Zweiwochenschrift
10/2017 9/2017 8/2017 7/2017 6/2017 5/2017
Archiv
Abonnement
Impressum
Plattform SoPos
|
|
|
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können.
Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror.
Den Aufsatz kommentieren
Tucholskys fünfte Jahreszeit
Wolfgang Helfritsch
Schon auf der Fähre von Mukran auf Rügen nach Trelleborg fiel es uns auf, und wir fanden es dann immer wieder bestätigt: Der Schwede an sich oder für sich oder auch an und für sich, also der Schwede schlechthin, verkörpert im positiven Gegensatz zu unseren Landsfrauen und Landsmännern den Prototyp des freundlichen, ruhigen, ausgewogenen Menschen. Er verliert auch nicht die Fassung, wenn er einer der höchst seltenen Verkehrskontrollen unterzogen und gegebenenfalls zur Kasse gebeten wird. Im Gegenteil: Er bedankt sich höflich dafür, auf den rechten Weg gebracht oder zumindest an denselben erinnert worden zu sein. Er benutzt weder Kraftausdrücke, noch ballt er das Gesicht zur Faust, noch verpaßt er seinem Mittelfinger eine symbolische Streckung.
Eine schwedische Besonderheit scheint mir auch darin zu bestehen, daß man mehr Zutrauen zueinander hat. Die Autotüren werden gewöhnlich nicht abgeschlossen, wenn man Einkäufe erledigt, und manchmal bleibt auch der Zündschlüssel stecken, ohne daß sich jemand sogleich eingeladen fühlt, das Vehikel zu klauen. Mit den Wohnungstüren verhält es sich ähnlich.
Wir wallanderten zunächst auf der reizvollen Küstenstraße von Trelleborg nach Ystad ostwärts. Die Hoffnung, dem Kommissar zu begegnen, der in Mankells Krimibüchern trotz oder gerade wegen seiner kauzigen Eigenarten angenehm zu lesen, in den danach gedrehten Filmen jedoch kaum zu ertragen ist, erfüllte sich nicht. »Das wissen wir also jetzt«, hätte der stets von Gewissenskonflikten gebeutelte chronische Alkohol- und Aspirin-Mißbraucher Kurt Wallander dazu bemerkt.
Gut 300 Kilometer nordwärts von Ystad, nahe dem Städtchen Virserum bezogen wir ein Haus, das uns mit dem Geruch von frisch bearbeitetem Holz empfing – und mit weitem Blick auf Wiesen und Felder, auf denen die Bauern das Getreide einbrachten. Für uns begann die von Tucholsky genießerisch-schwär-merisch geschilderte, zwischen Sommerende und Herbstanfang eingeschobene fünfte Jahreszeit, wo, wie unser Dichter behauptet, »die Natur den Atem anhält«.
Wir beobachteten ein Kranichpaar, zu dem sich nach Tagen drei Jungvögel gesellten, und wir gewöhnten uns so an die Tiere, daß uns etwas fehlte, wenn ihre Krächzlaute ausblieben. Spätabends oder nachts, wenn wir noch vor der Tür standen, flogen uns Fledermäuse um die Ohren, die gleich uns Gefallen an der Unterkunft gefunden hatten. Aus dem auf einer Seite an das Grundstück grenzenden Wald wuchsen uns die Pilze fast auf den Tisch. Außer einem Stück Dorfkirche, das durch eine Baumgruppe zu uns herüberlugte und das verstreut dahinter liegende Dorf vermuten ließ, war weit und breit kein Gebäude zu sehen – und wir haben auch keins vermißt.
Unsere Gastgeber hatten uns eine Überraschung zugedacht. Wir hatten uns eines Morgens in aller Frühe im Touristikbüro Hultsfred einzufinden. Dort wurden uns Tickets für einen Vormittag auf der Draisine ausgehändigt, die auf einem stillgelegten Kleinbahnhof einzulösen waren. Die Befürchtung, sich auf einem klobigen Gefährt die Arme aus dem Körper rudern zu müssen, erfüllte sich glücklicherweise nicht. Jedem wurde ein Schienenfahrrad mit einer Art Beiwagen anvertraut, der auf dem zweiten Gleis mitlief. Nach einer unterschriftlich zu bestätigenden Belehrung über das Verhalten an Bahn- und Straßenkreuzungen und bei Begegnungen mit Elchen schnurrten wir auf unseren Rädern auf und davon. Zwischen den Schienen begrüßten uns Mooskappen und Birkenpilze, die uns zu mancher Fahrtunterbrechung verleiteten.
Auf Fahrradtouren zu den nahegelegenen Seen erfreuten wir uns immer wieder der freundlichen Menschen. Man grüßt sich, auch wenn man sich noch nie begegnet ist, winkt sich im Vorbeifahren zu und duzt sich, wenn man miteinander ins Gespräch kommt.
Der mit Spannung erwartete Höhepunkt unserer Reise war die Vorstellung unseres Tucholsky-Programms »Das Leben ist gar nicht so – es ist ganz anders...« in Mariefred, dem Ort am Mälarensee, in dem der Dichter vor seinem Umzug nach Hindas gelebt hat und in dem er seit nun bald 70 Jahren begraben liegt. Hier, in dem an das Örtchen angrenzenden Schloß Gripsholm, spielt seine 1932 erschienene Novelle, die das Grauen der zwölfjährigen Nazi-Herrschaft voraus-ahnen ließ.
Die Idee für unseren Auftritt war 2003 in einem Gespräch mit der engagierten Schloß-Mitarbeiterin Maren von Bothmer entstanden, einem langjährigen Mitglied der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft. Sie hatte sich der Unterstützung des Partnerschaftsvereins Mariefred-Rheinsberg versichert, die deutsche Botschaft in Stockholm für die Veranstaltung interessiert und Werbung betrieben. Sachkundig begrüßte Botschaftsrat Frank Hempel Schweden und Deutsche, Einheimische, aus anderen Orten Angereiste und Urlauber – und uns, die Mitglieder des Zimmertheaters Berlin-Karlshorst. »Kaum zu glauben« sei es, sagte er, »daß Tucholskys Tod sieben Jahrzehnte zurückliegt – so beklemmend aktuell sind viele seiner Texte«. Mit Beifall wurde seine Mitteilung quittiert, daß nach der Abwicklung der Tucholsky-Stiftung 70 Jahre nach Tucholskys Tod das Auswärtige Amt in Berlin die Pflege der Grabstätte übernimmt.
Marlis sang wie eine Nachtigall, unser Pianist Tommy spielte wie ein junger Gott, und ich lag auch nicht völlig quer. Die Zuschauhörer verfolgten jede textliche Nuance und sparten nicht mit Applaus, und nach mehreren Zugaben stand man noch lange in kleinen Runden beieinander, um über die Aktualität der Texte zu diskutieren.
Wir genossen die linde Nacht der fünften Jahreszeit an historischer Stelle und schauten zurück auf das Schloß, auf dessen Turm romantisch der Vollmond stand. »Kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still – Der See liegt wie gemalt... Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht...«
Auf Nebenstraßen, an Seen entlang, fuhren wir die gut 400 Kilometer zu unserem Häuschen zurück, Tucholsky immer mit uns: »Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen... Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden...«
Drei Tage später tauchte ein gewichtiger Volvo mit einem gewichtigen Hänger vor unserer Oase auf und bog zielsicher in die Einfahrt ein. Der freundliche, gleichfalls gewichtige Mann, der sich kurzatmig aus dem Wagen hievte, erwies sich als der zuständige Schornsteinfegermeister. Unsere Gastgeber hatten ihn angekündigt. Doch die Inspektion des Schornsteins entfiel, nachdem sich Herr Fred Kaspersson beim Kaffeetrinken als Musikliebhaber und Gospelsänger zu erkennen gegeben und Tommy das Elektro-Piano angeworfen hatte. Ein improvisiertes Konzert drängte das biedere handwerkliche Vorhaben ins Abseits, und es wurde gleich noch ein Hausmusikabend eine Woche später verabredet. Fred ist der erste Schornsteinsänger, der mir je begegnet ist.
Wir selber hatten uns auch handwerkliche Arbeiten vorgenommen. Wir wollten uns für die Gewährung des Domizils durch den Anstrich einer Seite des Hauses bedanken. Das war jedoch leichter gesagt als getan, denn die im Schuppen vorgefundene typische schwedische Außenfarbe, ein rotbraunes Mennige-Gemisch, hatte durch den Frost des letzten Winters Schaden genommen und war nicht mehr verwendbar. Also mußte erst Ersatz beschafft werden.
Der rotbraune Anstrich gehört zu Schweden wie das Wasser zur Ostsee. Die Farbe wird aus einem Abfallprodukt der Metallindustrie gewonnen und ist daher relativ preiswert. Früher soll sie sogar kostenlos an Hausbesitzer abgegeben worden sein. Die Mehrzahl der Holzhäuser wird damit behandelt, da sie gut in das Holz eindringt, wetterbeständig ist und lange vorhält. Zudem wirkt sie gemütlich und warm. Wir beschafften uns also Falu rödfärg, von eingeschwedischten Deutschen Falunrot genannt.
Wir brauchten zweieinhalb Tage, da wir uns nach der Begutachtung des zu bepinselnden Materials dafür entschieden, einige morsche und arg zerfaserte Bretter und Leisten auszuwechseln und erst danach zur malerischen Vollendung überzugehen. Stolz auf unser Werk bewunderten wir es dann täglich mehrmals.
Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, daß das schwedische Rödfärg nicht nur von ungehobeltem Holz, sondern auch von menschlicher Haut gut angenommen wird. Doch es läßt sich abwaschen – von den Resten unter den Fingernägeln abgesehen. Sie verschwinden, wie uns gestandene Anstreicher glaubhaft versicherten, allmählich mit dem Nachwachsen und Beschneiden der Nägel.
Tucholskys fünfte Jahreszeit ist sicherlich kein schwedisches Spezifikum. Uns schien es jedoch, als zeigte sie sich hier besonders intensiv. »Nun ist alles vorüber, geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist… Wenn sich die Natur niederlegt wie ein ganz altes Pferd, so müde ist’s… dann ist die fünfte Jahreszeit…«
Erschienen in Ossietzky 20/2005
|