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Grundrechte und Grundsicherung
Peter Grottian
Soviel Erfolg und Niederlage zugleich mit den sozialen Grund- und Menschenrechten wie in den letzten Jahren war wohl noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik.
Auf der einen Seite wirkten die Sozialproteste gegen die Hartz-Gesetze wie eine Zündschnur: Zerlegungsprozeß der SPD, schwankende Öffentlichkeit, Linkspartei, sozialpolitischer Widerstand nicht gekannten Ausmaßes mit dem Ergebnis, daß eine neoliberale Politik so einfach nicht mehr durchsetzbar ist – selbst die CDU redet von sozialen Grundrechten.
Auf der anderen Seite erwies sich die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik à la Hartz & Co. als das bisher größte politische Disziplinierungs- und soziale Enteignungsprojekt – mit weitreichenden Konsequenzen. Und es wird weiterbetrieben, jetzt großkoalitionär.
Der Kern der sozialen Menschenrechte, die schon in den politischen angelegt sind, besteht darin, daß alle Menschen frei von Angst leben können, aufrechten Ganges auch dann, wenn sie erwerbstätig oder erwerbslos sind. Jede und jeder müssen eigenständig und angemessen an den gesellschaftlich erbrachten Gütern und Dienstleistungen, am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben, damit Bedingungen entstehen können, die erst dazu befähigen, an demokratischen Verfahren teilzunehmen. Demgegenüber blockiert und verhindert der sozialpolitische Kurswechsel die Entfaltung der Demokratie. Die materiellen und institutionellen Voraussetzungen für politische Partizipation und die selbstbestimmte Mitwirkung aller Bürgerinnen und Bürger müssen sozialstaatlich angelegt und gesellschaftlich geschaffen werden. Selbstverständlich hätten solche Bedingungen ebenso für die hier lebenden Migrantinnen und Migranten zu gelten. Bürgerliche und politische Menschenrechte sind mit den wirtschaftlichen und sozialen untrennbar verbunden. Hier geht es um den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit. Aber von einem politischen System, da s beides gewährleistet, sind wir heute unter den neoliberal vollstreckten Imperativen einer globalisierten Ökonomie weit entfernt.
Es ist die sozialpolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts, ein Gesundheitssystem, eine angemessene Alterssicherung, Bildung, selbstbestimmte, befriedigende Arbeit, eine kommunale soziale Infrastruktur für alle bereitzustellen. Ob das gelingt, ist eine offene Frage. Denn anscheinend sind wir – und das ist das Neue an der gegenwärtigen Situation – mit dem politischen Willen konfrontiert, die Verarmung immer größerer Teile der Gesellschaft hinzunehmen und sie von den menschenrechtlichen Versprechen des Grundgesetzes auszunehmen. Wer sich dagegen behaupten will, braucht einen klaren analytischen Blick auch für weltweite wirtschaftliche Zusammenhänge und die aus ihnen erwachsende Not eines großen Teils der Erdbevölkerung.
Staatliche Sozialpolitik in ihrer bürokratisierten Form, wie wir sie bisher kannten, war in der Verkopplung von Lohnarbeit und sozialer Absicherung entscheidend abhängig von endloser Kapitalakkumulation, vom ökologisch höchst zweifelhaften fortwährenden Reichtumszuwachs. Der Sozialstaat selbst schafft keinen Wohlstand. Er ist eine Variable der ökonomischen Entwicklung und der darin enthaltenen sozialpolitischen Spielräume. Um diesen verhängnisvollen Zusammenhang aufzulösen und die Entfaltung von Demokratie und Menschenrechten aus der Abhängigkeit von kapitalistischen Renditeerwartungen und deren weltweit gewaltsamer Durchsetzung zu befreien, ist eine andere Sozialpolitik mit dem Ziel einer Grundsicherung für alle vonnöten.
Wie könnte eine solche Grundsicherung aussehen?
Der Sockelbetrag, den jede Person erhält, unabhängig von der Lage der öffentlichen Kassen, muß so hoch sein, daß er ein Leben ohne Not gestattet und Partizipation am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, also jedenfalls höher als das gegenwärtige Arbeitslosengeld II. Eben weil er allen zusteht und durch individuellen Rechtsanspruch verbürgt ist, verletzt es nicht die persönliche Würde, ihn zu beziehen. Das ist ein entscheidender Unterschied zur Sozialhilfe. Soweit die lokalen Lebensbedingungen differieren, wird der Sockelbetrag angepaßt. Unabhängig vom Grundeinkommen bleibt ein Rechtsanspruch auf zusätzliche staatliche Hilfe in besonderen Notlagen bestehen.
Und wie realisieren wir – wozu die vorherrschende neoliberale Politik offenkundig außerstande ist – das Menschenrecht auf Arbeit? Hier soll das Prinzip gelten: Sich selbst eine Arbeit geben. Den Arbeitsmarkt von unten dynamisieren.
Konkret: Erwerbsfähigen und Erwerbswilligen werden auf unkonventionelle Weise Arbeitsplätze für zehn Euro pro Stunde angeboten. Diejenigen, die brachliegende Arbeit tun wollen, können sich selbst einen Arbeitsplatz entlang ihren Qualifikationen, Wünschen, Motivationen und Möglichkeiten suchen, wählen, finden oder erfinden. Sie bestimmen über Inhalt und Form ihrer Erwerbstätigkeit selbst – nicht unberechenbare Marktmacht und eine kafkaesk verstellte Bürokratie. Mit entsprechenden beruflichen Voraussetzungen können sie in der Betreuung von alten und behinderten Menschen, von Schülern und Kindern, in Stadtteil-, Ökologie-, Forschungs-, Bildungs- oder Kulturprojekten arbeiten. Gruppen, Initiativen, Vereine, können diese Arbeitsplätze vorschlagen, dürfen auch dafür werben. Groß- und Mittelbetriebe sind von dem Programm grundsätzlich ausgeschlossen. Wer eine Arbeit aufnehmen will, schließt einen Arbeitsvertrag über Teil- oder Vollarbeitszeit, der zunächst auf drei Jahre begrenzt ist. Die Arbeitsverträge müssen den Mindestnormen der Europäischen Sozialcharta entsprechen. Die genannten zehn Euro pro Stunde sind der Mindestlohn.
Das Programm will Erwerbslose oder schlecht beschäftigte Personen ermutigen, sich selbst etwas zuzutrauen, selbst nach Erwerbsarbeit zu suchen und Neugier auf möglicherweise ungewohnte Tätigkeitsfelder zu entwickeln. Wenn diejenigen, die gesellschaftlich entlohnte Arbeit suchen, selbst aktiv werden – das ist unsere Annahme –, dann werden ihre erfolgreichen Beispiele andere mitziehen. Der Arbeitsvertrag wird zur Regelungsinstanz dieses Programms. Das bedeutet: Ein formell korrekt abgeschlossener regulärer Arbeitsvertrag ist der »Ausweis« für die Arbeitsagentur, die nur ein formelles Prüfungsrecht hat (Arbeitsaufnahme, korrekte Ausformulierung des Arbeitsvertrages) und danach die gesellschaftliche Finanzierung auslöst.
Um dieses Programm zu verwirklichen, sind zwei Stufen vorstellbar. Auf der ersten Stufe probieren Erwerbslose bei vollem Gehalt für drei Monate einen Arbeitsplatz aus. Sie erhalten zudem einen Qualifizierungszuschuß, der ihnen hilft, sich von Beratungsagenturen unterstützen zu lassen. Die Beratungsagenturen machen im Konsens mit dem Arbeitswilligen und dem Projekt, bei dem er arbeiten will, Vorschläge für die Zukunft des Arbeitsplatzes, die Qualifikationserfordernisse und die Art der Fortbildung. Als Beratungsagenturen können ehrenamtliche lokale Gremien, private Institute, Handwerkerzusammenschlüsse, Arbeits-, Jugend- oder Sozialämter sein. Sie sind die Joblotsen mit Kompetenz und Überzeugung, aber ohne die Marterwerkzeuge negativer Sanktionen. Zweite Stufe: Auf drei Jahre begrenzt werden für den Einstieg in den Beruf öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt. Das ist finanzierbar – und zwar sofort!
Das Programm ist nur sinnvoll, wenn es von vorn herein ausreichend dimensioniert wird, um wenigstens ein bis zwei Millionen Erwerbslosen eine Chance zu eröffnen. Wenn deren Verdienste im Durchschnitt zumindest um 15 000 Euro im Jahr über dem Alg II lägen, sind dafür 15 bis 30 Milliarden Euro öffentlich aufzubringen. Gewiß ist, daß die Kosten viel niedriger sein werden als diejenigen, die rund um die Erwerbslosigkeit anfallen. Erwerbsarbeit der neuen Vielfältigkeit ist selbst rechnerisch das mit Abstand günstigste Programm. Fast 40 Prozent der Ausgaben würden durch Steuern, Sozialbeiträge, Mehrwertsteuern und andere Abgaben (nach derzeitigen Sätzen) an die öffentlichen Haushalte zurückfließen.
Arbeits- und Sozialämter könnten teilweise abgeschafft werden. Zuvor könnten sie aber noch daran mitwirken, das vorhandene Volumen an Erwerbsarbeit neu zu verteilen.
Die von Unternehmern und Politikern geforderte Arbeitszeitverlängerung ist angesichts der Massenarbeitslosigkeit, der technischen Neuerungen und der dadurch gestiegenen Produktivität pervers. Vielmehr besteht die Notwendigkeit, durch Verkürzung der Arbeitszeit neue Arbeitsplätze zu schaffen, zum Beispiel durch eine staatlich flankierte Verkürzung der Wochen- und Tagesarbeitszeit, Förderung freiwilliger Teilzeitarbeit, besondere Förderung von Teilzeitarbeit für junge Paare oder Vorruhestandsregelungen. Den größten Erfolg versprechen nach wie vor radikale Arbeitszeitverkürzungen mit differenziertem Lohnausgleich und gleichzeitiger staatlicher Steuerentlastung für diejenigen, die wenig verdienen. Das Problem besteht aber aktuell darin, daß Arbeitgeber und Gewerkschaften wenig daran interessiert sind, die Arbeitslosigkeit zum zentralen Gegenstand der Tarifverhandlungen zu machen.
Wer über eine Verteilung gesellschaftlich notwendiger und wünschenswerter Arbeit redet, darf die Potentiale, die in einer Geschlechterdemokratie stecken, nicht unerwähnt lassen. Ein realistisches Verständnis von Arbeit meint neben Erwerbsarbeit auch Hausarbeit, Erziehungsarbeit und vielfältige Formen soziokultureller Arbeit. Solche Arbeit wird aber nicht gefördert, sondern geradezu bestraft. Erst wenn Geschlechterdemokratie als demokratische Produktivkraft entdeckt wird, kann sie ihre mögliche gesamtgesellschaftliche Wirkung erzielen.
Die hier skizzierten Ideen werden sich nur dann realisieren lassen, wenn die Sozialproteste wieder an Dynamik gewinnen. Im November 2005 wird eine Konferenz von neuen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften die Bedingungen des Protests erneut ausloten.
Erschienen in Ossietzky 21/2005
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