum Ministerium für Staatssicherheit unterhielt.« Dieser Satz ist in der dritten Variante so verkürzt: »... daß dieser Marquardt ein diensteifriger Stasi-Spitzel war.« Noch zugespitzter formuliert Wallmann in seiner Rezension über einen Bild-Text-Band zu Christa Wolf, erschienen bei Luchterhand in München: »Und daß Hans Marquardt nur als Leiter des Reclam Verlages Leipzig bezeichnet wird, nicht aber als hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter (was heute schon in Lexika steht), ist ein weiterer unter den vielen Mängeln dieses Bilderbuches.« Was steht in welchen Lexika? Hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi? Den großen Verlag hätte er dann wohl nebenher mit dem kleinen Finger geleitet. Daß Verlagsleiter in der DDR automatisch und öffentlich vom Ministerium für Staatssicherheit kontaktiert wurden, zum Beispiel wenn es um Arbeitsverträge mit Leuten ging, die sich in den Augen der SED-Führung etwas hatten zuschulden kommen lassen, oder um Reisen von Mitarbeitern ins »nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet«, weiß jeder, der mit dem Thema umgeht – wie auch mich der Verfassungsschutz auf meiner Dienstreise zu Peter Härtling 1987 im Zug ausführlich kontaktierte. Hans Marquardt (IM »Hans«!) hat dem MfS auf Fragen geantwortet. Darüber wurden schon 1995 Behauptungen und Richtigstellungen verfaßt. Was aber gibt Jürgen P. Wallmann, dem eifrigen Zulieferer diverser Redaktionen, 2006 noch immer das Recht, einen Mann an schwieriger Stelle im komplizierten ideologischen Gefüge der DDR abzustrafen? Hat Marquardt irgend etwas veranlaßt oder unterlassen, womit er anderen persönlich und bewußt Schaden zugefügt hätte? Ist er aus der deutschen Literaturgeschichte zu streichen wie der Palast der Republik aus dem Berliner Stadtbild? Darf es ihn gar nicht mehr geben außer als »eifrigen Stasi-Spitzel«? Ich bin mir sicher, Stasijäger Wallmann wird an seinem Computer die Funktion »Suchen und Ersetzen« weiterhin eingeschaltet lassen und zu »Hans Marquard« immer wieder seine flotten Verdikte aussprechen. Mein halbes Tausend Reclam-Bändchen rührt das nicht. Und auch die wunderbare Trakl-Kassette aus Fühmanns und Marquardts Hand bleibt davon unbeeindruckt. Im Leseland DDR erfuhren die Menschen zuerst in der Schule und aus den Büchern viel über die Gleichheit aller Menschen. Gerade weil das Ideal so hell erleuchtet war, litten sie unter dem Gegensatz zur trüben Wirklichkeit. Diesen Zwiespalt täglich zu erleben, wirkte stärker als das Propaganda-Bombardement aus dem Westen. Deshalb hat Frau Bohley ausgerechnet Rosa Luxemburgs einzigen Satz, den sie kannte, zitiert, übrigens nicht bedenkend, daß genau dieser Satz zugleich das Mordurteil enthielt. Junge Leute von heute sind versucht, Urteile wie die des Jürgen P. Wallmann in ihrer moralischen Schlichtheit für bare Münze zu nehmen. Das wird so lange gehen, bis die Vergangenheit endlich dem entspricht, wozu unsere Gegenwart sie benötigt. Später wird eine andere Gegenwart dann wieder eine andere Vergangenheit brauchen. Und dazwischen wird es immer mal einen Unvoreingenommenen geben, der klug und genau die hinter uns liegende Wirklichkeit in ihrer Vielfalt etwas besser begreift und die Personen, welche in ihr handelten, weder verklärt noch verteufelt. Ich denke, Wallmann wird dieser eine nicht sein.
Erschienen in Ossietzky 6/2006 |
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