Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. ScherbenMartin Petersen Meine Großmutter lebt seit über 91 Jahren auf dieser Welt; seit zwei Jahren sitzt sie im Rollstuhl. Als ich mit ihr spazieren fahre und wir eine Straße überqueren, geht ein Mann ganz nah an uns vorbei – Anfang dreißig, sonnengebräunt – und verkündet laut: »Na die macht das wohl auch nicht mehr lange!« Ich rufe ihm hinterher: »Länger als Sie!« Ich weiß, daß meine Antwort falsch ist. Daß es keine richtige Antwort gibt. Dafür aber eine richtige Frage: Was ist in dieser Gesellschaft, das die Köpfe der Menschen so vergiftet, daß sie derartige Bosheiten einfach im Vorübergehen von sich geben? * Ich warte im Einkaufszentrum auf eine Freundin, die im Supermarkt einkauft, und habe es mir auf einem von zwei Lederschemeln bequem gemacht. Ich sehe einen Mann mit wirrem Haar in abgetragener Kleidung, der um einen Verkaufsstand herumstreicht. »Jedes Kleidungsstück 1 « verkündet das Schild darüber. Der Mann entdeckt mich, schlurft zu mir herüber: »Ob Sie vielleicht zwanzig Cent für mich haben? Ich möchte mir ein T-Shirt kaufen, aber ich habe nicht genug Geld.« Eine Minute später kauft sich der Mann das T-Shirt, für einen Euro. * Der Mann setzt sich mit seinem neuen Hemd zu mir. »Sie haben bestimmt schon gemerkt, daß ich seelisch krank bin,« sagt er. Er ist erschöpft, unkonzentriert, unsicher und hungrig – immer wieder schaut er auf den kleinen Pappkarton, den ich in den Händen halte. Eine Plastikgabel und eine Serviette sind auch dabei. »Mögen Sie gebratenes Huhn mit Reis?« frage ich ihn schließlich. Er sagt, nach einer kleinen Pause: »Ich will Ihnen aber nichts wegessen.« Ich erkläre ihm, daß ich mir einfach eine neue Portion holen werde. Er nimmt dankend an. Dann muß ich weiter, meine Freundin ist gerade durch die Kasse gekommen. Im Weggehen denke ich: Dieser Mann ist der Grund, warum sich alles ändern muß. * Als ich Kind war, spielten wir auf Wiesen und in Gärten, die heute zubetoniert sind. Wir kletterten auf Bäume, die längst Parkplätzen weichen mußten. Heute sehe ich wenige spielende Kinder. Selten werden sie nach draußen gelockt, zum Beispiel auf die Erlebniskoppel. Dort haben mehr als zwei Dutzend Vereine die »Mitmachstadt Schleswighausen« erbaut. Die Kinder lernen einen Tag lang unter freiem Himmel, worauf es im Leben wirklich ankommt: aufs Geldverdienen. Sie arbeiten, um die schönen »Schleitaler« zu bekommen, mit denen man sich auf der Koppel ganz viel kaufen kann. Und sie erfahren auch gleich, wer die Bösen sind: die Finanzbeamten, die einfach ohne Gegenleistung ein Drittel des erwirtschafteten Einkommens einsacken. Zwei Jugendliche arbeiten in der Bank von Schleswighausen – und unterschlagen dort über hundert Schleitaler. Da hört das Spiel dann auf, schließlich geht's ums Geld, und die Polizei muß eingreifen. Weil die Planer von Schleswighausen kein Gefängnis eingeplant haben, werden die Straftäter von der Koppel verbannt. Darf man Kindern den Kapitalismus beibringen und sie dann bestrafen, wenn sie das Klauen anfangen? * Die Lokalzeitung hat nachgezählt: In Flensburg halten sich 31 erwachsene Menschen nur dadurch über Wasser, daß sie öffentlich zugängliche Mülleimer nach Pfandflaschen und -dosen durchsuchen. An guten Tagen verdienen sie mit dem Abfall der besser Begüterten 25, an schlechten Tagen drei Euro – für durchschnittlich sechs Stunden anstrengende Arbeit bei Wind und Wetter. Hochgerechnet auf die gesamte Bundesrepublik ergibt das 30 000 Menschen, die in diesem Staat aufs Pfandgeld angewiesen sind. Immerhin, so geht mir durch den Sinn, liegt ihr durchschnittlicher Stundenlohn über zwei Euro, mehr als doppelt so hoch wie Hartz IV. Ein zynischer Gedanke. Beides ist viel zu wenig . Sicher lesen viele Menschen den Zeitungsartikel. Was denken sie sich dabei? * An einem Morgen verpasse ich den Bus, muß also zu Fuß in die Stadt gehen. Ich komme durch eine Straße, die von grünen Altpapier-Tonnen gesäumt ist. Irgendwer hat seine Tonne so vollgestopft, daß der Deckel nicht mehr schließt. Beim Näherkommen sehe ich: Die Tonne quillt über vor Spiegel -Heften aus den 60er und frühen 70er Jahren. Ich fische fast 150 Exemplare heraus, staple sie auf dem Bürgersteig. Viele sehen druckfrisch aus. Viermal laufe ich schwerbepackt nach Hause, schweißtriefend, aber glücklich. Dann schalte ich den großen Ventilator ein, lese und staune: So gut war die Zeitschrift mal! Zwar finde ich viel Staatstragendes, auch Spießiges, aber da sind Texte von Hermann Gremliza, Aufsätze von Heinrich Böll oder Ingrid Zwerenz – und Otto Köhlers großartige Medien-Kolumne. Jetzt bin ich also Spiegel -Leser! Und der einzige auf der Welt, der sich für seine Lektüre nicht schämen muß.
Erschienen in Ossietzky 25/2005 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |