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Theater und Revolution in Brasilien
Jochanan Trilse-Finkelstein
Jüngst schlugen Herz und Puls des Welttheaters an fünf Abenden in Berlin – Theater vom höchsten Niveau, das international zu finden ist: das 1968 gegründete Teatro Oficina Uzyna Uzona aus Sao Paulo (Brasilien) unter der Leitung von José Celso Martinez Correa, genannt Zé Celso.
Die Spielfläche ist ein 40 Meter langer, nur wenige Meter breiter Weg – in Sao Paulo in einer Fabrikhalle, in Berlin in der weitgehend umgeräumten Volksbühne am Luxemburgplatz, wo der Spielweg vom tiefsten Bühnenhintergrund bis auf den Rang führte. Da das Publikum von seinen Plätzen aus nicht alles sehen konnte, filmte ein Kameramann auf der Szene, den Spielern hautnah, die Handlungen, die synchron über mehrere Monitore zu sehen waren.
Das fünfteilige Stück (der fünfte Teil noch fragmentarisch) hat den Namen »Krieg im Sertao«. Sertao bedeutet das Landesinnere, auch die Steppe und ist eine wenig bewohnte, schwer zugängliche Gegend im Nordosten Brasiliens.
Im ersten Teil (»Das Land«) entsteht die Welt, die Erde, das Wasser, die Felsen, die Pflanzen, Blumen und Bäume, die Tiere, endlich der Mensch und seine Gesellschaft, als die hier stellvertretend die Stadt Canudos erscheint. Die 40 Meter sind die Welt, weil sie die Bühne der Welt sind. Eine Welt der Phantasie. Wie aus dem Flugzeug sieht man die Felsen wachsen, und ein blaues Band ist Wasser, ein Fluß, der Amazonas. Ein Schauspieler spielt einen Baum, eine zarte Schauspielerin eine Blume – nie werde ich das zartschöne Bild vergessen, wie eine Bromelie entsteht. Der Mensch wird nach dem alten Mythos zunächst aus Lehm geformt, dann gezeugt in einem Liebesakt.
Besonders im zweiten Teil (»Der Mensch 1«) gehört das Kopulieren zur Handlung – als Metapher, wie aus den Urbewohnern, den Tupy-Indianern, den Portugiesen, Holländern, Schwarzafrikanern (als Sklaven importiert) der Brasilianer entsteht. Gegen Ende beginnt langsam die Revolte, vor allem mit dem Auftreten von Antonio Conselheiro, Wanderprediger und Gründer von Canudos.
In »Der Mensch 2« formiert sich eine andere Bewegung der Sertanejos unter der Führung von Antonio Maciel, die Bewegung des Aufbaus, der Bewässerung, des Kampfes gegen die Dürre und gegen die Bourgeois-Republik. Die »Conselheiristas« gestalten Canudos zum Lebensort für 25 000 Menschen, bauen eine »kollektivökonomisch organisierte Siedlung«, entwickeln ein kommunistisches Modell. Die Gegner konstituieren sich schnell – unter Führung der katholischen Kirche. Deren Vormann, der Missionar Frei Evangelista, verflucht Canudos.
Im vierten Teil (»Der Kampf 1«), schickt die Regierung drei militärische Expeditionen, eine größer als die andere, kommandiert von einem Hauptmann, dann von einem Major, schließlich von einem besonders gewalttätigen Obristen, der SS-Assoziationen auslöst. Alle unterliegen – trotz moderner und immer schwererer Waffen – den tapferen Partisanen des Sertao.
Im letzten – noch nicht abgeschlossenen – Teil (»Der Kampf 2«) überwältigt schließlich eine ganze Armee mit Krupp-Geschützen in einem Massaker die Sertanejos, Conselheiro fällt. Dieser letzte Abend war eher eine Probe; gespielt wurden nur wenige, bereits arrangierte Szenen, der Schauspieler Martin Wuttke las ein Kapitel aus dem Buch »Os sertoes« (Die Steppe) des brasilianischen Nationalschriftstellers Euclides Rodrigues Pimento da Cunha (1866 – 1909), der selbst am Krieg gegen Sertao teilgenommen und später an der Seite der Arbeiterbewegung sozialistische Vorstellungen entwickelt hatte. Wie dieses Riesendrama im Vorgeschichtlichen begonnen hatte, so endet es – nach der Tragödie – mit einer Vision des Kommenden, zumindest Möglichen: der Revolution. Doch das werden wir erst im nächsten Jahr sehen, wenn Teatro Oficina wiederkommt.
Diese 24 Stunden Theater an fünf Abenden waren anstrengend für alle im Raum und keinen Augenblick langweilig. Wie haben dieses Ensemble und sein Regisseur Zé Celso das gemacht? Eine Szene im zweiten Teil enthält einen Hinweis. Da tritt der Bischof Sardinha auf, um rebellische Urbewohner namens der christlichen Ordo zum Gehorsam zu zwingen. Er fällt Kannibalen in die Hände, wird seiner Würden entkleidet, erscheint als nackter und schwacher Mensch (außergewöhnliche Leistung eines Schauspielers) und soll ritueller Menschenfresserei geopfert werden. Das Aufessen gilt als »Einverleibung des heiligen Feindes« wie das Aufgefressenwerden als Eindringen in den Feind. In diesem Sinne arbeitet das anthropophage Theater Oficina. Es verleibt sich alles ein, was es an Kultur, Kunst, Literatur, Theater und überhaupt an Tradition gibt – den Chor der griechischen Tragödie oder die Lieder, die in Sao Paulo gesungen werden, Karneval oder Trauerfeier, Beckett oder Brecht, das politische Theater Piscators oder die Psychologie eines Tschechow, ob Ballett, Pantomime, Clownerie, Akrobatik, alles konnten wir hier sehen. Die – meist jungen – Schauspieler konnten fechten, tanzen, singen, springen und spielen, daß es eine Lust war. Ausstattung, Möbel, Requisiten, Kostüme waren so sparsam wie möglich und so opulent wie nötig und immer sinnreich. Exzellent die Lichtregie, präzise die Tonregie (allerdings manchmal zu laut). Großartig die Synchronität aller Handlungen und technischen Aktionen. Ein Ensemble von unglaublicher Genauigkeit in aller Mechanik und dabei immer voller Leben, voller Kraft und Überzeugung.
Kontext:
Erschienen in Ossietzky 21/2005
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