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Die Menschheit vermöchte sich schlecht damit zu trösten, nicht Opfer eines faschistischen Überfalls oder gar eines Weltkriegs geworden zu sein, sondern nur des ganz normalen Wahnsinns US-amerikanischer Weltordnungspolitik, die der Direktor der Internationalen Atomenergie-Organisation, Baradei, mit den Worten diagnostizierte, noch nie sei die Menschheit so nahe am Rande eines Atomkriegs gewesen. Wer hat sie dahin gebracht? Was wären die Warnsignale gewesen? Der Jugoslawienkrieg? Der Afghanistankrieg? Der Irakkrieg? Die Liquidierung und Selbstbeseitigung des Sozialismus? Die wachsende Zahl der Armen auf der Welt? Die brutalen Methoden der imperialistischen Globalisierung? Demonstranten, die im vergangenen Herbst beim Amerikagipfel in Argentinien gegen die Teilnahme des US-Präsidenten protestierten, führten Transparente mit, die George W. Bush als Faschisten bezeichneten. Beim Welttribunal über den Irakkrieg im Sommer vergangenen Jahres in Istanbul sprachen nicht wenige Redner von drohendem Faschismus. Der weltbekannte Friedensforscher Johan Galtung, einer der Hauptakteure, hatte schon vor einigen Jahren die US-amerikanische Politik als geofaschistisch bezeichnet. Anläßlich des 60. Jahrestags der Befreiung vom Faschismus sagte in der Berliner Humboldt-Universität der in Griechenland als Symbolfigur des antifaschistischen Widerstands verehrte Manolis Glezos, in Bush sei Hitler wiederauferstanden. Und in Erfurt bei der Gründung eines Sozialforums in Deutschland brach auf dem IrakHearing die Debatte auf: Ist Falludja das Guernica von heute? Der frühere Waffeninspekteur der UNO im Irak, Scott Ritter, sagte im Oktober 2005 in London, wo er am Royal Institute of International Affairs einen Vortrag hielt, daß US-Präsident Bush und Premierminister Blair wegen des Verbrechens der Planung und Ausführung eines Angriffskriegs zur Verantwortung gezogen werden könnten, denn sie hätten Handlungen begangen, derentwegen Deutschland 1946 verurteilt worden sei. Was muß ein gegenwärtiger Politiker getan haben, ehe man ihn einen Faschisten nennen darf? Soll man die Warnung vor einem Faschismus heute ernst nehmen, oder ist sie nur überzogene linke Empörung? Faschismus kann man weder an der singulären Ausprägung im Hitlerfaschismus noch daran bemessen, ob die von ihm ausgehenden schlimmsten Gefahren schon eingetreten sind. Faschismus gab es lange vor dem Zweiten Weltkrieg, lange bevor in Auschwitz erst sowjetische Kriegsgefangene und dann Juden aus ganz Europa vergast wurden. Und es gab nicht nur den deutschen Faschismus. Mussolini, Franco, Salazar oder Pinochet seien stellvertretend genannt. Alle diese Regime waren nicht erst auf dem Höhepunkt ihrer Macht faschistisch. Als Hitler mit seinen Mannen 1923 von München aus zum Marsch nach Berlin aufrief, konnte man sich kaum seine verheerende Kriegs- und Vernichtungspolitik vorstellen. Doch den politischen Zweck hatte er offengelegt. Der Zweck hat, um es mit Hegel zu sagen, den Trieb, sich zu realisieren. Dazu strebt er die Schrankenlosigkeit seiner Macht an. »...wenn je der Faschismus in die Vereinigten Staaten Einzug halten würde, käme er sicher unter dem Namen des Antifaschismus«, sagte der amerikanische Senator Huey Long in den 1930er Jahren, wohl mit einem Seitenblick auf Deutschland. Kann der Faschismus nicht auch unter dem Namen des Guten kommen, der Verbreitung der Menschenrechte, des Kampfes gegen Terrorismus, der humanitären Intervention? Ich frage mich, warum wir uns heute weigern, den im Namen demokratischer, antifaschistischer Werte daherkommenden amerikanischen Faschismus zur Kenntnis zu nehmen oder beim Namen zu nennen. Erinnern wir uns an die Zeit des Vietnamkrieges. Damals hatte die internationale Friedensbewegung keine Skrupel, die Russell-Tribunale auch als antifaschistische Tribunale zu verstehen und durchzuführen und die USA schwerster faschistischer Verbrechen zu zeihen – obwohl den Kritikern das historische Verdienst der USA im Kampf gegen den Hitlerfaschismus zeitlich noch weit näher lag. Bertrand Russell sagte 1966, »daß unsere Lage heute den Umständen entspricht, die die Nürnberger Prozesse notwendig machten«. In seiner Rede an die amerikanischen Soldaten über den Sender der Nationalen Befreiungsfront Vietnams erklärte er: »Man begreift, der Krieg in Vietnam unterscheidet sich nicht von dem Krieg, den die Deutschen in Osteuropa geführt haben.« Warum hat die Friedensbewegung, die gewiß nicht so stark ist wie zu Zeiten des Vietnamkrieges, gegenwärtig eine andere, gemäßigtere Sicht auf die US-amerikanische Politik? Was unterscheidet den damaligen Krieg vom Krieg gegen den Irak? Es war ebenfalls ein Weltordnungs- und ein Ressourcenkrieg und, wenn auch in anderer Weise, gleichfalls ein Weltanschauungskrieg. Der Verweis auf die Singularität des Holocaust, der oft geltend gemacht wird, um eine Charakterisierung der US-Politik als faschistisch zurückzuweisen, ist kein neues Argument. Russell hatte sich bereits damit auseinandergesetzt. In seinem berühmten »Appell an das Gewissen Amerikas« schrieb er: »Wenn die Amerikaner eine nationale Revolution wie die große historische Erhebung des vietnamesischen Volkes unterdrücken wollen, müssen sie zwangsläufig so verfahren wie die Japaner in Südostasien oder die Nazis in Osteuropa. Das ist wörtlich zu nehmen... Zwar haben die Nazis die Juden systematisch ausgerottet und die USA etwas Vergleichbares in Vietnam nicht getan. Aber die Judenausrottung ausgenommen, haben die USA alles, was die Deutschen in Osteuropa angerichtet haben, in Vietnam wiederholt.« Die USA verloren in Vietnam vor der Weltöffentlichkeit ihre Reputation, sich als antikoloniale Macht konstituiert zu haben und fortan allen Völkern, die um ihre Freiheit kämpfen, beizustehen. So hatten sie noch ihre Rolle als Alliierte im Kampf gegen den Hitlerfaschismus beschrieben. Jetzt wurde der antikoloniale Befreiungskampf gegen sie geführt. Sie selbst waren jetzt die Kolonisatoren. »Der Vietnamkrieg symbolisiert damit auch das Ende der herrschenden Selbstinterpretation der USA, nämlich des Bildes der aus reinem Abwehrkampf gegen europäische Kolonialmächte entstandenen amerikanischen Nation, welches das Bewußtsein der US-Amerikaner über Jahrhunderte geprägt hat. Das war das eigentliche ›Vietnamtrauma‹, schreibt Günter Giesenfeld, der wie wenige deutsche Publizisten den Vietnamkrieg und seine Folgen beobachtet und durchdacht hat. Die USA verloren seitdem ihren Charakter als antifaschistische Macht. Inzwischen ist es längst an der Zeit, die weltweiten Herrschaftsansprüche der USA und die dafür eingesetzten Mittel von Lug, Trug und Gewalt mit der Frage zu konfrontieren, welche auf die heutigen Zeitumstände zugeschnittene Form von faschistischer Politik sich hier herausgebildet hat und wohin sie noch treiben kann. Gewiß läßt sich wissenschaftlich darüber streiten, wie eng oder wie weit der Begriff Faschismus zu fassen ist. Wer aber, unter Verweis auf die Geschichte bis 1945, jeden Faschismusverdacht gegenüber dem US-Imperialismus heute aus der Debatte verbannen möchte, verstellt den Blick auf die politische Wirklichkeit.
Erschienen in Ossietzky 2/2006 |
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