Zweiwochenschrift
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Bemerkungen
Mit Deutschland auf Du
»Du bist Albert Einstein«, sicherte mir die Süddeutsche Zeitung vor einigen Tagen in großen Lettern auf zwei ganzen Seiten zu. Mit dieser Aufwertung meiner bescheidenen Person hatte ich nicht gerechnet. »Du bist Deutschland«, war ich vorher schon in Zeitschriften und TV-Sendungen aufgemuntert worden, mit den schönsten Verheißungen, zu welcher Hochform ich auflaufen, was ich alles erreichen kann. Das wird sicher viele Adressaten der Seelenwaschaktion freuen, vor allem die Arbeitslosen und auch die Jugendlichen, die nach einem Ausbildungsplatz suchen. Sie alle haben den Nobelpreis schon im Rucksack.
Aber es hat mir zu denken gegeben, daß ich Albert Einstein sein soll. Muß ich demnächst ins Exil? Ich möchte das Versprechen an mich ausgewechselt haben: »Du bist Liz Mohn«. Schließlich hat die Firma Bertelsmann ja die Aktion »Du bist Deutschland« erfunden. M. W.
Caritas-Event
Zwei Wochen, wurde mir gesagt, dauere es, bis ein Antrag auf Alg 2 bearbeitet wird. Nun sind daraus zwei Monate geworden. Eine schriftliche Bitte, doch wenigstens eine Meldung an die Krankenkasse zu schicken, blieb unbeantwortet. Von Anrufen wurde mir abgeraten, und erneutes persönliches Vorsprechen, das heißt stundenlanges Schlangestehen in engen Fluren, schreckt mich. Während unser Arbeitsamt inzwischen wie eine Werbeagentur wirkt, merkt man dem Job-Center das Sozialamt deutlich an. Die Erfahrung beim Abgeben meines Antrags war, daß ich unten, mitten in der Gesellschaft angekommen bin und daß es dort zugeht wie bei einer Bank oder in einem Gefängnis: Den inneren Bereich, wo die Sachbearbeiter sitzen, darf man nur mit einer terminierten »Einladung« (besser vielleicht »Vorladung«) und in Begleitung betreten. Jedesmal wird die Tür zu den »Fallbearbeitern« sorgsam wieder geschlossen: aufgeschlossen und zugeschlossen. Auch das mag eine Vorbereitung auf Zukünftiges sein: die Gewöhnung daran, daß man ein Fall ist.
Eine andere Form der Weiterbildung, also der Vorbereitung auf das weitere Leben, bietet die Caritas Stuttgart an. Man kann dort unter Anleitung eines erfahrenen Obdachlosen eine oder auch zwei Nächte im Freien verbringen, also das Leben eines Obdachlosen einmal hautnah miterleben. Zwecks Glaubwürdigkeit bekommt man Kleider aus der Kleiderkammer. Würde man in Marken-Klamotten vor Edeka, Lidl oder Spar sitzen, könnte das unpassend erscheinen. Herr Hartz, der jetzt auch arbeitslos ist, wird freilich noch ein paar alte Anzüge haben; sollte er vor miniMAL sitzen, wird man ihn sicher daran erkennen.
Es gab freilich Zeiten in Deutschland, in denen Menschen noch viel weniger wert waren. Man fahre auf den Stuttgarter Flughafen. Wo man gräbt in diesem Land, findet man Tote in Massengräbern. Dort wurden vermutlich NS-Zwangsarbeiter verscharrt. Freilich, vom schnellen Tod durch Arbeit sind wir noch weit entfernt, aber das verkürzte Leben durch Armut weist in dieselbe Richtung.
Ich empfehle, das »Caritas-Event« an den Stuttgarter Schulen zu propagieren, eine bessere Vorbereitung für später kann ich mir kaum denken. Freilich sollten die jungen Leute wenigstens ihr Handy mitnehmen. Nicht daß sie verwechselt und von Neonazis totgeschlagen werden. Wolfgang Haible
Zwei Wahlrekorde
Oskar Lafontaine hat bei der Bundestagswahl nicht nur mit 26,2 Prozent Direktstimmen im Wahlkreis Saarbrücken die höchste Stimmzahl eines linken Kandidaten in den alten Bundesländern erhalten, er hat auch mit einem anderen Spitzenwert Anspruch auf einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde: Kein Politiker ist derart mit Diffamierungen überzogen worden wie er, und zwar von Politikern der anderen Parteien, von Wirtschaftsvertretern, von Zeitungen und Rundfunksendern; die Öffentlich-Recht-lichen machten da keine Ausnahme. Allein mit den Schmähworten, die ich in den letzten Wochen hörte und las, kann man das ganze Alphabet durchbuchstabieren. Hier eine Auswahl:
Aus der Verantwortung Geflohener.
Baumeister eines programmatischen Wolkenkuckucksheims.
Charakterloser Überläufer.
Deserteur, Demagoge und Deutschlands größter politischer Versager.
Entlaufener.
Frustrierter (auch Altfrustrierter).
Geldgeil.
Honeckers Erbe.
Inkompetent.
Kaviarlinker.
Luxuslinker.
Miesmacher.
Notorischer Populist.
Ohne realistische Alternative.
Politischer Popstar.
Querulant.
Rotes Gespenst, Rattenfänger, rückwärtsgewandter Reformverweigerer.
Spitzenkandidat der Partei der alten Männer.
Törichte Wahlversprechen.
Unruhestifter.
Völlig verantwortungslos, Verräter und Villenbesitzer, der Sozialismus predigt.
Wendehals, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist.
Zündler am notwendigen Reformpaket, zerfressen von Ehrgeiz.
Werner René Schwab
Neue Sozialdemokratie
Ein politisches Alphatier kommt vermutlich nicht dazu, gesellschaftstheoretisch verpackte Trostworte zu lesen. Falls aber Gerhard Schröder einen Beitrag von Heinz Bude in der Süddeutschen Zeitung vom 22. September zur Kenntnis genommen hat, weiß er nun, daß ihm die Ehre zukommt, die Sozialdemokratie »neu erfunden« zu haben – nur hat, noch, »die SPD sich selbst nicht begriffen«. Aber das kann ja nachgeholt werden. Vorausgesetzt, diese Partei läßt sich nicht auf die »gefühlslinke« Versuchung einer »Volksfront« ein. Gerhard Schröder, vermerkt Bude kritisch, habe die »innerparteiliche Aufräumaktion« versäumt, und so träumten »viele mittlere und einige höhere Kader in der SPD lieber von einer Vereinigung der Linken, als daß sie zum Schnitt mit denen bereit wären, die von der alten Welt des deutschen Verteilungsstaates nicht lassen wollen«. In seiner Agendapolitik jedoch habe Schröder den Weg für eine »neue Sozialdemokratie« geöffnet: »Fördern und Fordern«, »Anreize und Sanktionen«, um Menschen in die Lage zu versetzen, »sich in den Unwägbarkeiten der Märkte... mitbewegen zu können«. Die Sozialpolitik einer »neuen Sozialdemokratie« bringt Bude auf die Formel: »Die Leute davon überzeugen, daß sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen müssen, obwohl man ihnen nichts versprechen kann – und auf Sanktionen als Mittel der Verhaltensbeeinflussung nicht verzichten.«
Gerhard Schröder hat im Wahlkampf über den »Professor aus Heidelberg« gespöttelt, den Angela Merkel sich in ihr »Kompetenzteam« geholt hatte. Aber Heinz Bude, der Professor aus Kassel, wäre als Theoretiker der sich selbst noch nicht begreifenden neuen Sozialdemokratie gewiß fähig, die gerade erst erfundene Partei rasch auf den Kirchhof zu bringen. Marja Winken
Glaubwürdigkeit
In der Führungsriege der SPD gibt es durchaus Politiker, die öffentliche Zweifel daran anmelden, daß Gerhard Schröder kraft eigenen Rechts Kanzler für alle Zeiten ist. Nicht so Andrea Nahles. Sie, so wissen die Medien zu berichten, »stellt sich hinter den Führungsanspruch Schröders«, als »Sprecherin der Linken in der SPD«. Welche Mitglieder der Partei diese »Linke« vertritt, läßt sich nicht ausmachen, es handelt sich bei ihr, heutigen Politikgewohnheiten entsprechend, um ein Phantom. Das fällt aber nicht weiter auf, denn die SPD ist ja auch »gefühlte Wahlsiegerin«, politische Ansprüche müssen keinen Boden in der Realität mehr haben.
Andrea Nahles, schon als Juso-Vorsitzende durch ihre wohlkalkulierte Aufmüpfigkeit für die Parteiführung von Nutzen, ist jetzt in den Bundestag geschickt worden und sogar als Generalsekretärin der Partei im Gespräch, als Nachfolgerin von Klaus Uwe Benneter, der den Genossen als zu verschlafen gilt. Nachdem sie schon im Wahlkampf Stichworte für die rötliche Färbung der Schröder’schen Rhetorik geliefert hat, kündigt sie nun vielversprechend an: Sie wolle »nicht hinnehmen, daß eine Partei namens Linkspartei sich dauerhaft etabliert«, insbesondere werde sie den »Kampf um die Gewerkschaften aufnehmen«, da seien Linkspartei-Mitglieder »fraktionierend tätig«. Weil zu befürchten sei, daß unter einer Großen Koalition noch mehr Parteigenossen der SPD »den Rücken kehren«, müsse der linke Flügel etwas für die »Glaubwürdigkeit« der Partei tun.
Das wird den Führern der SPD einleuchten, und wenn der Posten des Generalsekretärs dann doch anders besetzt werden muß, wird sich für Andrea Nahles ein anderes schönes Amt finden lassen. Als MdB muß sie nicht mehr, wie bis zur Wahl, bei der IG Metall geparkt werden. Zu der Zeit war ihr noch nicht eingefallen, daß »Fraktionierungen« in den Gewerkschaften ein Problem sein könnten.
Für die Zukunft ist ihr innerparteilicher Erfolg vorauszusagen. In der SPD besteht nach wie vor Bedarf an Führungsnachwuchs, der sich – zwecks »Glaubwürdigkeit« – als »links« etikettiert. Arno Klönne
Zerbrochene Fahnenstange (2)
Beim Amtsgericht Berlin-Tiergarten wurde am 15. und 22. September der Prozeß gegen fünf Polizeibeamte fortgesetzt, die beschuldigt werden, anläßlich des Staatsbesuches von US-Präsident George W. Bush im Mai 2002 den Palästinenser Khaled M. mißhandelt zu haben (s. Ossietzky 19/2005). Die Zeugenvernehmungen gestalteten sich schwierig: Nachdem die Prozeßeröffnung über drei Jahre hinweg verschleppt worden war, haben die meisten Zeugen Probleme, sich detailliert daran zu erinnern, was sie damals gesehen haben. Der Staatsanwalt blieb meist stumm wie ein Fisch, überließ die Befragungen dem Richter und den Anwälten beider Seiten.
Die Anwälte der Verteidigung bemühten sich nach Kräften, Zeugen, deren Aussagen die Angeklagten belasten könnten, als unglaubwürdig darzustellen, und sie attackierten auch die Anwälte, die den Nebenkläger Khaled M. vertreten. Einen Zeugen wollten sie als befangen erscheinen lassen, weil er selbst – wenige Wochen vor Bushs Besuch – als Opfer eines schlagenden Polizeibeamten Anzeige erstattet hatte. Überdies unterstellte die Verteidigung, die durch die Medien gegangenen Fotos von Khales M.’s Mißhandlung seien vor der Veröffentlichung manipuliert worden. Schließlich entblödete sich einer der Verteidiger nicht, ein Sachverständigengutachten für den Fall anzufordern, daß eine durch ärztliches Attest vom Prozeßtermin freigestellte Zeugin beim nächsten Termin wieder nicht erscheint: Die Zeugin hatte zweieinhalb Wochen zuvor entbunden.
Die geladenen Zeugen unterschieden sich deutlich in zwei Gruppen: Die einen waren noch immer geschockt und empört über das brutale Vorgehen der Polizei, berichteten von Schlägen und Fußtritten – auch als Khaled M. schon hilflos am Boden lag. Ein Bürgerdeputierter der SPD ergänzte seine Aussage mit den Worten, er habe nie etwas gegen die Polizei gehabt und hätte vorher ein solches Vorgehen nicht für möglich gehalten. Sein Weltbild war durch den beobachteten Vorfall merklich ins Wanken geraten. Der Richter empfahl ihm, ab und zu als Zuhörer einem Prozeß beizuwohnen.
Andere Zeugen hingegen – zumeist waren sie am Ort gewesen, um der Kolonne mit dem US-Präsidenten zuzuwinken – betrachteten es als eine »Provokation«, daß »so einer mit einer arabischen Fahne« auf die Straße ging und dann »die Polizisten angriff«. Das Vorgehen der Polizei war für sie völlig in Ordnung, von Schlägen und Fußtritten wollten sie nichts oder kaum etwas gesehen haben. Auf die Frage, ob der Geschädigte vielleicht geschrieen habe, antwortete eine Zeugin: »Ja, aber nicht Aua, sondern was von seinem Allah.« Offenbar beginnt die anti-islamische Medienkampagne bei einem Teil der Bevölkerung zu wirken.
Wenig ergiebig waren die Aussagen der Polizeibeamten, die damals dort den Straßenverkehr regelten. Sie konnten sich an nichts mehr erinnern, hatten gerade nicht hingesehen, konnten aber nicht ausschließen, daß irgend etwas geschehen war. Der Korpsgeist funktionierte.
Durch die Befragung des Polizeibeamten B. verbanden sich die Beschuldigungen gegen Unbekannt mit Namen und Gesichtern. B. gehörte damals zur selben Einheit wie die fünf Angeklagten. Er konnte daher aussagen, wer von den Fünfen zu welchem Zeitpunkt das Polizeifahrzeug verlassen hatte, um tätig zu werden. Der Zeuge war als Kraftfahrer eingesetzt und blieb während der Prü-gelorgie am Steuer des Fahrzeuges – er ist daher nicht angeklagt. Das Vorgehen seiner Kollegen empfand er aber als normal und richtig. Vermutlich hätte er in dieser Situation ebenso gehandelt. Auf eine entsprechende Frage sagte er, er sei einmal wegen unterlassener Hilfeleistung angezeigt worden – das Verfahren sei aber eingestellt.
Aufgrund der Aussage des Beamten B. kann der Ablauf des Einsatzes wie folgt rekonstruiert werden: Zwei Polizeifahrzeuge fuhren kurz vor Eintreffen des US-Präsidenten die Strecke ab, um mögliche Gefahren zu beseitigen. Zuvor hatte der verantwortliche Hundertschaftsführer »höchste Einschreitschwelle« angeordnet, jedoch ohne zu konkretisieren, was er meinte. Der Einsatzleiter stufte den am Straßenrand stehenden, arabisch aussehenden Mann mit der Fahne als Bedrohung für die Sicherheit des US-Präsidenten ein. Die Frage des Richters, ob jemand – in einer gepanzerten Limousine sitzend – durch eine Fahne ernsthaft gefährdet werden könne, verneinte der Zeuge. Aber man hätte die Polizei »verantwortlich gemacht, wenn es einen Versuch gegeben hätte«. Außerdem habe die Kolonne mit dem US-Präsidenten »keinesfalls zum Stehen kommen« dürfen.
Der Zeuge B. bestätigte ein gewaltsames Vorgehen seiner Kollegen, da »der Mann sich gewehrt« habe. Und Widerstandshandlungen müßten doch »gebrochen werden«. Das Resultat war, daß Khaled M. nach Wegnahme der Fahne mit gebrochenem Arm am Boden liegen blieb, während die Beamten gemäß einem über Funk erteilten Befehl den Einsatz fortsetzten.
Die Zeugenvernehmungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir berichten weiter. Gerd Bedszent
Kreuzberger Notizen
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»Mit Haß aus Liebe«
So heißen die wohlsortierten »Ansichten der Weltbühne«, von Peter Böthig und Sunhild Pflug verantwortet; Idee und Beratung Stefanie Oswalt, Gestaltung Martin Hoffmann. Mit historischem Kunstverstand ist diese Ausstellung in der Tucholsky-Gedenkstätte im Schloß Rheinsberg aufgebaut.
Ein solcher Verstand war den meisten der verehrten Kollegen, die sich in diversen Blättern in den vergangenen Tagen über Die Weltbühne und ihren hundertsten Geburtstag verbreiteten, eher nicht gegeben. Alle schrieben pflichtschuldigst, daß die Weltbühne bis 1933 eindrucksvoll, bis 1938 existent, jedoch von 1946 bis 1993 ein überaus gruseliges Blatt gewesen sein muß, das den Namen Weltbühne nimmer verdient hatte und folglich unerwähnt bleiben sollte. All diese schreibenden Kollegen in den so gern meinungsführenden Blättern sind mit Spiegel und Bild, mit FAZ und vielleicht ein bißchen taz großgeworden. Wer hingegen in der Pressewüste der DDR gelegentlich das rote Heft las, der merkte, daß hier denn doch ein etwas anderer Journalismus praktiziert wurde, wie auch in Teilen von Wochenpost und Sonntag, »immer ein wenig besser geschrieben, manchmal eine Spur wahrhaftiger und ganz selten auch mutig«. So Konrad Weiß, wahrlich kein DDR-Verehrer, im Jahre 1990 über Die Weltbühne.
Man liest in der Ausstellung über die Zeit von 1968 bis 1989 auch dieses: »Viele Autoren bemühten sich um ein intellektuelles Niveau; die Leser suchten zwischen den Zeilen.«
Das mag heute komisch erscheinen: Wieso liest man zwischen den Zeilen, wenn es übergenug an Zeilen, an Gedrucktem, an Meinungsführern und vor allem an Meinungsgefolgschaft gibt?
Man muß die Weltbühne für jene fast fünf Jahrzehnte ihres Daseins in SBZ, DDR und neuem Einheitsvaterland nicht glorifizieren; Respekt aber hat sie verdient. Doch um Respekt erweisen zu können, müßte man sie kennen. Das ist den Ausstellungsmachern von Rheinsberg zu konzedieren, nicht so den meisten Journalisten einer sonst nur in der DDR vermuteten Einheitspresse.
Matthias Biskupek
Später Bericht
Ein junger Deutscher, der Landessprache mächtig, aber als Ausländer durch seinen Akzent erkennbar, fährt an einem Wintertag 1943/1944 allein in einem Vorortzug von der Siedlung Malachowka vor den Toren Moskaus zu einer zwei Stationen entfernten anderen, ihm unbekannten, um dort einen Abend zu verbringen, und gelangt in einen Raum, in dem Russen, winterlich verpackt, musizieren und tanzen. Er mischt sich unter sie, lernt dabei ein Mädchen namens Julia kennen, freundet sich mit ihr an … –
Würde die Episode in einem Roman oder einer Novelle erzählt, könnte das dem Autor den Vorwurf allzu weit schweifender, sich von jeder geschichtlichen Wirklichkeit entfernender Phantasie eintragen. Berichtet hat von diesem Abend Hermann-Ernst Schauer, der damals mit ordentlicher Genehmigung seiner Ausbilder einen Abstecher von der Stätte unternahm, an der er auf einen besonderen Einsatz vorbereitet wurde.
Der in Rostock geborene Sohn eines dekorierten Offiziers des Ersten Weltkrieges, in gutbürgerlichem Hause aufgewachsen, Absolvent einer Kriegsschule der Wehrmacht, war, nur Tage nachdem er als junger Leutnant mit der 6. deutschen Armee in die Sowjetunion eingefallen war, in Kriegsgefangenschaft geraten. Die einstigen Klöster in Jelabuga und Oranki wurden Stationen seines weiteren Weges, auf dem er rasch zu neuen Einsichten und Erkenntnissen gelangte. Er wandte sich von der Naziideologie ab und fand Anschluß an die erste Gruppe gefangener deutscher Offiziere, die sich von Hitler und ihrem Eid lossagte und darob von der Mehrheit der Mitgefangenen isoliert, verachtet und auch gewalttätig angegangen wurde. Nach dem Besuch eines mehrmonatigen Lehrgangs in Krasnogorsk entschloß sich der Antifaschist zur Teilnahme an einem Einsatz hinter der Front in einem von Partisanen beherrschten Gebiet. Im März 1944 sprang er als Angehöriger eines Spezialkommandos 60 Kilometer nördlich von Minsk mit dem Fallschirm ab. Der Auftrag lautete, in den rückwärtigen Standorten der Wehrmacht mittels Flugblättern und Plakaten antinazistische Propaganda zu treiben, deutsche Soldaten zur Aufgabe des Kampfes, zum Überlaufen oder zum Schritt in die Gefangenschaft zu bewegen.
Schauer erzählt seine Geschichte konzentriert, ohne Ausschmückungen, zuweilen in einer an den Stil eines verlangten Lebenslaufes erinnernden Sprache. Der Bericht läßt an Vorläufer denken, Bücher, die zu DDR-Zeiten im Verlag der Nation erschienen; »Gewissen im Aufruhr« und »Der schwere Entschluß« wurden zu Bestsellern. Eine ähnlich weite Verbreitung wäre dieser Herausforderung zum Nachdenken über Krieg und Frieden zu wünschen. Kurt Pätzold
Hermann-Ernst Schauer: »Bleib aufrecht, mein Sohn – Eine autobiographische Erzählung«, trafo verlag, 133 Seiten, 13.80 €
Wiesenthals Bücher
Nach Simon Wiesenthals Tod war in der deutschen Presse richtig zu lesen, daß der Architekt und Ingenieur als Nazijäger rund 1200 NS-Verbecher gestellt und vor Gericht gebracht hat. Hier und da wurde auch erwähnt, daß er selbst ein Verfolgter war, der zwölf Konzentrations- und Vernichtungslager überlebte und auch nach 1945 jahrzehntelang Anfeindungen erfuhr.
Vergessen wurde der Moralphilosoph und politische Ethiker, als der er sich in seiner Autobiographie »Recht, nicht Rache« zeigt.
Und der Historiker. In »Jeder Tag ein Gedenktag. Chronik jüdischen Leidens« verzeichnete er 2000 Jahre jüdischer Verfolgungsgeschichte. In »Segel der Hoffnung« gab er ein neues Columbus-Bild: Er wies nach, daß der Tag des Beginns der ersten Expedition Seeweg Indien, der 2. August 1492, mit dem Befehl zur Austreibung der Juden aus Spanien übereinstimmte, daß ein Großteil seiner Besatzung Juden waren, die an diesem 2. August spätestens um 23 Uhr auf den Schiffen zu sein hatten, und daß der Personenkreis, der die Expedition im Namen des Königs Ferdinand und der Königin Isabella vorbereitet hatte, aus Conversos (getauften Juden) und Maranen (trotz Taufe heimlich Juden Gebliebenen) bestand. Die Expedition brachte ungeheuren Gewinn, der im Finanzministerium abgeliefert wurde. Columbus, wie Wiesenthal ihn darstellt, wollte Tausende von Juden retten, was auch teilweise gelang. Er wollte ihnen ein sicheres, das Gelobte Land schaffen. Die nachfolgende Masseneinwanderung aus Europa in den neuentdeckten Kontinent führte zur Unterdrückung und Vernichtung der eingeborenen Völker. Wiesen-thal schildert das, für die Opfer eintretend, als Tragödie.
Aus dem 1992 herausgegebenen Band »Ein unbequemer Zeitgenosse« sei hier ein Satz von Wiesenthal festgehalten: »Juden wird es so lange geben, als sie sich erinnern.«
Jochanan Trilse-Finkelstein
Press-Kohl
Freundin Christel liest die Frankfurter Rundschau. Was hat sie davon? Mitteilungen solcher Art: »Die Ehefrau des Piloten, ein Mann aus dem brandenburgischen Erkner, wird seit Tagen vermißt.« Auch ein Pilot darf einen Mann zur Ehefrau haben; ein gewisses Risiko kann aber damit verbunden sein.
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»Die Schwimm-Europameisterschaften finden in der Halle des Europasportparks statt und nicht im benachbarten Velodrom.« (Korrektur der Berliner Zeitung).
Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 20/2005
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