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Soziale Menschenrechte – gibt’s die?
Gregor Schirmer
Wenn in den Medien von Menschenrechten und Menschenrechtsverletzungen die Rede ist, dann sind meist die politischen und Bürgerrechte gemeint. Die sozialen Menschenrechte werden klein geschrieben. Aber ist der erschreckende Tatbestand, daß alle drei Sekunden ein Kind an den Folgen von Armut und Hunger stirbt, ein geringeres Verbrechen gegen die Menschlichkeit als der Völkermord in Ruanda vor elf Jahren? Zur Aburteilung der Verbrechen in Ruanda hat der UNO-Sicherheitsrat ein Sondertribunal eingesetzt. Wer verfolgt und verurteilt diejenigen, die dafür verantwortlich sind, daß mehr als eine Milliarde Menschen von einem Dollar pro Tag leben müssen, während der Reichtum in der Welt ständig wächst? Dafür gibt es kein Tribunal. Im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit so gefaßt, daß Schuld an extremer Armut mit ihren tödlichen Folgen tunlichst nicht darunter fällt. Sonst müßten ja auch Regierungschefs und Konzernbosse reihenweise mit einem Sitz auf der Anklagebank rechnen. Und ist das Recht auf Nahrung und Wasser weniger wichtig als das Recht auf freie Meinungsäußerung?
Die bange, aber verständliche Frage »Soziale Menschenrechte – gibt’s die?« beantworte ich so: Ja, es gibt solche Rechte. Aber ein einigermaßen verläßlicher Mechanismus für ihre Durchsetzung fehlt. Sie werden mißachtet und gebrochen. Dennoch: Es gibt sie, und sie sind nicht bloß wohlfeile politische Postulate, sondern völkerrechtlich verbindliche Normen. Sie liefern einen Forderungskatalog für eine sozial gerechtere Welt. Die heute in Deutschland vorherrschende antisoziale Politik ist mit der übernommenen Verpflichtung, die sozialen Menschenrechte zur Geltung zu bringen, unvereinbar.
Die sozialen Menschenrechte als völkerrechtlich verbindliche Anforderungen an die Politik einer jeden Regierung haben erst nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg das Licht der juristischen Welt erblickt. Daß es dazu kam, ist der Sowjetunion und ihren Verbündeten, dem wachsenden Einfluß der Staaten der Dritten Welt und nicht zuletzt den Aktivitäten nichtstaatlicher Organisationen zu verdanken. Die kapitalistischen Industriestaaten unternahmen alles, um völkerrechtlich verbindliche Festlegungen sozialer Menschenrechte zu vermeiden. Die Menschenrechtsfrage geriet unvermeidlich in den Strudel der Systemauseinandersetzung. Das erklärt den Kompromißcharakter getroffener Vereinbarungen. Seit dem Epochenwechsel von 1989/90 hin zur globalen Herrschaft des Neoliberalismus sind kaum noch Fortschritte bei der Ausformung sozialer Menschenrechte zu verzeichnen. Aber das bis dahin erreichte normative Niveau sozialer Rechte hat überlebt.
Die UNO-Charta statuiert erstmals in der Geschichte des Völkerrechts eine unbestimmt gehaltene Selbstverpflichtung, »die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte« zu »fördern«. Einen Katalog dieser Rechte gibt es in der Charta nicht. Daß auch soziale Rechte einbegriffen sein sollen, geht aus dem Zusammenhang hervor, der in der Charta zwischen der Menschenrechtsfrage einerseits und der Zusammenarbeit der UNO-Mitglieder andererseits hergestellt ist, »um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen« (Art. 1).
Ein großer Fortschritt auf diesem Wege war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Es ist erstaunlich, daß dieses historische Dokument in einer zugespitzten Hoch-Zeit des Kalten Krieges, nämlich während der Berlin-Krise, von der UNO-Generalversammlung ohne Gegenstimme verabschiedet werden konnte.
Die Erklärung proklamiert gleichrangig neben den politischen und bürgerlichen Rechten auch wirtschaftliche und soziale Rechte: das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen, auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die Koalitionsfreiheit, den Anspruch auf Erholung und Freizeit, auf »vernünftige« Arbeitszeitbegrenzung und bezahlten Urlaub. Der Artikel 25 ist es wert zitiert zu werden: »Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden ein-schließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.« Weiter enthält die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte das Recht auf Bildung und das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben. Die Eigentumsgarantie fehlt ebenfalls nicht. Eine bewerkenswerte Bestimmung ist in Artikel 28 festgeschrieben. Danach hat jeder Mensch »Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können«. Das klingt fast wie ein Menschenrecht auf Überwindung des Kapitalismus...
Die Erklärung hat allerdings ein paar Haken. Sie ist kein verbindlicher Vertrag, sondern als Resolution der Generalversammlung der UNO eine unverbindliche Empfehlung. Und die Erklärung schränkt ihren Geltungsanspruch dadurch ein, daß sie nach der Präambel »das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal« ist, um das man »sich bemühen« will und das »zu fördern« ist.
Nach unsäglichem diplomatischen Hin und Her, gezeichnet vom Ost-West-Gegensatz und der energischen Mitsprache der Staaten der Dritten Welt und unter dem Einfluß nichtstaatlicher Organisationen und Persönlichkeiten wurden 18 Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte am 19. Dezember 1966 die zwei bis heute grundlegenden völkerrechtlichen Vereinbarungen über die Menschenrechte durch eine Resolution der Generalversammlung einstimmig verabschiedet: der Pakt über politische und bürgerliche Rechte, Zivilpakt genannt, und der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Sozialpakt genannt. Warum zwei gesonderte Pakte und nicht ein einziger Pakt für alle Menschenrechte? Durch die künstliche Trennung wollten die westlichen Staaten – allen voran die USA – die sozialen Rechte in einen minderen Status herabstufen, als Rechte »zweiter Klasse« bewerten. Ihre Vorwände lauteten, die sozialen Rechte seien nicht erzwingbar, nicht justiziabel, und ihre Verwirklichung sei im Vergleich zu den zivilen Rechten viel schwieriger, nur schrittweise möglich und schwer meßbar.
Die Trennung in zwei Pakte ändert nichts daran, daß beide Arten von Menschenrechten gleichrangig, unteilbar und voneinander abhängig sind. Dieser Grundsatz ergibt sich schon aus der UNO-Charta und aus der Menschenrechtsdeklaration von 1948, und er ist wiederholt in UNO-Dokumenten bestätigt worden.
Die Befürworter eines einheitlichen Paktes erreichten immerhin, daß beide Pakte durch eine gleichlautende Präambel und einen gemeinsamen Artikel 1 verbunden und aufeinander bezogen wurden. Im Artikel 1 wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker klar und deutlich und mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit als Voraussetzung für alle Menschenrechte formuliert: »Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.«
Erst zehn Jahre nach der Verabschiedung durch die Generalversammlung trat der Sozialpakt in Kraft. Die Staaten ließen sich Zeit. Die BRD trat dem Pakt 1973 bei. Die DDR konnte sich ihm erst 1974 – nachdem sie UNO-Mitglied geworden war – anschließen. Heute hat der Pakt die stattliche Zahl von 150 Teilnehmerstaaten. Zur universalen Geltung fehlen allerdings noch 41 UNO-Mitglieder, darunter Kuba, Pakistan, Saudi-Arabien, Südafrika und – welch makabre Selbstverständlichkeit! – die USA.
Während die Rechte im Zivilpakt von vornherein die Partnerstaaten direkt und ohne Einschränkung verpflichten, enthält der Sozialpakt in Artikel 2 eine äußerst problematische Generalklausel, durch die die Verpflichtungen der Vertragsstaaten relativiert werden. Die im Pakt verankerten sozialen Rechte sind nicht absolut bindend. Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich nur, »unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen«. Damit werden zwei Schneisen geschlagen, durch die die Verwirklichung dieser Rechte umgangen werden kann: die relativierende Koppelung an die »Möglichkeiten« des jeweiligen Vertragsstaates (englisch: »available resources«), die die Ausrede gestattet, man wolle ja gern, aber könne nicht, und das »Nach-und- nach«-Prinzip (englisch »progressivly«), mit dem man die Verwirklichung der Rechte vor sich her schieben kann (heute verkehrt man dieses Prinzip sogar ins Gegenteil und baut soziale Rechte nach und nach ab). Der Zivilpakt enthält im Unterschied dazu keine derartige Generalklausel.
Der Sozialpakt greift die in der Menschenrechtsdeklaration verankerten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf und macht sie zu völkerrechtlich verbindlichen Normen. In seinem Gehalt geht er über die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 und über die im vorläufig gescheiterten Verfassungsentwurf der EU enthaltene Charta der Grundrechte hinaus. Diese beiden Dokumente sehen das Menschenrecht auf Arbeit nicht vor. Dagegen formuliert der Sozialpakt in Art. 6 recht eindeutig: »(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht auf Arbeit an, welches das Recht jedes einzelnen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen, umfaßt, und unternehmen geeignete Schritte zum Schutz dieses Rechts. (2) Die von einem Vertragsstaat zur vollen Verwirklichung dieses Rechts zu unternehmenden Schritte umfassen fachliche und berufliche Beratung und Ausbildungsprogramme sowie die Festlegung von Grundsätzen und Verfahren zur Erzielung einer stetigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung und einer produktiven Vollbeschäftigung unter Bedingungen, welche die politischen und wirtschaftlichen Grundfreiheiten des einzelnen schützen.« Vollbeschäftigung natürlich nicht durch Zwangsarbeit, die durch Art. 8 des Zivilpakts ausdrücklich verboten ist.
Zur Kontrolle der Erfüllung der im Pakt verankerten Rechte ließen sich die Staaten lediglich auf ein Berichtsverfahren ein. Sie sind verpflichtet, im Fünfjahresrhythmus dem Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte »Berichte über die von ihnen getroffenen Maßnahmen und über die Fortschritte vorzulegen, die hinsichtlich der Beachtung der in dem Pakt anerkannten Rechte erzielt wurden« (Art. 16). Man braucht keine Phantasie, um sich vorzustellen, daß zum Beispiel die bisherigen Berichte der Bundesrepublik Deutschland weit entfernt von selbstkritischen Wertungen und voll des Lobes für die jeweilige Bundesregierung waren. Der Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der aus 18 regierungsunabhängigen Sachverständigen »von anerkanntem Ruf auf dem Gebiet der Menschenrechte« besteht, prüft die Staatenberichte und berichtet seinerseits dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO. Zu den Staatenberichten und zur Erfüllung des Pakts durch den jeweils berichtenden Staat äußert sich der Ausschuß in sogenannten Schlußfolgernden Kommentaren (»Concluding Comments«) oder Beobachtungen (»Observations«), die öffentlich zugänglich sind. Wichtig ist, daß die Verfahrensordnung des Ausschusses Nichtregierungsorganisationen mit Konsultativstatus bei der UNO das Recht zur schriftlichen Stellungnahme gibt. So wird es möglich, die Staatenberichte zu hinterfragen und die wirkliche Lage zu beleuchten. Die NGO’s sollten tunlichst von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, sie tun es auch.
Zum Zivilpakt gibt es von Anfang an ein Beschwerderecht von Einzelpersonen. Gegen eine Verletzung des Sozialpakt ist dagegen bisher kein individuelles Beschwerderecht gegeben. Das ist ein entscheidender Mangel. Seit den 90er Jahren wird in der UNO darüber debattiert, ob nicht auch für den Sozialpakt ein Fakultativprotokoll abgeschlossen werden sollte. Seit 2003 ist eine Arbeitsgruppe der UNO am Werke, die die Möglichkeit prüfen soll, ein individuelles Beschwerderecht einzuräumen. Aber es ist kein politischer Wille der meisten Partnerstaaten des Sozialpaktes erkennbar, ernsthaft darauf hinzuwirken. Sie sind erfinderisch in ihren Ausreden, die alle um die Behauptung kreisen, ein Beschwerdeverfahren sei wegen des besonderen Charakters von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ungeeignet. In Wirklichkeit wollen sie verhindern, daß sich die Bürger bei einer internationalen Instanz über eine antisoziale Politik ihrer Regierungen beschweren können. Weiß Gott würde ein Beschwerdeverfahren keine revolutionäre Änderung bewirken. Aber wir sollten selbst ein so schwaches Instrument nicht mißachten.
Alles in allem: Die sozialen Menschenrechte im gegenwärtigen Völkerrecht sind eine Waffe für alle, denen es um soziale Gerechtigkeit bei uns und in der Welt geht. Eine nicht besonders scharfe Waffe. Ich habe da keine Illusionen. Aber auch schwache Waffen müssen genutzt werden, vor allem in Zeiten, in denen die wirtschaftlich und politisch Mächtigen in vielen Staaten soziale Menschenrechte nicht aus-, sondern abbauen.
Kontext:
Erschienen in Ossietzky 21/2005
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