Das geheime Putenflügelfleisch

Felix Mantel

Der Berliner Abgeordnete Ulrich Brinsa (CDU) hat kürzlich geäußert: »Die Lebensmittelaufsicht ist mangelhaft.« Herrn Brinsas Vorstellung von den (milde gesagt) Schlampereien des Lebensmittelhandels im Umgang mit seinen Kunden scheint nebelhaft zu sein. Jene Weintrauben, deren Verzehr von Fachleuten als gesundheitsgefährdend bezeichnet wird, sind nach wie vor im Angebot. Der Grundsatz, demzufolge man keine Ware verderben lassen dürfe, gilt anscheinend auch für Waren, die schon längst verdorben sind. »Das in Berlin sichergestellte Fleisch aus dem in den jüngsten Lebensmittelskandal verwickelten Betrieb in Niedersachsen«, erfuhr man aus der Berliner Zeitung , »ist offenbar nicht verdorben. Das erklärte Roswitha Steinbrenner, Sprecherin der Gesundheitsverwaltung.«

Frau Steinbrenner dürfte wissen, wovon sie spricht, gibt aber vielleicht nicht ihr ganzes Wissen preis. Sie ist ja, wie man weiß, als Sprecherin beschäftigt und somit nicht zu Offenbarungen verpflichtet. Es gibt nahezu in jeder Behörde oder Firma Sprecher beziehungsweise Sprecherinnen, die auf Knopfdruck erklären, was ihre Auftraggeber tun oder lassen. Ein Beruf, der mich neidisch macht. Glücklicherweise kann ich seit vielen Jahren selber sprechen. Da die Mitarbeiter der Gesundheitsverwaltung, wie es scheint, selber nicht sprechen können, haben sie eine Sprecherin engagiert, die uns erklärt, das sichergestellte Fleisch aus dem in den jüngsten Lebensmittelskandal verwickelten Betrieb (der nicht mit seinem Namen genannt wird) sei offenbar nicht verdorben.

Das kann jeder sagen. Vor allem, wenn er als amtlich beglaubigter und zugelassener Sprecher etwas erklärt oder als staatlich diplomierter Erklärer etwas ausspricht. Wenn mein Hund Thilo nach Hundeart die Eingangstreppe des Nachbarn von gegenüber beschmutzt, obwohl der Nachbar dort ein Schild mit dem Hinweis »Diese Treppe ist kein Hunde-Klo« befestigt hat, so lasse ich ihm durch meinen veterinärpädagogischen Sprecher Klaus Bügel erklären: »Es sieht so aus, als ob der im Haushalt des Herrn Mantel ansässige und einwohnende Hund Thilo Mantel offenbar nicht lesen kann.«

Trotz der Geheimnis-Krämerei hat die Presse zwar nicht den Namen der Abdeckerei veröffentlicht, wohl aber den Ort, an dem der ominöse Delikatessen-Vertrieb daheim ist. Die Leckerlis stammen »aus dem niedersächsischen Betrieb im Latrup, in dem der Fleischskandal bekannt geworden ist«. Und in Deutschlands Hauptstadt ist »das Gros der Produkte aus der Geflügelfleischfirma bereits verzehrt worden«. Dabei handelt es sich auch um »7,8 Tonnen Putenflügelfleisch mit Haut«. Putenflügelfleisch. Und sogar mit Haut! Wenn man das liest, läuft einem sogleich das Abwasser im Munde zusammen. Am Rande sei bemerkt, daß der Verkäufer ein recht kräftiger Herr sein dürfte. Denn »Polizei und Staatsanwaltschaft hatten einen Geflügelhändler in der Beußelstraße durchsucht und rund 1,5 Tonnen Fleisch beschlagnahmt«. Diese 1,5 Tonnen Fleisch trug der Athlet aus der Beußelstraße offenbar am eigenen Leib mit sich herum, was die Sache auch nicht appetitlicher macht.

Die oben schon zitierte Sprecherin Steinbrenner erklärte weiter: »Ob allerdings in das Geflügelfleisch in betrügerischer Absicht (in welcher denn sonst?) Wasser gespritzt worden ist, um das Gewicht des Fleisches zu manipulieren«, stehe nicht fest. Dann trank sie einen Schluck Berliner Wasser, das bekanntlich von einwandfreier Qualität ist, und vermutete, es gebe Hinweise, »daß bis zu 30 Prozent Wasser in das Geflügelfleisch gespritzt worden ist. Erlaubt sind acht Prozent .« Nachbarin, euer Fläschchen!

Anno 1945 bezogen wir bei Abgabe sogenannter Fleisch-Marken eine uns zustehende sogenannte Jagdwurst bei dem für uns zuständigen Fleischhändler, dessen Namen ich hier nicht nennen darf, weil er auch damals schon so geheim war wie heute das Putenfleisch. Er hieß Griepentrog. Seine Jagdwurst enthielt bedeutend mehr Wasser als Jägerfleisch, so daß man sie vorm Verzehr auswringen mußte. In den kalten Wintern jener Jahre war das unmöglich: Die Wurst war gefroren.

Vielleicht betreiben Griepentrogs Nachfahren heute eine Eiskonditorei.

Erschienen in Ossietzky 24/2005