Die kostspieligen Aufarbeiter

Felix Mantel

Viele Menschen freuen sich, wenn sie Post kriegen. Wenn nicht nur Reklame den Briefkasten verstopft. Wenn ihnen ernstgemeinte, möglicherweise sogar nützliche Mitteilungen zugänglich gemacht werden.

Viele Menschen freuen sich auch, wenn sie eingeladen werden. Und vielleicht nicht nur zur Teilnahme an irgendeiner Veranstaltung aufgefordert, sondern auch mit dem Hinweis gelockt werden, am Schluß werde den Teilnehmern, falls sie es bis zum Schluß ausgehalten haben, ein kleiner Imbiß gereicht.

Darüber freut sich jeder Hungerkünstler.

Und es gibt heute, wie man weiß, kaum freiwillige Hungerkünstler. Wer darbt, ist dazu nicht geboren worden. Kein Magen knurrt, weil er sich gern knurren hört. Der Mensch, zu dem dieser Magen gehört, schreitet also, höflich eingeladen, zu einem buffetgerahmten lehrreichen Vortrag über eine historische Zeit, in welcher sein Magen etwas weniger knurrte. Denn aufgefordert und eingeladen wurde er von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Otto-Braun-Straße 70/72, Berlin.

Diese Straße ist nicht nach dem Schriftsteller Otto Braun, der auch Übersetzer (Tichon Sjomuschkin, »Brand in der Polarnacht«) und zeitweilig militärischer Berater der Kommunistischen Partei Chinas war, sondern nach dessen rechtsdralligem Namensvetter, der sich widerstandslos als preußischer Ministerpräsident absetzen ließ und so auf seine Weise den Nazis den Weg zur Macht harkte.

Ich werde oft von dieser Stiftung eingeladen. Seit Jahren. Durchschnittlich zweimal in der Woche. Ich werde immer von Frau Dr. Anne Kaminsky eingeladen. Ich weiß aber nicht, ob Frau Dr. Kaminsky weiß, daß sie mich so oft einlädt, denn auf den Einladungen ist ihre Unterschrift nur faksimiliert gedruckt. Vielleicht gibt es Frau Dr. Kaminsky gar nicht? Na, irgendwo wird sie schon existieren, denn die Stiftung zur Aufarbeitung braucht sicher viele Mitarbeiter, die dort ihr Ein- und Auskommen als Aufarbeiter und Aufarbeiterinnen haben. Ganz oben an der Stiftungsspitze stehen beziehungsweise sitzen besondere Persönlichkeiten, die mir nicht direkt schreiben können, beispielsweise die Pfarrer Markus Meckel und Rainer Eppelmann. Ich stelle mir vor, daß beide vom Aufarbeiten schon ziemlich abgearbeitet aussehen.

Die vom Bund großzügig geförderte Stiftung beschäftigt, wie man sich denken kann, nicht nur akademisch gebildete Aufarbeitungsspezialisten, sondern allein in ihrem Ressort Einladungswesen Kräfte sowie Hilfskräfte, welche mit der Betreuung des Adressensystems, dem Farbdruck der Einladungen auf hochwertigem Karton, der Frankierung der Sendungen und dergleichen betraut sind. Eine kleine Unterabteilung der Stiftung ist anscheinend rund um die Uhr damit beschäftigt, aus der im Briefkopf prangenden schwarz-rot-goldenen Bundesflagge in deren rotem Drittel ein kleines kreisförmiges Stückchen Papier herauszustanzen. Es handelt sich um einen symbolischen Vorgang, der uns suggeriert, dort sei aus einem ehemaligen Banner der ehemaligen DDR deren ehemaliges grafisches Staatssymbol entfernt worden. Hier erfolgt die Aufarbeitung der SED-Diktatur – Abrakadabra – durch die Amputation eines Staatswappens, das man mittlerweile vergessen hätte, würde es einem nicht vom Briefpapier der Stiftung (zweimal wöchentlich) quasi hypnotisch als magisches Loch präsentiert.

Das Veranstaltungsprogramm ist ebenso reichhaltig wie monoton. Als DDR-Bürger während der gesamten Lebensdauer dieser Republik habe ich die SED-Diktatur und alles, was man darunter verstehen mag, in der Praxis erlebt und erfahren. Die professionellen Aufarbeiter stützen sich, wie ich den Einladungen entnehme, mehr auf theoretische Schriften teils ominöser Autoren. Daß ich nicht zum Stammpublikum der einschlägigen Vorträge gehöre, hat auch einen ökonomischen Grund. Wollte ich allen Einladungen folgen, so müßte ich mit meiner Frau durchschnittlich hundertzwölfmal hin- und zurückfahren, was laut Tarif des hauptstädtischen Nahverkehrs den Erwerb von 224 Fahrscheinen erfordert.

Wenn man nun bedenkt, was eine Aufarbeitung in der deutschen Umgangssprache tatsächlich bedeutet, nämlich ein altes Sofa oder etwas anderes überholen oder erneuern, so würde ich doch für die nähere Bekanntschaft mit Leuten, welche ausgerechnet die SED-Diktatur aufarbeiten, im Jahr nicht 470,40 Euro rauswerfen! So dicke haben wir das nicht.

Erschienen in Ossietzky 5/2006