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Stolz auf den Aufbau Ost
Ralph Hartmann
»So wie wir nach dem Ende des von der ersten deutschen Diktatur ausgelösten Krieges unser zerstörtes Land wieder aufbauen mußten, so müssen wir heute nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur ... die neuen Länder wieder aufbauen.« Dieser richtungsweisende Satz stammt von einem erwiesenen Fachmann für Zerstörung und Wiederaufbau, dem letzten Minister für Abrüstung und nationale Verteidigung der DDR, Pfarrer Rainer Eppelmann. Formuliert hat er ihn am 17. Juni 1998 auf der 240. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages, auf der der Bericht der nach ihm benannten Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« behandelt und bestätigt wurde.
Mittlerweile sind 15 Jahre seit dem Tag vergangen, an dem vor jubelndem Volke am Reichstagsgebäude in Berlin die überdimensionale schwarz-rot-goldene Einheitsfahne aufstieg und der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker überglücklich ausrief: »Die Freude, die wir empfinden, sie ist ein Götterfunken.« Anfang Oktober war es wieder einmal Zeit, den Götterfunken leuchten zu sehen und das »im Prozeß der deutschen Einheit« und beim »Aufbau Ost« Vollbrachte zu bilanzieren, dieses Mal für den Zeitraum 1990 bis 2005. Von Amts wegen übernahmen diese Aufgabe die Präsidenten des Staates, des Parlaments und des Bundesrates. Alle sprachen von noch nicht völlig erfüllten Erwartungen, von Rückschlägen und Entmutigungen gar, aber natürlich vor allem vom Erreichten, wobei sie sich nach umgekehrter Rangfolge steigerten. Laut Horst Köhler »haben wir viel erreicht«, nach Meinung von Wolfgang Thierse »ist sehr viel erreicht worden«, und nach den Worten von Matthias Platzeck »ist Großartiges in vergleichsweise kurzer Zeit geleistet worden«. Übertroffen wurden die drei amtierenden von einem Präsidenten in spe, dem zukünftigen Vize-Präsidenten des Bundestages, Linksparteichef Lothar Bisky, der sehr zum Erstaunen mancher seiner Parteifreunde von einer »gewaltigen Aufbauleistung« sprach. Viel, sehr viel, großartig, gewaltig...
Doch keiner der Staatsmänner wiederholte die Einschätzung des ehemaligen CDU-Generalsekretärs und Rote-Socken-Bekämpfers Peter Hintze, der Ende der neunziger Jahre den »Aufbau Ost« als die »beeindruckendste Erfolgsgeschichte des Jahrhunderts« bezeichnet hatte. Das ist verwunderlich, sprechen doch die Tatsachen eine ebenso deutliche wie überzeugende Sprache: Innerhalb von 15 Jahren wuchs die Industrieproduktion um mehr als 400 Prozent. Allein in den letzten zehn Jahren verdreifachte sie sich. Das gesellschaftliche Bruttoprodukt stieg im gleichen Zeitraum von 50 Milliarden auf 150 Milliarden DM. Im Prozeß dieses Aufschwungs wurden zahlreiche neue Großbetriebe der Petrolchemie, der Metallurgie, des Maschinen- und Schiffbaues, Talsperren, Elektrizitätswerke und ein moderner Überseehafen errichtet. Es herrscht ein akuter Arbeitskräftemangel. Auf dem ostdeutschen Territorium, das nicht einmal ein Viertel der Gesamtfläche des untergegangenen früheren Deutschen Reiches umfaßt, werden 90 Prozent der Industrieproduktion ganz Deutschlands vom Jahre 1936 hergestellt. In fünf Jahren und zwei Monaten wurde in der Industrie der Vorkriegsstand erreicht...
Stop! Ich muß mich bei den Ossietzky-Leserinnen und -Lesern entschuldigen. Mir ist ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. In der Eile der Niederschrift sind meine Notizzettel durcheinandergeraten. Bei den angeführten Daten handelt es sich zwar um den wirtschaftlichen Aufschwung in Ostdeutschland innerhalb von 15 Jahren, allerdings nicht im Zeitraum von 1990 bis 2005, sondern in dem von 1945 bis 1960. Er vollzog sich bekanntlich auf den Trümmern, die das Naziregime hinterlassen hatte – trotz der schmerzlichen Demontagen und immensen Reparationsleistungen für die Wiedergutmachung der in der UdSSR angerichteten Schäden, trotz der enormen volkswirtschaftlichen Disproportionen nach der Aufspaltung des gesamtdeutschen Wirtschaftsraumes und nicht zuletzt trotz des permanenten Wirtschaftskrieges seitens des größeren, reicheren westlichen Nachbarstaates.
Die Ergebnisse des »Aufbaus Ost« von 1990 bis 2005 sehen ein klein wenig anders aus. Aus nachvollziehbaren Gründen vermieden es die drei Präsidenten im Amt, darauf einzugehen: Bereits ein halbes Jahr nach Verkündung des Programms zum »Aufschwung Ost« war die ostdeutsche Industrieproduktion durch den Crash-Kurs der Bundesregierung, nach der überstürzten Währungsunion und dank des Wirkens der Treuhandanstalt um 67 Prozent zurückgegangen, im Maschinenbau betrug der Rückgang 70, in der Elektrotechnik 75 und in der Feinmechanik 86 Prozent. Ende 1991 erreichte die Industrieproduktion nur noch ein Drittel des Vorwendestandes. Jetzt, 14 Jahre später, nähert sie sich mühselig dem DDR-Niveau von 1989. Aus dem Industrieland DDR, dem das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) noch 1987 bescheinigt hatte, »im RGW überhaupt das Land mit dem höchsten Leistungsniveau (und damit auch das Land mit dem höchsten individuellen Lebensstandard)« zu sein, wurde ein Entwicklungsgebiet innerhalb der Europäischen Union. Die Arbeitslosenquote beträgt gegenwärtig 18,4 Prozent, 2,18 Millionen Menschen haben Ostdeutschland verlassen, die Geburtenrate ist die niedrigste in Europa.
Licht am Ende des Tunnels ist nicht in Sicht, es sei denn man betrachtet die Erklärung des Ost-Verantwortlichen der Noch-Bundesregierung Manfred Stolpe »Vielleicht haben wir zu spät damit angefangen, den Menschen zu erklären, daß der Aufbau Ost 30 Jahre dauert« als ein Lichtzeichen in der Dunkelheit. Um das volle Ausmaß der in den ersten 15 Jahren des »Aufbaues Ost« erzielten Fortschritte bei der Tunnelfahrt ermessen und gebührend würdigen zu können, darf selbstredend die Tatsache nicht außer Acht gelassen werden, daß die westlichen Bundesländer den sogenannten neuen allein bis zum Ende des 14. Aufbaujahres nach offiziellen Angaben 1,3 Billionen Euro und nach realen Berechnungen 900 Milliarden Euro (s. Ossietzky 3/2005) zugeschossen haben. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung verleitete das jetzt gar zu der superlativischen Behauptung: »Noch nie in der Weltgeschichte hat es ein so gewaltiges Hilfsprogramm gegeben wie das Programm der Bundesrepublik zum Aufbau der neuen Bundesländer.« Gewaltig, gewaltig! Vielleicht ist das ein bißchen übertrieben, zumal wenn der Vermögens- und Profittransfer in Richtung Westen außer Acht bleibt, aber ein schönes Sümmchen ist es schon, das mittlerweile in den Osten geflossen ist. Allein ein Bruchteil davon hätte der Staatlichen Plankommission gereicht, um der in den 80er Jahren angeschlagenen, aber sich weiterhin selbst tragenden DDR-Wirtschaft zu neuem Aufschwung zu verhelfen. Unter den Regierungen Kohl und Schröder dagegen diente der West-Ost-Transfer vorrangig dazu, die schlimmen sozialen Folgen ihrer desaströsen Wirtschaftspolitik zu mildern.
Vergleiche hinken – auch der zwischen den Ergebnissen des Aufbaus Ost von 1945 bis 1960 mit denen von 1990 bis 2005. Aber die schönsten Vergleiche stammen von unseren vornehmen Herrschaften, die von Klein auf die ökonomische Weisheit mit Löffeln gefressen haben, während Linke bekanntlich nichts von der Wirtschaft verstehen. Einer dieser Weisen, Otto Graf Lambsdorff, einst selbst Bundeswirtschaftsminister, hat – man kann nicht oft genug daran erinnern – die Aufbauleistungen der Ostdeutschen in den Nachkriegs- und DDR-Jahren mit dem schönen Spruch gewürdigt, 40 Jahre Mißwirtschaft der SED hätten dem Osten Deutschlands mehr Schaden zugefügt als der Zweite Weltkrieg. Und der ehemalige Treuhandbeauftragte Klaus von Dohnanyi behauptete dieser Tage allen Ernstes: »Ostdeutschland war 1945 wirtschaftlich stärker als Westdeutschland. Das hat man einfach verwirtschaftet.« In diesem die »innere Einheit« fördernden Geiste bleibt nun laut Stolpe vom »Aufbau Ost«, dem Werk, das so gar nicht vorankommen will, wenigstens die Hoffnung – auf die nächsten 15 Jahre.
Erschienen in Ossietzky 21/2005
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