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Bemerkungen
Echte Freiheit
Ein Mobilfunkanbieter wirbt in den Straßen Berlins. Die Plakate preisen sogenannte Handy-Flatrates an: Für einen Pauschalbetrag kann man so lange telefonieren, wie man möchte. Die Werbekampagne steht sinnigerweise unter dem Motto »freedom of speech«. Ein Plakat zeigt einen lächelnden jungen Mann. Daneben liest man: »Telefonieren ohne Ende? Das ist echte Redefreiheit!«
So weit haben wir es gebracht: Dauergequassel am Telefon ist die »echte Redefreiheit«. Was aber ist dann die »unechte Redefreiheit«? Etwa wenn ich in der Öffentlichkeit meine politische Meinung sage?
Und was ist, wenn ich meine Telefonrechnung nicht bezahle? Verliere ich dann meine Redefreiheit?
Ungewollt enthüllt dieser Spruch die antidemokratische Logik des Neoliberalismus: Politische Grundrechte hat nur, wer sie sich ökonomisch leisten kann. Die Armen werden sprachlos gemacht. Mundtot. Stefan Hug
Walter Kaufmanns Lektüre
Bullshit Nights – ein reißerischer Titel, zweifellos, jedoch kein trefflicher für das Buch eines Sohnes über seinen Vater. Dem zutrotz, entstanden ist bemerkenswerte Literatur.
Nicht von ungefähr wurde Nick Flynn mit etlichen amerikanischen Stipendien und dem Joyce Osterwell Award des PEN bedacht. Er ist ein höchst eigenwilliger Erzähler, mit unverwechselbarem Stil, der mit knappen, eindringlichen Episoden seine Geschichte voranzutreiben versteht. Seine Geschichte? Es sollte die seines Vaters werden, wurde aber auch die eigene. Eine Autobiographie besonderer Art also, voller Schicksalsschläge, das Auf und Nieder zweier Leben in Boston, eine Großstadtsymphonie mit schrillen Tönen, auch sanften voller Hoffnung, bis ein Crescendo die nächste Katastrophe ahnen läßt.
»Manchmal sah ich, wie mein Vater an einem Gebäude vorbeiging, unterwegs zu einem anderen Nirgendwo. Ich hätte ihm einen Schlüssel geben, ihm ein Plätzchen auf meinem Fußboden anbieten können. Einen Futon. Ein Bett. Doch ich habe es nie getan... Wenn ich dem Ertrinkenden zu Hilfe käme, würde er mich hinabziehen. Ich konnte nicht sein Rettungsfloß sein.«
Ist dies die Geschichte eines Gestrauchelten in der Weltwirtschaftskrise, die eines amerikanischen Obdachlosen der späten zwanziger Jahre? Mitnichten. Nick Flynns anrührendes, wundersames, oft trauriges Werk, das immer dann aufatmen läßt, wenn der Niedergang des Vaters lediglich Schatten auf das Dasein des Sohnes werfen kann, ohne es zu beschädigen, beginnt 1989 und endet im Jahr 2003, in der Gegenwart also, im Boston von heute. Es hat viel Unterstützung erfahren – Flynns Auflistung seiner Dankesschuld ist groß. Es hat all die Unterstützung verdient. Walter Kaufmann
Nick Flynn: »Bullshit Nights. Die Geschichte meines Vaters«, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel, marebuchverlag Hamburg, 337 Seiten, 18 Euro
Rede auf Ruprecht
Der Tod ist nicht das Drama. Dramatisch kann das Sterben sein. Das Drama ist das Leben. So dramatisch der inszenierte Unfalltod des Ruprecht Rademacher auch scheint, Hagen Brandt weiß: Dramatisch war das Leben des Ruprecht Rademacher. Hagen ist Ruprechts Freund. Der einzige. Wohl dem, der einen Menschen seinen Freund nennen kann! Einen wie Hagen, den der »Widersinn, daß Ruprecht nicht mehr lebt« dazu bringt, eine lange Rede auf Ruprecht Rademacher zu halten. Angeboten ist die lange Rede des Hagen Brandt in dem Roman »und geh nicht ohne gruß« von Rudolf Scholz.
Hagen ist der Ich-Erzähler des Romans einer Freundschaft. Die Freundschaft beginnt mit dem Beginn der gemeinsamen Oberschulzeit. Die gemeinsame Lebenszeit wird immer wieder dadurch bestimmt, wer, wann, wie glaubwürdig bleibt. Die Zeit macht es schwer, glaubwürdig zu sein. Vor allem für Ruprecht, den musischen Menschen mit dem malerischen Talent und der Lust, ein Mann des Theaters zu werden. Ruprecht wird Informatiker. Anders Hagen. Der hat nur eine Ambition, und die wird wahr. Hagen, der sich selbst einen Arglosen nennt, wird Journalist einer Bezirksparteizeitung und nicht einmal durch die »Wendeereignisse« um seinen Arbeitsplatz gebracht. Anders Ruprecht, der die Last der Millionen mitträgt, die, aus der DDR entlassen, mit dem Land auch ihre Arbeit verlieren. Der Ich-Erzähler ist das schlichtere, naivere Gemüt, dem die Leser seine Schlichtheit und Naivität glauben müssen. Komplizierter, konsequenter ist Ruprecht. Er begegnet der noch konsequenteren Ka-tharina, die auch Hagen eine Freundin sein wird. Die Liebesgeschichte bringt Konflikte in die Freundschaft, gestattet ihr jedoch nicht das Scheitern. Wesentlich ist: Durch die Katharina-Figur wird der Blick auf die Wirklichkeit der DDR geweitet, was der differenzierten Darstellung nützt.
Der Roman von Rudolf Scholz ist vor allem ein Blick zurück auf und in die DDR. Die Spannungen, die in der DDR reichlich waren, geben dem Roman die Spannung, ihn mit steigender Neugier zu lesen. Er ist das Werk eines Journalisten, ein journalistisches Werk. Wieder und wieder wird berichtet, analysiert, sogar rezensiert. Der Roman hat den Stil, der heute auf den »Seiten 3«-Artikeln der Tageszeitungen üblich ist. Zu wenige der nie gleichgültig lassenden Ereignisse des Romans sind tatsächlich erzählte Ereignisse. »Ruprecht«, so der Ich-Erzähler Hagen, »schien mir über die Schultern zu blicken und jedes Wort einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Das nahm mir die Unbefangenheit, die ich zum Schreiben benötigte.«
Der Roman hat genug Stoff für ein gutes Fernsehdrama. Bernd Heimberger
Rudolf Scholz: »und geh nicht ohne gruß«. ddp goldenbogen Verlag Dresden, 324 Seiten, 19.90
Die Post war gar nicht so still
In Ossietzky 13/05 hat Christel Berger das von Roland Berbig herausgegebene Buch »Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost« als eine »einzige große Fußnote für eine zukünftig zu schreibende deutsche Literaturgeschichte« bezeichnet. Ich möchte einige Überlegungen und Erfahrungen beisteuern.
Was wir ahnten und wußten, wird im Buch vielfach bewiesen: Die Grenze war nicht die Mauer. Die fortschrittlichen Ideen waren so gesamtdeutsch wie europäisch und welthaltig. Der Austausch, die Information, das Kennenlernen waren nicht aufzuhalten. Ich hatte zum Beispiel die in der DDR nicht gedruckten Kafka-Bücher (Briefe, Tagebücher) und viele andere zur Verfügung. Sie kamen mit der Post. Oder Dr. Baunach in Berggießhübel lieh mir Mitscherlich und Fromm. Matthias Creutziger, der Jazzjournalist und Fotograf, gab mir Orwell. Unvergessen sind die Bücherpakete von Bernd Jentzsch aus der Schweiz. Zu Neujahr 1977 langten »Die wunderbaren Jahre« von Reiner Kunze an. Und so weiter. Dreimal wurde ich ins Schriftstellerheim in Petzow delegiert (heute ein unvorstellbarer Luxus: Die Marika-Rökk-Villa gehörte den Schriftstellern). Nachhaltig – unter anderem – die langen Tischgespräche dort mit dem Dostojewski-Übersetzer Werner Creutziger. Eine wichtige Rolle spielte das Radio, der Deutschlandfunk, damals noch auf Mittelwelle. Und mein Buchhändlerdasein und -wirken.
Die Grenze also verlief zwischen den Ideen und Ideologien, die es im Osten und Westen gab, zwischen Fortschritt und Rückschritt, zwischen Schöpferischem und Starrem. So ist es geblieben. Nur sind die Grenzen heute weniger überbrückbar. Der Literaturmarkt versammelt Schund und Kitsch und Kolportage und die Literatur des Trotzes und der Hoffnung.
Zu solchen Gedanken führt das Buch. Und zu traurigen (den Haß hält man zurück). Biermann, Kunze und Kunert wußten genau, daß sie sich rabenschwarz andienen mußten, Kunze ging bis zu Franz Josef Strauß. Im Buch steht, wie er zuerst dorthin ging, an seinem Verlag vorbei, der ihn mit den »Wunderbaren Jahren« zum Millionär gemacht hatte.
Kunze kommt heute noch nicht umhin, Helga und Heinz Knobloch zu erwähnen, die ihm in Berlin Heimat boten, ihn beherbergten und bewirteten. Knobloch nennt er einen »Journalisten«, der ihn unter »verschiedenen Pseudonymen« Rezensionen über »Mathematik- und Aquarienbücher« schreiben ließ. Welche raffiniert verkleinernden Verdrehungen! Der Journalist wird als Feuilletonist und Schriftsteller überleben. Die verschiedenen Pseudonyme waren Jan Kunz und Alexander Ludwig; Jan Kunz war unschwer zu identifizieren, Alexander Ludwig nur etwas schwieriger: Alexander war der Vorname Dubceks, Ludwig der von Svoboda.
Die Mathematik- und Aquarienbücher waren zirka 200 belletristische Werke, die Kunze zwischen 1968 und 1973 in der Wochenpost dank Knobloch besprach, als sonst kein Mensch eine Zeile von ihm nahm, da er am 21. August 1968 aus der Partei ausgetreten war, was ihn ehrt, und in Ungnade gefallen war, was uns nicht abhielt, fest zu ihm zu stehen. Diese Kurzrezensionen waren 22 Maschinenzeilen lang und brachten 80 Mark netto Honorar ein, was nicht übel war. Kunzes Schreiben war damals so prägnant und erfrischend, daß ich – der auch solche Rezensionen schrieb – seine Arbeiten sammelte und später in einem DDR-Reclam-Bändchen herausgeben wollte. Sie liegen noch in meinem Archiv.
Biermann ist der reine Renegat, Kunert ein antikommunistischer Lappaliendichter geworden. Waren sie alle drei Jesuiten des Frühkommunismus, so sind sie nun Jesuiten des Spätkapitalismus.
Werner Standfuß
Schnell alleingelassen
Es war einmal ein Liberaler, der nahm es ernst mit seinen Idealen, also auch mit den Rechten und der Gleichbehandlung der armen, besitzlosen Menschen. Das war vor über 150 Jahren, in der »Vormärz« genannten Zeit, die zur bürgerlichen Revolution von 1848/49 führte. Dieser vor 200 Jahren, am 11. Oktober 1805, in München geborene Mann hieß Gustav von Struve. 42 Jahre später legte er den Adelstitel ab, den er nicht mehr mit seiner Forderung nach einer deutschen Republik vereinbaren konnte. Das Programm, das er zusammen mit Freunden im gleichen Jahr 1847 entworfen hatte und das von den fast tausend Teilnehmern der »Offenburger Konferenz« verabschiedet wurde, war das erste wirkliche Programm der antiaristokratischen und antimonarchistischen Opposition in Deutschland.
Laut einem überlieferten Protokoll nahmen an der Zusammenkunft »Menschen aller Klassen, selbst Bauernknechte und Weibsleute« teil. Die wichtigsten Forderungen waren: freie Wahlen, gerechte Besteuerung, Rechtsgleichheit, Glaubens-, Vereins- und Versammlungsfreiheit.
Aber schon ein Jahr später war es mit der Einigkeit der Opposition vorbei. Und mit Gustav Struves Zugehörigkeit zum liberalen Lager. Denn das Frankfurter Vorparlament von 1848 wurde von den sogenannten Gemäßigten und den Besitzenden dominiert, einer Herrenrunde von Professoren, Hofräten und Unternehmern. Die vertraten zwar mehrere der in Offenburg erhobenen Forderungen, aber von Bildungsgleichheit auch für die unteren Klassen beispielsweise wollten sie nichts wissen. Das Eigentum war für sie unantastbar, ebenso verlangten sie vom Staat den »Schutz einer ungehinderten Entfaltung der industriellen Produktion«, also Schutz vor den entstehenden Arbeitervereinigungen, Schutz für Lohndrückerei und Ausbeutung, Schutz vor Streiks. Und den versprachen sie sich von einer konstitutionellen Monarchie und nicht von einer Republik, wie Gustav Struve sie wollte und vergebens im badischen Lörrach ausgerufen hatte. Der einstige Vorkämpfer eines freiheitlichen und sozialen Staates war schnell allein gelassen, als er die Sache der kleinen Leute vertrat, verlassen von jener Gruppierung, die man getrost als Gründergeneration der heutigen FDP bezeichnen kann. Nach der Niederschlagung der bürgerlichen Revolution 1849 (und gar schon Monate zuvor) arrangierte sie sich schnell mit den herrschenden monarchistischen, aristokratischen und militaristischen Siegern. Immerhin erfüllten die ja ihre Hauptforderung, die da lautet: »Sire, geben Sie Gewerbefreiheit.«
Gustav Struve, der deutsche Gefängnisse von innen kannte, emigrierte in die USA, wo er im Bürgerkrieg auf Seiten der Nordstaaten gegen die Verteidiger der Sklaverei kämpfte.
Kurz vor seinem Tode kehrte er nach Europa zurück. Am 21.8.1871 starb er in Wien, fast vergessen und von den Gesinnungsfreunden der frühen Jahre totgeschwiegen. Bis heute. Die gaben zum Beispiel folgerichtig ihrer »Parteischule« nicht seinen Namen, sondern nannten sie Friedrich-Naumann-Stiftung. Dabei war der Vorzeige-Liberale Naumann (1860 – 1919) ein Imperialist, der vom »deutschen Volkstum« schwärmte und eine der wichtigen Aufgaben der Liberalen darin sah, »den deutschen Einfluß auf der Erdkugel auszudehnen«. Was Profit verhieß. Werner René Schwab
Kreuzberger Notizen
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Press-Kohl
»Ernst Busch wird 100«, behauptet eine Überschrift der Zeitung Neues Deutschland. Das stimmt nicht ganz genau, denn Ernst Busch wäre, falls er da noch gelebt hätte, schon vor fünf Jahren 100 Jahre alt geworden.
Aber hier geht es um etwas ganz anderes. »Die noch von Max Reinhardt gegründete Schauspielschule ›Ernst Busch‹ in Berlin feiert am 2. Oktober ihr 100-jähriges Bestehen.«
Friedbert hat’s mir so erklärt: »Du mußt dir vorstellen, daß Maxe Reinhardt anno 1905 dachte: Mensch, heute müßte der kleine Ernst Busch, aus dem bestimmt mal ein großer Schauspieler wird (ich habe doch eine Nase für sowas), gerade fünf Jahre alt sein. Da werde ich die Schauspielschule, die ich soeben gründe, einfach gleich nach Ernstchen benennen! Recht hat er behalten, stimmt’s?«
*
»Wir sind schon ein Jahr zusammen. Aber mit einem gemeinsamen Orgasmus hat es noch nicht geklappt. Machen wir etwas falsch?« Danach erkundigte sich ein Pärchen bei SuperIllu. Der für solche Fragen zuständige Fachmann antwortete unter anderem:
»... Der gemeinsame Höhepunkt gehört zu den sexuellen Mythen, die sich erzählt werden.«
Wegen dieses scheinbar schlichten, indes tiefsinnigen, fulminanten und die Problematik des menschlichen Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen präzis treffenden Satzes, der sich mir wie eine Mythe noch immer erzählt werden wird, müßte sein Verfasser Kurt Starke sofort zum Doktor ernannt werden.
Zu spät. Denn dieser wissenschaftliche Stilist ist Professor Kurt Starke.
Felix Mantel
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Die am Anfang dieses Heftes stehenden Beiträge der Berliner Professoren Gregor Schirmer, Thomas Kuczynski und Peter Grottian zum Thema »Soziale Menschenrechte – gibt’s die« gehen auf die Vorträge zurück, die sie am 3. Oktober in der Carl-von-Ossietzky-Geburts-tagsmatinee der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Redaktion Ossietzky gehalten haben. Red.
Erschienen in Ossietzky 21/2005
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