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Sommerruhe (jahraus, jahrein)»Da ist viel Einheitsgewerkschaft drin« – so die Titelzeile im einblick , dem Infoblatt des DGB-Bundesvorstandes, jüngste Ausgabe. Überschrieben ist damit der offizielle gewerkschaftliche Kommentar zum Koalitionsvertrag des Regierungsbündnisses von CDU/CSU und SPD. Am ein oder anderen Detail wird zwar Kritik geübt, aber insgesamt äußert der DGB für die politischen Verabredungen der großen Koalition verhaltene Sympathie: »Die Gewerkschaften«, wird zusammengefaßt, »geben Schwarz-Rot eine Chance.« Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, der stets für einen ruhigstellenden Spruch gut ist, wird mit dem Satz zitiert: »Der Koalitionsvertrag ist besser gelungen, als viele gedacht, und schlechter gelungen, als viele erhofft haben.« In der Schulnotengebung also ein »Befriedigend«. Ob die Mitglieder und Funktionäre an der gewerkschaftlichen Basis mit dieser Zensur für die Regierungsvorhaben übereinstimmen? Da gibt einblick keinen Einblick, denn eine Debatte ist in diesem Blatt nicht vorgesehen. Ich erlaube mir aber eine Anregung: Wenn Merkel, Müntefering, Steinbrück, Schäuble und Co. etwas so schön Einheitsgewerkschaftliches zustandegebracht haben, dann könnte man ihnen bei nächster Gelegenheit doch auch die Führung des DGB anvertrauen, nachsommerlich. Marja Winken PeriodikaEine ansehnliche linke Fraktion im Deutschen Bundestag, eine PDS und WASG vereinende Linkspartei in spe – aber kommt damit ein Wandel der politischen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik in Gang? Was können parlamentarische Bemühungen erbringen, wenn das Parlament kaum noch etwas zu sagen hat? Und findet die Linkspartei eine Basis in sozialen Bewegungen? Solche Fragen werden gründlich behandelt in Beiträgen von Bernd Hüttner, Arno Klönne und Ekkehard Lieberam im jüngsten Heft der Zeitschrift Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung . In derselben Ausgabe finden sich Aufsätze zum Zusammenhang von Rüstungspolitik und Kapitalinteressen, einem zur Zeit auch in der Linken vernachlässigten Thema, ferner Berichte zur Sozialpolitik und zu Problemen gewerkschaftlicher Organisation. ( Z. Nr. 64, Bezug: Postfach 500936, 60397 Frankfurt am Main) Red. Das eigentliche KriegszielWenn ein Autor schreibt: »Das Ziel der NATO war die Demokratisierung Jugoslawiens«, wenn er diese Behauptung allen Ernstes verabsulutiert: »Die Demokratisierung wurde somit das alleinige Leitmotiv der NATO-Politik und bestimmte das Verhältnis der NATO zu Jugoslawien und Serbien« und wenn er nach einer solchen Analyse den eben mit Hilfe der NATO herbeigeführten Sturz von Slobodan Milosevic preist und konstatiert: »Am Ende der Entwicklung, am 5. Oktober 2000, siegte mit Zoran Djindjic endlich die ersehnte Demokra-tie auch in Serbien...«, dann wird jeder, der sich genauer erinnert, jeder, der die völkerrechtlichen Prinzipien der Selbst-bestimmung, Unabhängigkeit, Souverä-nität achtet, jeder, den die Zerschlagung der Sozialistischen Föderativen Repu-blik und ihres Selbsverwaltungssystems noch immer schmerzt, geneigt sein, das Buch – er ist ja erst auf Seite 22 ange-langt – aus der Hand zu legen. Das jedoch wäre ein Fehler, denn der Djin-djic-Sympathisant Djordje Joncic kommt in seinem Buch »1989 – Schicksalsjahr Jugoslawiens« zu Schlußfolgerungen, die hierzulande noch immer selten zu lesen sind. Entschieden wendet er sich gegen die Auffassung, daß der Nationalismus die treibende Kraft hinter der zerstörerischen Dynamik der Geschehnisse in Ex-Jugoslawien gewesen und von Milosevic instrumentalisiert worden sei: »Man be-hauptet sogar«, so Joncic, »daß Milose-vic alles nur aus nationalistischen Be-weggründen tat. Das eigentliche Pro-blem aber waren seine kommunistische Ideologie und er selbst als Person.« Joncic ist ein scharfer Kritiker der serbischen Sozialisten. Aber bis zu einem gewissen Punkt ist seine Argumentation schlüssig, wenn er über die Zeit unmit-telbar nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation schreibt: »Die Gegner der NATO-Partner waren nicht mehr der sowjetische Kommunismus und der Ostblock, sondern es war das politische System in Serbien, das heißt das kommunistische Überbleibsel in Europa... Dieser Konflikt blieb nicht nur auf dem Niveau der Worte, so wie es zu Zeiten des ›Kalten Krieges‹ war, sondern der ›Kalte Krieg‹ verwandelte sich in einen ›heißen‹. Natürlich lag der Hauptgrund darin, daß der ›Gegner‹ (Serbien) jetzt unvergleichbar schwächer war als der Gegner zur Zeit des ›Kalten Krieges‹. Von Anfang an, oder von 1989 an, störte die NATO, daß der Politiker in Belgrad bereit war, seinen eigenen politischen Weg zu gehen. Die Sowjetunion war dabei, ihr bisheriges politisches System aufzugeben. Milosevic in Belgrad je-doch wollte sich auf keinen Fall von ihm trennen. Die NATO wollte aber keinen Sozialismus in Belgrad dulden... Eine kommunistische Partei in Belgrad wollte jedoch mit aller Macht den Sozialismus in Serbien erhalten. Genau diese Tatsa-che war von Anfang an tödlich für die Sozialistische Föderative Republik Jugo-slawien und später für die Bundesrepublik Jugoslawien.« An diesem Punkt seiner Analyse an-gelangt, vollführt der Autor einen beein-druckenden Salto rückwärts. Statt die völkerrechtswidrige Einmischungs- und Kriegspolitik der NATO-Staaten, »die das sozialistische System beseitigen wollten« und »im Namen der Demokratie den Zerfall Jugoslawiens in Kauf nahmen«, zu verurteilen, wirft er der von Milosevic geführten Partei vor, daß sie nicht nur Jugoslawien als Föderation, sondern »unglücklicherweise auch das politische System, also den Sozialismus, erhalten« wollte. Auch wenn diese Diagnose des Autors, der offenkundig alles andere als ein Freund der Sozialisten ist, als Hauptvorwurf an die Sozialistische Partei Serbiens daherkommt, so trifft sie doch den wahren Kern der NATO-Politik gegenüber Jugoslawien und der jugoslawischen Tragödie, den selbst nicht wenige Sozialisten in Deutschland bis zum heutigen Tage nicht sehen wollen. Daß es der NATO bei ihren Interventionen in den jugoslawischen Bürgerkrieg und ihren 78tägigen barbarischen »Luftschlägen« auf Restjugoslawien doch nicht um einen Kampf gegen den serbischen Nationalismus ging, illustriert Joncic mit zahlreichen Zitaten aus den Jubelerklärungen ihrer damaligen führenden Vertreter zum Sturz Milosevics im Oktober 2000. Er erinnert an die Worte des deutschen Außenministers Joseph Fischer, daß nun endlich »der letzte Rest einer kommunistischen Diktatur gefallen ist«, des US-Präsidenten Bill Clinton, der die Ereignisse in Belgrad mit dem Fall der Berliner Mauer verglich, und der US-Außenministerin Madeleine Albright, die die Hoffnung aussprach, daß sich das serbische Volk endgültig vom Kommunismus befreit. Diese und andere Zitate – das sei in aller Bescheidenheit festgestellt – entnahm der Autor meinem Buch »Die glorreichen Sieger. Die Wende in Bel-grad und die wundersame Ehrenrettung deutscher Angriffskrieger«. Aus meiner Sicht ist das löblich. Noch mehr aber freut es mich, daß er nach der Wieder-gabe des Echos auf die Erstürmung der Skupstina in Belgrad und die mit NATO-Hilfe vollzogene politische Wende in Belgrad aus der gleichen Quelle zi-tiert: »Die ›internationale Gemein-schaft‹, von Bild bis Guardian , von Joseph Fischer bis Madeleine Albright, war ein Jahrzehnt lang gegen den groß-serbischen Nationalismus des verbrecherischen Milosevic-Regimes zu Felde gezogen, um urplötzlich den Sieg über die ›letzte kommunistische Bastion‹ in Europa zu feiern... Erst nach dem Tri-umph teilte sie mit, wer besiegt war: Nicht dem serbischen nationalistischen Drachen hatte man die Köpfe abgeschla-gen, sondern dem letzten kommunisti-schen Ungeheuer in Europa.« Insofern, aber nicht nur deshalb schließe ich mich der Auffassung von Kurt Köpruner an, der das Vorwort schrieb und darin dem Buch »ein breites und kritisches Publi-kum« wünscht. Ralph Hartmann Djordje Joncic: » 1989 – Schicksalsjahr Jugoslawiens. Hintergründe und Ursachen eines Staatszerfalls«, Verlag Books on Demand GmbH, Norderstedt, 116 Seiten, 9.80
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Verbotene OperRhythmisch mit dem Kopf wippende Konzertbesucher, die Solistin durchpulst von den Staccatoakzenten der Streicher, mitgerissen im Schwung schmetternder Trompeten, dann wieder begeistert wie eine Blues-Sängerin swingend – so en-dete der Abend mit Cecilia Bartoli in der bis zum letzten Platz gefüllten Berliner Philharmonie. Standing ovations, Zuga-ben, Jubel, Winken zum langen Ab-schied, Sympathiewogen hin und her. Was ist es, was uns auch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts an der Barockmusik fasziniert? Sie bleibt eine terra incognita, auf der sich immer wieder Neues entdecken läßt und auch das scheinbar Bekannte sich in überraschenden Perspektiven anders zeigt. Das Notenmaterial fordert, ab-hängig von Instrumentarium, Gattung, Temperament, Zeit und Ort, die Kreati-vität aller Interpreten heraus. Oft be-zeichnet der Text nurmehr eine Art Ge-rüst der Aufführung, werden Improvisationslust und musikalische Phantasie gebraucht, um das Werk heute realisieren zu können. Nicht nur genaue Kenntnis gehört dazu, sondern auch Reaktionsvermögen – und Witz. So rückt Barockmusik auffallend nah an den Jazz, an traditionelle Volksmusik und an bestimmte Formen neuer Musik, die einer spätromantisch-überwältigenden Musizierhaltung aufkündigen. Es gibt keine untergeordneten Werte, alles hat transparent und gleichberechtigt wichtig zu sein. Spiritualität und Sinnlichkeit, die in unserer Wahrnehmung gewöhnlich auseinanderdriften, sind hier eins. Ob weltlich oder geistlich, ob konzertant oder dramatisch, Barockmusik verkörpert (heute hieße es: ganzheitlich) die gegensatzgeladene »Harmonie der Welt«. Von harmonia mundi sprach man damals, und dieser Begriff war eine selbstverständliche Grundlage des Kompositionshandwerks jener Epoche. Rom zu Anfang des 18. Jahrhunderts, die Welthauptstadt der Musik. Alles singt und tanzt. Ein neuer Papst tritt auf, sehr kultiviert und gelehrt. Ein eitler, intriganter, schwacher Papst. Der Kir-chenstaat ist in außenpolitischer Be-drängnis, Rom von Erdbeben und Krisen erschüttert. Man greift in die sakrale Trickkiste: »Heilige Jahre« werden ver-kündet, Bußezeiten – schon wird der be-rühmte Römische Karneval verboten. Und alle Theateraufführungen. Vor al-lem die Oper! Einigermaßen verständ-lich, wenn man weiß, daß die öffentli-chen Theater gleichzeitig als Gasthäuser, Spielhöllen, Kontaktbörsen und Bordelle dienten. Doch läßt sich das alles verbieten im heiteren, vergnügten Rom? Schwerlich. Bis heute nicht. Man braucht einen Werbetrick, der heißt: »Verbotene Oper«. Aber Cecilia Bartoli singt keine verbotene Musik, weder auf ihrer neuen CD noch im Konzert. Alles ist erlaubt. Es wurde ja in Auftrag gegeben und bezahlt, sonst wäre es nicht komponiert worden, und darum wurde es auch realisiert. Die Römer damals wußten sich zu helfen, mit Tricks. Man gab Oratorien, geistliche Dramen – und diese fast wie Opern: mit prächtigen Kulissen und Gewändern, in den Palästen Roms, nur ohne szenisches Spiel. Der Text war poesievoll religiös, die Musik sinnenfroh und, wie die Aufführungen selbst, gela-den mit viel Erotik. Damals hätte aber eine Cecilia Bartoli kaum auftreten dürfen. Die Mitwirkung von Frauen war ausdrücklich untersagt: Keine Zurschaustellung weiblicher Verlockungen. Kastrierte Jünglinge sangen die Frauenpartien. Man trieb den Teufel mit Beelzebub aus. Es knisterten nicht nur die Seidenstoffe. Um so größere Chancen hat Cecilia Bartoli im Berlin des Jahres 2005. Der berühmte Funken, nach dem auch das Zürcher Spezialorchester benannt ist, das sie mitreißend begleitet, La Scintilla, springt über, nicht zuletzt, weil die Sängerin ihre Begeisterung für diese Musik kaum zu bändigen scheint und ihre Freude daran von Anfang an alle ansteckt. Die Koloraturen funkeln punktgenau, sie singt perfekt, aber auch voll Ausdruck, Wärme, Vergnügen, Leidenschaft, Tiefe. Berückend gerade im Leisen, ohne Begleitung. Sie selber ist auf Entdeckung nach vergessenen Werken Alessandro Scar-lattis und Antonio Caldaras gegangen, hat sich mit den Quellen befaßt und präsentiert ihre Schätze mit berechtigtem Stolz – denn die beiden alten Römer haben großartige Musik geschrieben und Georg Friedrich Händel nicht minder, Anfang Zwanzig damals, in seinem ersten Oratorium vom »Triumph der Zeit und Desillusionierung« – geniale Melodien. Übrigens: Eben jener Papst Clemens VII., der in Rom die Oper verbot, lei-stete einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Rechtsprechung: Er führte die Idee der Besserung und Fürsorge gegen das Prinzip der Bestrafung und Vergeltung ein. Revolutionär. Und leider heute noch brisant. Ein Papst als Wegbereiter der Aufklärung – so widersprüchlich ist unsere Welt. Olaf Brühl
GruselkabarettViele Leute holen sich aus der Videothek Gruselfilme, um im eigenen Wohnzimmer das Fürchten zu lernen. Aber was sie da zu sehen bekommen, reicht nicht an die Realität heran, die uns Diet-rich Kittner auf seinem Video »Rundschlag« (auch als DVD erhältlich) zumutet. Er befaßt sich zum Beispiel mit Tucholskys Diktum »Soldaten sind Mörder« und widerspricht: Dies sei eine Beleidigung der richtigen Mörder, denn die hätten ein Motiv, der Soldat dagegen dürfe gar kein persönliches Motiv haben, sondern müsse ganz kalt killen. Kann ein noch so schaurig ersonnener Horror aus Hollywood schauriger sein als diese ganz gegenwärtige Wahrheit, die mit einem Zitat von General Günzel, dem zeitweiligen Befehlshaber des Kommandos Spezialkräfte (KSK), unterlegt ist: Er erwarte von seiner Truppe »Disziplin wie bei der Waffen-SS«? US-amerikanische Waffeninspekteure suchen in sogenannten Schurkenstaaten nach Massenvernichtungsmitteln, die dem Präsidenten in Washington zur Begründung eines Angriffskrieges dienen könnten. Eine frustrierende Arbeit. Wochen, Monate, Jahre suchen sie und finden nichts dergleichen. Kittner empfiehlt: Sie sollen doch einfach zu Hause in den USA suchen, um endlich Erfolgserlebnisse zu haben. Ein Witz? Schreckliche Wahrheit. Schrecklicher noch: Präsident Bush, mit allem anderen als mit Witz begnadet, begründet schließlich den Angriffskrieg damit, daß Massenvernichtungsmittel nicht gefunden wurden, denn damit sei bewiesen, daß sie versteckt gehalten würden. Übersteigt solcher Wahnsinn nicht alle Vorstellungskraft? Gelegentlich, wenn Kittner eine knappe Tatsachenfeststellung getroffen hat – zum Beispiel daß der sogenannte Verfassungsschutz der Dachverband aller Nazi-Organisationen ist –, legt er eine kurze Pause ein und überlegt, ob sein Publikum wohl noch bereit ist, ihm zu folgen, oder ob es seine Darstellung für »überzogen« hält. Begütigend gesteht er dann zu, daß es möglicherweise bundesweit noch vier Nazis gibt, die nicht aus unseren Steuergeldern bezahlt werden. Nicht ganz wörtlich zu nehmen ist Kittners Behauptung, die Bundesregierung habe per Dienstanweisung geregelt, daß Firmen, die klotzig Geld verdienen, keine Steuern zahlen dürfen. In Wirklichkeit bedarf es dazu längst keiner Dienstanweisung mehr. Realistischerweise läßt Kittner gegenüber all diesem Horror kaum Hoffnung aufkommen. Er versucht es einmal, indem er auf Lysistrata hinweist: Deren Methode sei die einzig wirksame friedenserzwingende Maßnahme. Ach, vorüber, lange vorüber sind die Zeiten, als Krieg noch Männersache war. Nicht verschwiegen sei, daß Kittner wie meist auf der Bühne so auch hier im Film, den er selber inszeniert hat, seiner Neigung nachgibt, uns immer noch und noch ein bißchen mehr zu bieten, wenn es eigentlich längst genug war. Der Film läuft mehr als dreieinhalb Stunden. Evelyn Enzian Dietrich Kittner: »Rundschlag«, edition logischer garten, Bischofsholer Damm 88, 30173 Hannover, www.dietrich-kittner.de, 18 Zum Jahresabschluß spielt Dietrich Kittner sein Programm » Jahresabschuß « am 31. Dezember um 17.15 Uhr und um 20.30 Uhr im Künstlerhaus Hannover.
An die LokalpresseIch bin zwar mit meinen 63 Jahren noch ganz fit, aber man muß einige Jahre vorausdenken, denn die Kraft läßt nach, in den Gelenken beginnt es zu knirschen, und wer will denn schon seinen Kindern zur Last fallen, wenn er vorn und hinten nicht mehr hochkommt. Deshalb hab‘ ich mich mal erkundigt, wie viel für so einen Platz in einem Seniorenheim oder gar in einer Seniorenresidenz zu berappen wäre. Ich hab‘ stillgelegte ehemalige Kollegen in verschiedenen Alteneinrichtungen besucht, mich dort heimlich umgesehen, mir Prospekte unter den Nagel gerissen und viel rumtelefoniert. Und gerade in dieser Zeit hat unsere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt erklärt, daß ein bundesdeutscher Heimplatz täglich durchschnittlich 200 Euro kostet. Das ist natürlich ein ganz schöner Hammer, und deshalb habe ich überlegt, wie ich meine alten Tage billiger und trotzdem möglichst angenehm verbringen kann. Dabei ist mir ein Werbeblatt für Reisen auf Kreuzfahrtschiffen in die Hände gefallen. Auf dem Luxusliner »Aida« beispielsweise kann man Reisen in die Karibik oder sonstwohin für täglich 135 Euro buchen, spart also im Vergleich zum Seniorenstift 65 Euro ein. Und dazu lernt man ferne Gegenden und interessante Menschen kennen, ist nicht Patient, sondern König, wird von vorn und hinten betreut, muß nicht um jeden Handgriff bitten, kann Swimming-Pools und Fitneßräume benutzen und täglich Kultur- und Show-Events genießen. Sollte ich bei einer Tanzparty doch mal auf das Salonparkett knallen und mir die Rippen brechen, werde ich nicht auf die Unfallstation abgeschoben, sondern in meiner eigenen Suite unentgeltlich vom Schiffsarzt behandelt. Und wenn es trotz dieser Annehmlichkeiten irgendwann zu Ende geht, kriege ich eine Seebestattung, nach der sich manch einer die Finger lecken würde. Seitdem studiere ich die Tourenangebote der Kreuzfahrtschiffe und stelle mir prophylaktisch die Routen zusammen. Sie glauben gar nicht, wie jung ich mich dabei fühle. - Paul-Gerhard Seniorow-sky (63), Bilanzbuchhalter i. R., 09623 Rechenberg-Bienenmühle * Es war für mich ein großes Erlebnis, den ehemaligen »Golf« unseres Papa Ratzinger in Berlin betrachten zu dürfen! Der frühere Dienstwagen seiner Heiligkeit war im Sony-Center auf dem Potsdamer Platz ausgestellt. Zuerst habe ich mich über die Gläubigen gewundert, die ihn bestaunten, denn das Auto sieht auch nicht anders aus als andere Volkswagen dieser Klasse. Dann habe ich mir aber gedacht, daß schon etwas Besonderes daran sein muß, sonst würden doch die Leute nicht so strömen. Ich denke mir, es wird mit den Benzinpreisen zusammenhängen. Seitdem der Sprit von Tag zu Tag teurer wird, hoffen die Fahrer wahrscheinlich, daß die Treibstoffsteuer in die Kirchensteuer einfließt. – Hellmut Himmlisch (62), Küster, 42579 Heiligkirchen * Die Zeitschrift Stern bringt mich ernsthaft ins Grübeln. Da befaßt sich ein längerer Artikel mit der Talenteförderung in der Schule, und das läßt einen altgedienten Schulmann natürlich nicht kalt. Als Lehrer, der bis zu seiner Pensionierung vor allem im Fach Mathematik tätig war, komme ich aber mit einem Beitrag über ein besonderes mathematisches Talent nicht zurecht. Kann mir vielleicht die Redaktion helfen? Da ist die Rede von einer 19jährigen Schülerin aus Sonthofen, die eine Bronzemedaille bei der Mathematik-Olympiade erreicht hat. Dazu kann ich ihr nur gratulieren, denn die Anforderungen bei diesen Leistungsausscheiden sind nicht gerade von Pappe, das kann ich einschätzen. Gleichzeitig wird jedoch hervorge-hoben, daß Annika – so heißt das Mathe-As – einen Abi-Schnitt von 0,7 erreicht hat. 0,7! Kann mir jemand erklären, wie das möglich ist? Hat man vielleicht seit meinem Weggang aus der Schule die Zensurenskala um die Note 0 erweitert? Oder hat sich Annika im Eifer des Zensurengefechts selber verrechnet? Sowas soll ja selbst bei Hochbegabungen ab und zu mal vorkommen! Oder ist parallel zur Rechtschreibreform eine Ziffernreform durchgeführt worden? Das kann ich mir auch schlecht vorstellen, denn bei den jahrelangen Streitereien um die veränderten Schreib-regeln kann man so was doch nicht klammheimlich durchdrücken! Ich bitte höflichst um ein wenig Nachhilfeunterricht. – Günter Abraham Riese (68), Lehrer i. R., 18196 Dummerstorf Wolfgang Helfritsch
StalinWar Stalin ein »roter Zar«, wie er im Titel des hier zu besprechenden Buches genannt wird? Die Analogie ist fragwürdig. Die soziale Grundlage für den Zarismus bildeten die Großgrundbesitzer, die ihre Fron aus den leibeigenen Bauern preßten; sie drohte zu zerbrechen, als sich als neue Klasse die Bourgeoisie entwickelte und mit ihr die Arbeiterklasse. Was aber war die Grundlage für die Herrschaft des »roten Zaren«? Der junge britische Stalin-Biograph Simon Sebag Montefiore setzt zwischen alle Herrscher – ob Zar, ob Stalin, ob Hitler – einfach Gleichheitszeichen. Daß jeder von ihnen viele Tausende Menschen hat ermorden lassen, erklärt den Stalinismus nicht. Wie konnte aus einer Revolution, die den Zarismus stürzte und sich zum Ziel gesetzt hatte, die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen abzuschaffen, die Schreckensherrschaft Stalins hervorgehen? Die Antwort darauf wäre bedeutsam für die künftige Geschichte aller Menschen, die den Kapitalismus überwinden wollen. Ein wichtiges Element der Antwort sollte man in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA und Japan suchen, den Ländern, die sofort nach der Revolution militärisch intervenierten und den Bolschewismus zwangen, sich ebenfalls zu militarisieren, um sein bloßes Existenzrecht zu verteidigen. Doch das interessiert diesen Biographen wenig. Er schildert in seinem akribisch recherchierten Buch einen hoch neurotischen Stalin, der durchaus liebevoll mit seiner Frau umgehen konnte; ihren Selbstmord konnte er nie richtig verwinden. Keiner, so Montefiore habe sich getraut, dem intelligenten und mit einem hervorragenden Gedächtnis ausgestatteten Stalin zu widersprechen. Dieser sei von bolschewistischen Saufbolden, Schürzenjägern und Kriechern umgeben gewesen, die bei der geringsten Abweichung von seiner Meinung mit Erschießung hätten rechnen müssen. »Allein Molotow sprach mit seinem Chef wie unter seinesgleichen.« Montefiore hat eine Operninszenierung, aber keine Biographie vorgelegt. Auf vieles, zum Beispiel auf Stalins Bücher, läßt er sich gar nicht ein. »Der Marxismus faßt die Gesetze der Wissenschaft – ganz gleich, ob es sich um Gesetze der Naturwissenschaft oder der politischen Ökonomie handelt – als solche objektiver, unabhängig vom Willen der Menschen vor sich gehender Prozesse auf.« Diesen Stalin-Satz zitiert Ernst Bloch in seinem »Prinzip Hoffnung« durchaus zustimmend und schränkt nur milde ein, hier werde »zu einseitig fast alles auf die Objektseite geworfen«. Solche Milde ist sicher seiner Hoffnung auf die damalige Sowjetunion zuzuschreiben. In diesem programmatischen Satz Stalins schimmert aber die Ursache für die massenhafte »Liquidierung« von Menschen durch. Wenn Stalin die Ökonomie analog zu den kausal sich vollziehenden Naturgesetzen versteht, also ohne Subjekt, dann bleibt doch zu fragen: Wer oder was setzte die Kausalität der Ökonomie in Schwung? Stalin? Die Partei? Stalins Tote lasten schwer auf der Geschichte des Sozialismus, doch wer sie einfach dem Irrsinn eines Diktators zuschreibt, wie Montefiore es tut, trägt nicht zur Klärung dieser Katastrophe bei, sondern zu deren Banalisierung. Als Nachfolger Lenins wollte Stalin den Sozialismus durch Industrialisierung des Landes erzielen, die ihm mit entrechteten Sklavenarbeitern schon 1936 teilweise gelang. Nichts davon ist in diesem Buch zu lesen. Montefiores Quellenforschung dient nur dazu, die kleinsten, widerlichsten Gehässigkeiten verwahrloster Machthaber wiederzugeben. Zu lernen ist daraus nichts. Jürgen Meier Simon Sebag Montefiore: »Stalin – Am Hof des roten Zaren«, aus dem Englischen von Hans Günter Holl, S. Fischer Verlag, 873 Seiten, 24.90€
Ora et laboraUnlängst hat die dreißigjährige Tochter eines Bekannten aus DDR-Zeiten beim gemeinsamen Mittagessen in die Runde hinein gefragt, ob sie ihren Dreijährigen jetzt wohl taufen lassen sollte, das gehöre in diesen Zeiten der Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft doch irgendwie dazu. Später habe ich ihr »Weltbilder« zur ganz persönlichen Entscheidung über diese Frage empfohlen. Nun liest sie das Buch mit dem anspruchsvollen Untertitel »Eine Menschheitsgeschichte«, fast 500 Seiten stark, ein gewaltiges Vorhaben. Karl Lanius ist Naturwissenschaftler, Physiker, ehemals einer der Vizedirektoren im legendären Kernforschungsinstitut Dubna bei Moskau. Ein moderner Wissenschaftler, der sich selbstverständlich auf die neuesten Erkenntnisse der jeweiligen Spezialisten bezieht. Deshalb ist das Buch zu seinem Vorteil reich an hervorragend ausgewählten Zitaten. 150 000 Jahre Jäger und Sammler, 30 000 Jahre Ackerbauern und Viehzüchter, 300 Jahre kapitalistische Produktionsweise: Die langen Zeiträume haben die Gattung Homo sapiens geprägt, die sehr kurze Phase am vorläufigen Ende hat sie an Herrschaftsverhältnisse anzupassen versucht, die ihrer ursprünglichen Prägung als Gemeinschaft gesellschaftlicher Wesen widersprechen. Zurück also in urkommunistische Verhältnisse? Natürlich nicht. Aber warum sollen auf dem Weg über den Kapitalismus hinaus nicht unsere uralten, besseren Eigenschaften wieder zu ihrem Recht kommen? Ist der vielgeschmähte »Neue Mensch« nicht eigentlich der sehr alte? Wenn man die Kapitel über die Ureinwohner Australiens, Afrikas, der Arktis, über die Irokesen und das glückliche Volk der Trobiander im Stillen Ozean gelesen hat und sich die Entwicklung seitdem vor Augen führt, begreift man, was verloren ist und worum es geht, trotz all des technischen Fortschritts, des weltweiten Informationsflusses, eines für Teile der Menschheit unvergleichbar bequemeren Lebens, aber auch angesichts knapper werdender Ressourcen, einer fast schon irreversiblen Umweltverschmutzung, der zunehmend überflüssigen Lohnarbeit und so weiter. Man versteht, daß dieser Blick zurück in eine herrschaftsfreie Zeit nichts anderes ist als ein Blick nach vorn in eine Zukunft des Überlebens in Würde und mit angemessenem Wohlstand für alle. An Konflikten ist die Geschichte reich – hundertmal haben wir etwas über die ursprüngliche Akkumulation in England gehört – aber was war das denn nun genau? In den »Weltbildern« kann man darüber nachlesen – auch wie die der Profiterzeugung dienende Lohnarbeit zur Lebenspflicht und gar zum Bedürfnis gemacht wurde, während die eigentliche, für alle Zeiten reichlich vorhandene Arbeit immer mehr ins Hintertreffen geriet. Zu einem treuen Helfer bei diesem Anpassungsprozeß wurde die Institution der christlichen Kirche, deren einziger Gott Jahwe nur einer von vielen ist. Auf ihrem politischen Weg aus den Katakomben des untergehenden Römischen Reiches hin zur Leit-Ideologie innnerhalb neuer gesellschaftlicher Verhältnisse mußte aus dem strikten »Du sollst nicht töten« das seitdem ununterbrochen praktizierte »Du darfst töten, wenn es den Interessen der Herrschenden entspricht« werden. In seinem Kapitel »Wissen heute« faßt Lanius die neuesten Erkenntnisse von der Astrophysik bis zur Neurophysiologie zusammen, denen immer neuere folgen werden – für irgendeinen Gott ist dabei kein Plätzchen mehr frei. Ethik und Moral sind unsere eigenen Dinge, wie auch jeder Gott irgendwann unseren eigenen Köpfen entsprungen ist. Warum also kleine Kinder im Namen dieses einen zufälligen Gottes taufen lassen? – Ich bin gespannt, wie die Tochter meines Bekannten sich entscheiden wird.
Karl Lanius: »Weltbilder – Eine Menschheitsgeschichte«, Verlag Faber & Faber, Leipzig, 24,- (als Geschenk vor allem auch für junge Leute geeignet)
Der vergessene Architekt»Er war ein Feind der Dummheit und er konnte es sich leisten, denn Paul Zucker war nicht nur ungewöhnlich klug und ungewöhnlich kultiviert. Er war auch ein weiser Mann, der in Jahrhunderten dachte und doch leidenschaftlich an der Zeit interessiert war, in der er lebte.« Diese Worte fand der Schriftsteller und Publizist Hans Sahl 1971 in einem Nachruf auf Paul Zucker. Der 1888 in Berlin geborene Zucker war der Universalist unter den Baumeistern des 20. Jahrhunderts. Für ihn schienen die Grenzen der Disziplinen aufgehoben. Er arbeitete gleichermaßen erfolgreich als Architekt, Bau- und Kunsthistoriker, Journalist, Kritiker und Hochschullehrer. Er schuf über 60 Projekte, seine Vorbilder waren Peter Behrens, Oskar Kaufmann ( Ossietzky 1/2002), Bruno Paul und Hans Poelzig. Zu seinem thematisch weit gefächerten, fast unüberschaubaren publizistischen Werk gehören ein gutes Dutzend Fachbücher, mehr als 130 Aufsätze, darunter auch populärwissenschaftliche Beiträge in Wissenschaftsmagazinen und Tageszeitungen, und zahlreiche fundierte Buchbesprechungen mit enormer inhaltlicher Spannbreite, zwei davon erschienen in der Weltbühne . Seine Aufge-schlossenheit dem Neuen gegenüber ließ ihn zu einem der ersten Architekten werden, der im Rundfunk Vorträge zu baugeschichtlichen und städtebaulichen Themen hielt. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wurde der deutsch-jüdische Architekt 1937 von den Nazis vertrieben. In seiner zweiten Heimat, den USA, brillierte er an der New School for Social Research und lehrte dort neben Hanns Eisler, Erwin Piscator und Carl Zuckmayer. Seine Werke gehören heute noch zum Quellenkanon an Kunst- und Architekturfakultäten amerikanischer Hochschulen. In Deutschland dagegen war er seit seiner Vertreibung aus der Kulturgeschichte gelöscht. Die in der BRD obwaltende Strategie der »Bewältigung durch Verdrängung« ließ ihn vollends in Vergessenheit geraten. Wolfgang Schäche und Norbert Szymanski haben 34 Jahre nach seinem Tod die wichtigsten Facetten seines reichen architektonischen und publizistischen Schaffens aus der geistigen Verbannung zurückgeholt und in einem mustergültigen Buch zugänglich gemacht. In der Berliner Taubenstraße wurde kürzlich ein von Zucker 1924 umgebautes und aufgestocktes Bankhaus mit einer markanten frühmodernen Fassade wiedereröffnet. Es ist in der Innenstadt wohl das einzig verbliebene Zeugnis deutsch-jüdischer Architektur vor dem Zweiten Weltkrieg. Das Gebäude wird den Namen »Paul-Zucker-Haus« tragen. Herbert Altenburg
Wolfgang Schäche/Norbert Szymanski: »Paul Zucker. Der vergessene Architekt«, Jovis Verlag, 174 Seiten, 24.80
Franz Fühmanns RecherchenZum 20. Jahrestag der DDR hatte der Aufbau-Verlag die Idee, zwei namhafte Schriftsteller auf Fontanes Spuren durch die Mark Brandenburg wandern und die Veränderungen – »insbesondere den Wandel in den letzten beiden Jahrzehnten« – erkunden zu lassen: Joachim Seyppel und Franz Fühmann. Seyppels »Ein Yankee in der Mark. Wanderungen nach Fontane« erschien, wenn auch verspätet, 1970. Von Fühmann wußte man bisher nur, daß er den Auftrag zurückgegeben hat. Er hatte in der Mark Heimat gesucht und war damit gescheitert. Damals lebte und arbeitete er oft einsam und versteckt auf seinem märkischen Waldgrundstück. Aber war das schon Heimat? Fühmann meinte nach anfänglichem redlichem Bemühen, daß das nie Heimat für ihn werden würde. Im Nicht-Finden entdeckte er seine österreichisch/böhmischen Wurzeln. Nach fast 40 Jahren verlegt der Hinstorff-Verlag, bei dem Fühmann zu Lebzeiten und danach eine wirkliche Heimstatt gefunden hat, die Materialsammlung und Notizen. Mehrere Wochen lebte der Dichter in Neuruppin und Umgebung, vergleicht Fontanes Eintragungen mit eigenen Eindrücken, korrigiert den Meister, wenn er sich in der Geschichte der Gutshäuser und -herren nicht kundig genug gemacht hatte, und sucht vor allem die Begegnung mit den Märkern und ihren Problemen. Da gibt es ein Lehrlingsheim, das Fühmanns Neugier weckt, Streit zwischen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und einem Volksgut, Wohnungsprobleme, miserable Gastronomie, neue und alte Funktionäre und verschiedene Gerüchte über die Anwesenheit Hitlers am Ende seiner Ära auf einem der Güter. Das Buch ist über 500 Seiten stark und ist doch nur eine Auswahl von den 1900 »Blättern« im Archiv, die Fühmann damals mit Gesprächsnotizen, Exzerpten und kulturgeschichtlichen Studien füllte – ein Beleg seiner Gründlichkeit, seiner Art, in eine Aufgabe ganz eindringen zu wollen. So erhalten wir heute viele Mosaiksteine eines Bildes »DDR-Provinz« – ungeschönt, pur, vielfältig, manchmal verwirrend, manchmal komisch. Die damals nicht veröffentlichten Texte dokumentieren ein Stück Weg vom braven DDR-Autor zu einem Schriftsteller, der mehr und mehr unbequeme Fragen findet und aufgreift. Christel Berger
Franz Fühmann: »Das Ruppiner Tagebuch. Auf den Spuren Theodor Fontanes«, hg. von Barbara Heinze und Peter Dehmel, Hinstorff Verlag, 543 Seiten, 29.90
Patriarch ohne PatriarchatHenry James (1843–1916) war, wie kein anderer seiner Generation, ein meisterlicher Gestalter von Frauenfiguren. In wievielem sie ihm ähnlich waren, das hat Literaturdeuter und ernsthafte Literaturwissenschaftler wie -historiker des späten 20. Jahrhunderts immer wieder beschäftigt. Auch Colm Toibin liebt James. Mehr noch als der sich lieben konnte. Toibin kennt seinen James. Besser noch als der sich kennen wollte, der »seinen schützenden Panzer nicht endgültig abgelegt hatte«. So Toibin wörtlich im elften und letzten Kapitel seines Romans »Porträt des Meisters in mittleren Jahren«. Ein Roman, der sich liest wie ein Roman von Henry James. Von der ersten bis zur letzten Seite ist die Sprache des amerikanisch-englischen Schriftstellers zu vernehmen. Es war kaum mehr nötig, doch ehrlich genug, daß Toibin auf der letzten Seite des Buches bekennt, seinen »Text mit Redewendungen und Sätzen aus dem Werk von Henry James und seiner Familie angereichert« zu haben. Einen Mann in »mittleren Jahren« – welche auch immer das sind – zu porträtieren, bedeutet für den Autor nicht, sich einzuschränken. Er schaut weit über die fünf Jahre von 1895 bis 1899 hinaus, die der Zeitrahmen des Romans sind. »Porträt des Meisters in mittleren Jahren« ist auch ein Familienroman, der vom verbindlichen, verbindenden Familiensinn der James‘ erzählt. Fest verbunden mit seiner Familie war der Junggeselle James, war der Amerikaner in England kein Entwurzelter und Heimatloser. Als Teil einer Sippe war er sich zugleich selbst Familie genug. Ein beispielhaft organisierter bürgerlicher Bürger. Patriarchalisch ohne Patriarchat. Ein Bekannter, der es vorzog, ein Unbekannter zu bleiben. Ein Meister, der nur soviel Bewegung zuließ, daß er hinter keiner Maske schwitzte. Wie das zu machen ist, hat Henry James in seinen Romanen beschrieben und Colm Toibin in seinem Roman über Henry James und dessen Homoerotik. Bernd Heimberger
Colm Toibin: »Porträt des Meisters in mittleren Jahren«, aus dem Englischen von G. und D. Bandini, Carl Hanser Verlag München, 432 Seiten, 24.90
Press-KohlÜberall soll gespart werden, und dies selbst an Lebewesen. So erfuhr ich aus der Zeitung, was ich vorher für völlig undenkbar gehalten hätte, daß nämlich in gewissen Gegenden jeweils vier Männer nur noch eine gemeinsame Nase haben: »Vier Männer erlitten einen Nasenbeinbruch«, meldete Neues Deutschland . Eine Nase, ein Nasenbeinbruch. So ist die chirurgische Behandlung einfacher und billiger zu erledigen. Nach der wünschenswerten Heilung dürfte durch Einsparung von Taschentüchern auch das kollektive Schnauben der Vierlings-Nase preiswerter werden. Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 25/2005 |
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