Heilige Freiheit

Käthe Reichel

Die österreichische Springer-Zeitung Standard vom 4. Februar 2006 verkündet: »Wir können über alles lachen, was heilig ist.« Auch über die Pressefreiheit? Die Pressefreiheit ist ein heiliges Gut in jeder kapitalistischen Demokratie. Denn sie ist ein Produkt der noch viel heiligeren Freiheit des Geldes.

Wenn die leibhaftige Pressefreiheit von dem Propheten Mohammed der Gepriesene, Stifter des Islam, ein Spottbild in die Zeitung setzt, das dann vervielfältigt in den Zeitungen Europas auftaucht als Verhöhnung der Mohammedaner insgesamt, denkt die kapitalistische Demokratie gar nicht daran, sich zu entschuldigen, weil das ein Schuß ins eigene Gesicht der Freiheit wäre, die ihr Herz begehrt.

Fünf Millionen Arbeitslose glauben, daß zwei Pfund unverschimmeltes Rindfleisch, wenn sie es bezahlen könnten, eine gute Brühe gäben. Und sie erfahren, daß der Schimmel am Fleisch in der Demokratie erst die Öffentlichkeit erreicht, wenn die Armut sich bereits gründlich erbrochen hat, bis sie die Freiheit der deutschen Schlächter ausgespien hat. Und sie glauben sogar, daß die verborgene Freiheit für den Schimmel aus dem tiefen, innersten Gedärm der Demokratie kommt, wenn sie jetzt sichtbar empört über die Medien fragen läßt: »Warum kaufen sie so billiges Fleisch? Da müssen sie in Zukunft eben ein bißchen mehr Geld ausgeben! «

Nach dem Aufschrei des Islam in der Welt höre ich von einem Journalisten im Deutschlandfunk : »Die Pressefreiheit ist unser Heiligtum.« Sein Heiligtum hat jetzt bei den Demonstrationen in vielen Ländern gegen die christlich-demokratische Freiheit die ersten Toten produziert. Die gehören zu den Kollateralschäden.

Von einer anderen Stimme im Radio erfahre ich: Der Stifter des Islam soll in einer neuen Karikatur als Schwein gezeichnet worden sein. Inzwischen brennen die Botschaften der Länder, die in ihren Zeitungen die zehn Karikaturen übernommen haben, und ich weiß nun, daß die Freiheit, wo sie sich in kapitalistischen Demokratien zum Heiligtum erhebt, die Quelle für den nächsten Krieg ist.

Ich frage mich, was wohl wäre, wenn zum Beispiel der US-Präsident am Morgen die Zeitung aufschlüge und da sein Bild als Schwein sähe, an einer Klosettrolle hängend, als Arschwisch für die Zukunft, wo er doch gerade eben noch vor dem Spiegel wie der von Gott begnadete Präsident der Vereinigten Staaten aussah. Wird er da denken: »Die Pressefreiheit ist unser Heiligtum?« Oder wird er sich für den Satz aus dem Standard entscheiden: » Wir können über alles lachen, was heilig ist«?

Käthe Reichel wird am 3. März achtzig. Wir gratulieren.

Rainer steinberg, Die Nazis sind wiedr da (15. Apr. 2006, 00:26)

Erschienen in Ossietzky 4/2006