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Arbeit – ein soziales Grundrecht?
Thomas Kuczynski
In der Zürcher Fassung der Keuner-Geschichten von Bertolt Brecht findet sich eine unter dem Titel: »Die Sorgen der Herrschenden sind nicht die Sorgen der Beherrschten.« Brecht hat sie zwar nach einem Halbsatz abgebrochen, aber schon der Titel allein ist wunderbar und mag als Ausgangspunkt meiner Überlegungen dienen.
Die Herrschenden in Deutschland erklären den Beherrschten voller Sorge, die Arbeit hierzulande sei zu teuer, sie sei nicht mehr finanzierbar. Soll heißen: Wir haben nicht genug Geld, Euch und Eure Arbeit zu bezahlen.
Die Frage, woher die Herrschenden eigentlich und überhaupt ihr Geld haben, bleibt da außen vor: Sie haben es halt, und sie haben zu wenig, um Arbeit in Deutschland zu finanzieren. Ebensowenig müssen sie erklären, wieso dieses Land mit diesen angeblich so hohen Lohnkosten auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleibt und seit Jahren Exportweltmeister ist.
Übrigens ist das Argument zu hoher Lohnkosten so alt wie die kapitalistische Industriegesellschaft. Um nicht zu weit in die Vergangenheit zu gehen, zitiere ich den britischen Parlamentarier Stapleton: »Wenn China ein großes Industrieland wird, so sehe ich nicht ein, wie die europäische Arbeiterbevölkerung den Kampf aushalten könnte, ohne auf das Niveau ihrer Konkurrenten herabzusteigen.« Die Feststellung wurde im September 1873 getroffen – heute, nach der Selbstbeseitigung des Realsozialismus, wird nicht anders argumentiert.
Noch sind wir in diesem Lande von chinesischen Löhnen weit entfernt. Auch müßten die Herrschenden, wenn sie die Löhne der Beherrschten auf dieses Niveau drücken wollten, nicht Lohnkürzungen um zehn Prozent verlangen, wie das inzwischen gang und gäbe, sondern um neunzig Prozent. Offenbar wollen sie ihr Ziel schrittweise erreichen, und sie tun das mit Erfolg.
Viele der Beherrschten haben sich die Sorgen der Herrschenden zueigen gemacht und reden in derselben Weise. Ein Beleg hierfür ist die rapide wachsende Zahl von Tarifabschlüssen, in denen, angeblich zum Zwecke der Arbeitsplatzsicherung, Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerungen und Abbau sozialer Leistungen vereinbart wurden. Angeblich, denn trotz aller Zugeständnisse der Beherrschten sinkt die Gesamtzahl der Arbeitsplätze in Deutschland weiter, steigt die Zahl derer, die entweder gar keine Arbeit haben oder nur minderbezahlte Billiglohn- oder Ein-Euro-Jobs.
Kein Wunder, daß angesichts einer solchen Situation menschenfreundlich über soziale Palliativa, also Linderungsmittel, nachgedacht und darüber debattiert wird, wie hoch denn eine soziale Grundsicherung für Erwerbslose, Erwerbs-unfähige und so weiter sein müsse. Wer unter Schmerzen leidet, weiß die schmerzlindernde Wirkung der Palliativa zu schätzen.
Aus der Medizin wissen wir allerdings, daß Palliativa die Ursachen des Schmerzes nicht beseitigen und auf die Dauer sogar abhängig machen. Dasselbe gilt für das Geld, das Erwerbslosen jahraus jahrein in immer kleinerer Münze gezahlt wird. Leben kann davon niemand, nur überleben, und eben nicht aus eigener Kraft. Im Gegenteil, die eigenen Kräfte nehmen ab, denn wer über Jahre daran gehindert wird zu arbeiten, kann es dann im Eventualfall meistens nicht mehr, hat es schlicht verlernt. Insofern ist die Langzeitwirkung eines Arbeitslosengeldes – gleich welcher Höhe – dieselbe wie die eines Palliativums. Der Schmerz wird gelindert, seine Ursachen bleiben unbehandelt, und eine Behandlung wird im Laufe der Zeit immer schwieriger.
Weiterhin wird seit Jahr und Tag behauptet, der »Gesellschaft« fehle es nicht nur an Geld, um Arbeit zu bezahlen, es fehle überhaupt an Arbeit, das »Ende der Arbeitsgesellschaft« sei angesagt. Selbst Leute, die sich politisch zur Linken zählen, stimmen in diesen Chor ein und übersehen offenbar die vielen Arbeiten, die in diesem Lande nicht geleistet werden, im Umwelt- und Naturschutz, im Bereich der sozialen und medizinischen Betreuung, in Bildung, Kultur und Wissenschaft, um nur einige zu nennen.
Gewiß, die meisten dieser Arbeiten »rechnen« sich aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht. Deshalb waren eben die Altliberalen wie Adam Smith einst der Meinung, für solche Aufgaben sei der Staat zuständig – aber der wird von den Neoliberalen heute mehr und mehr betriebswirtschaftlich organisiert, so daß sich auch für ihn fast alles »rechnen« muß, ausgenommen die »Verteidigung der Freiheit« am Hindukusch, den Lauschangriff auf die Wohnung und manches andere dieser Art, für das sehr viel Geld zur Verfügung steht.
Aber nicht nur an Arbeit fehle es, einige sich ganz besonders offen und modern dünkende Linke meinen gar, es gebe ja auch Menschen, die nicht arbeiten wollen und trotzdem ihr Auskommen haben müßten. Wieder bleibt die Grundfrage, warum es eigentlich arbeitsunwillige Menschen gibt, außen vor.
In den meisten Fällen ist Arbeitsunwilligkeit das Resultat von Arbeitsunfähigkeit und nicht umgekehrt. Wer nie gelernt hat zu arbeiten oder es aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit verlernt hat, kann nicht arbeiten, ist arbeitsunfähig geworden. Jugendliche, die tagtäglich durch Elternhaus, Schule und Massenmedien die Perspektivlosigkeit jeglichen Arbeitens demonstriert bekommen, werden zumeist nicht lernen zu arbeiten. Die angelernte Arbeitsunwilligkeit kann sich durch die Rede vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« bestätigt fühlen, sofern sie denn solche theoretischen Konstrukte überhaupt wahrnimmt.
Fernab des neutestamentarischen Kanons (»wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«) oder andersgearteter Epen und Mythen der Arbeit bleibt zu konstatieren: Der Mensch schafft sich selbst, und zwar auf der Grundlage von zweierlei, der äußeren Natur und der Arbeit. Sein Reichtum hat daher, wie William Petty formulierte, zwei Quellen: Die Arbeit ist sein Vater und die Erde seine Mutter. Daran ändert auch jenes Wort nichts, das Marx von einem anonym gebliebenen englischen Autor übernommen hat und das da lautet: Der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen; und dann ist keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die frei verfügbare Zeit das Maß des Reichtums. Beide, die entwickelte Produktivkraft aller Individuen wie auch deren frei verfügbare Zeit haben ein effektiv organisiertes und hochproduktives Arbeiten zur Voraussetzung, und auch das von Paul Lafargue so schön formulierte Recht auf Faulheit ist nur auf dieser Basis durchsetzbar.
Von hier aus betrachtet, ist die Frage, ob es so etwas wie ein soziales Grundrecht oder ein Menschenrecht auf Arbeit gibt, in Frage zu stellen. Ja, die Fragestellung selbst ist in Frage zu stellen. Wenn nämlich Arbeit von geradezu naturgesetzlicher Notwendigkeit für die Reproduktion der Gattung Mensch ist, so gibt es auf sie einerseits genauso und genausowenig ein Recht, wie es ein Recht darauf gibt, daß die Gesetze biologischer Reproduktion wirken.
Andererseits, wenn Arbeit nicht in dieser menschheitshistorisch-naturgesetzlichen Bestimmtheit betrachtet wird, sondern im empirisch wahrnehmbaren Alltag dieses Landes, so ist die Antwort auf die Frage nach einem Recht auf Arbeit geradezu entgegengesetzt, denn ein solches Recht ist nur das Recht der Arbeitenden, ausgebeutet zu werden. Wer von uns wollte für ein solches Recht eintreten?
Marx meinte 1850, das Recht auf Arbeit sei einerseits eine »erste unbeholfene Formel, worin sich die revolutionären Ansprüche des Proletariats zusammenfassen«, andererseits sei es »im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender frommer Wunsch, aber« – so fuhr er fort – »hinter dem Rechte auf Arbeit steht die Gewalt über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der Produktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse ...«, und er schloß mit der Feststellung: »Hinter dem Recht auf Arbeit stand die Juniinsurrektion«, der Aufstand der Pariser Arbeiter vom Juni 1848.
Angesichts der letzten unbeholfenen Formeln, worin sich die Reformansprüche mancher Linken heute zusammenfassen, ist es vielleicht nicht falsch, sich dieser ersten Formel revolutionären Anspruchs, eines formulierten Rechts auf Arbeit, zu erinnern. Erinnern sollten wir uns auch, wodurch die bürgerliche Regierung damals, 1848, das Recht auf Arbeit ersetzt hat. In Marx’ Worten: »Es wurde verwandelt in das droit à l’assistance, in das Recht auf öffentliche Unterstützung, und welcher moderne Staat ernährt nicht in der einen oder andern Form seine Paupers (seine Armen)?«
In der Tat ist der Kampf um soziale Grundsicherung nichts anderes als ein Kampf um die Höhe der Almosen. Es kommt aber darauf an, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der niemand mehr auf Almosen angewiesen ist. Philanthropie, also Menschenfreundlichkeit, wird dafür nicht genügen. Harte Arbeit ist vonnöten, auch Überzeugungsarbeit, damit die Beherrschten sich zunächst der Sorgen der Herrschenden entledigen, sodann der Herrschenden selbst.
Erschienen in Ossietzky 21/2005
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