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Die japanische Septemberwahl
Manfred Sohn
Im bundesdeutschen Wahlkampf ist die Parlamentswahl in einem der wichtigsten Länder Asiens fast unbemerkt geblieben: Japans Unterhauswahl am 11. September. Da wir hier jetzt ein bißchen Zeit haben, bis die Mehrheitsbildung in Berlin abgeschlossen ist, sollten wir uns einen ruhigeren Blick nach Tokio gönnen. Er lohnt.
Als bekannt darf vorausgesetzt werden, daß die Liberaldemokratische Partei (LDP) mit Ministerpräsident Koizumi an der Spitze ein lange umstrittenes Gesetz zur Privatisierung der Post parlamentarisch nicht hatte durchsetzen können. Koizumi scheiterte nicht an der Opposition – deren größte Partei wollte gleichfalls die Post privatisieren, sogar schneller und umfassender als er. Der Ministerpräsident stolperte, weil Abgeordnete der eigenen Partei dagegenstimmten. Daraufhin schrieb er sofort die Neuwahl aus.
Als Wahlkämpfer konzentrierte er sich ganz auf die Postreform, die er als Schlüssel für die Liberalisierung und damit Wiederbelebung der japanischen Wirtschaft darstellte. Zudem stellte er in den Direktwahlkreisen ihm ergebene Kandidaten gegen die LDP-Rebellen auf, führte also auch einen Wahlkampf gegen die opponierenden Teile der eigenen Partei. Der Coup gelang. Die LDP hat nun 296 der 480 Sitze im Unterhaus (ein Plus von 59 gegenüber 2003) und zusammen mit dem religiösen Koalitionspartner Komei (31 Sitze, minus drei) die Zweidrittelmehrheit, die er zum Beispiel braucht, um Einsprüche der zweiten Kammer des Parlaments zu brechen. Großer Verlierer der Wahl ist die Demokratische Partei Japans (DP), die von ihren vorher 177 auf nunmehr 113 Sitze reduziert wurde.
Drei Aspekte lohnen ein genaueres Hinsehen.
Zum einen zeigt sich, wie mit heutigen PR-Maschinen nationale Wahlen auf ein Nebenthema konzentriert, danach aber politisch für ganz andere Hauptthemen ausgeschlachtet werden können.
Die Postreform ist nicht irrelevant. Man kann die heutige Staatspost Japans mit der Deutschen Bundespost vor ihrer Zerschlagung vergleichen, als sie noch Briefverkehr, Telefon und Giro betrieb. In Japan kommt noch eine Lebensversicherung hinzu, die ungefähr 40 Prozent Marktanteil hat und insgesamt Einlagen von fast drei Billionen Euro verwaltet – insofern die größte Bank der Welt. Die Privatisierung öffnet den internationalen Banken die Tore Nippons und wird vor allem auf die Struktur der Altersversorgung in Japan tiefgreifende Auswirkungen haben – wie sie hierzulande etwa bei totaler Privatisierung und Entkommunalisierung der Sparkassen, Landesbanken und öffentlichen Versicherungen entstehen würden.
Das Gesetz, um das es geht und das als Entwurf Nr. 1 dem neuen Parlament wieder vorgelegt werden soll, sieht aber eine Teilprivatisierung der Finanzdienstleistungen in Stufen vor, deren letzte erst für 2017 terminiert ist. Ein Grund für eine vorgezogene Neuwahl ist das eigentlich nicht. Koizumi hat das am Morgen nach der Wahl auch eingeräumt, als er in einer Pressekonferenz verkündete: »Nicht nur die Postreform, sondern auch andere Reformen werden auf der Grundlage der Fortschritte, die wir in den letzten vier Jahren erreicht haben, durchgeführt werden.«
Im Vorfeld der Wahl waren hauptsächlich folgende Absichten umstritten, die Koizumi aber erfolgreich aus dem Wahlkampf heraushielt: die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Erhöhung der Einkommenssteuer vor allem für Normalverdiener und die Revision der Verfassung, besonders des Artikels 9.
Dieser Artikel verbietet Japan für alle Zeit das Führen von Kriegen und folglich den Unterhalt einer Armee. Er mußte haarsträubend interpretiert werden, damit man zum Beispiel die Entsendung japanischer Truppen in den Irak rechtfertigen konnte. Jetzt soll er einem LDP-Entwurf zufolge so umgeschrieben werden, daß Japan künftig »Selbstverteidigungskräfte unterhalten« darf, die »in international koordinierte Aktivitäten eingebunden werden können, um Frieden und Sicherheit in der Welt zu sichern«. Damit wäre der Weg an die Seite der USA zur Kriegführung rund um den Globus sperrangelweit offen.
Koizumi also wird nach zügigem Abhaken der Postreform, die ihm geholfen hat, die Wahl zu gewinnen, die Belastung der Bevölkerung erhöhen und die »Enttabuisierung des Militärischen« (Schröder) weitertreiben. Letzteres wird schwerer als die geplanten Steuererhöhungen, weil selbst bei einer Zweidrittelmehrheit im Parlament Verfassungsänderungen noch einer Volksabstimmung bedürfen – deshalb hat die heutige japanische Verfassung mit der von 1947 auch noch viel mehr zu tun als unser zerschundenes Grundgesetz mit dem von 1949.
Und damit sind wir beim zweiten bislang in Deutschland kaum wahrgenommenen Aspekt der japanischen Septemberwahl. Die dortige Opposition besteht nicht nur aus der – mit der hiesigen SPD vergleichbaren – DP, deren Vorsitzender die herbe Niederlage zwar nicht in alter Samurai-Tradition mit Selbstmord, aber doch immerhin mit Rücktritt quittiert hat. Stabil geblieben ist die kleinere, politisch der PDS oder der neuen Linkspartei ähnelnde Japanische Kommunistische Partei (JKP). Sie hat wegen der höheren Wahlbeteiligung zwar von 7,7 auf 7,3 Prozent nachgegeben, aber an absoluten Stimmen um 333 000 auf jetzt 4,9 Millionen zugelegt. Sie wertet dieses Ergebnis als Erfolg: Es habe »den Rückwärtstrend bei den letzten nationalen Wahlen gebrochen« und könne »als ordentliche Basis für künftige größere Fortschritte betrachtet werden«. In der Diskussion um die Zerschlagung der Post war sie die einzige größere Partei, die sich grundsätzlich gegen die Privatisierung dieses Zweigs der Altersversorgung stellte. Es gelang ihr allerdings nicht, die aus ihrer Sicht wesentlichen Zukunftsthemen – Verteidigung der Verfassung und Sicherung des Lebensstandards der Arbeiter und Angestellten – in die Debatte zu bringen. In ihrer Wahlauswertung verweist sie darauf, daß Koizumis Entscheidung, ein Thema in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen, das nicht Hauptthema der Gesetzgebungsarbeit der kommenden Monate und Jahre sein wird, dazu führen werde, »daß die Widersprüche zwischen den Erwartungen der Öffentlichkeit und der LDP schärfer denn je werden«. Das gelte besonders für die bevorstehende Auseinandersetzung um den Artikel 9, der eben ohne eine Volksabstimmung nicht zu ändern sei.
Der dritte Aspekt unserer Betrachtung betrifft das Wahlrecht. Auch in Japan wird in einer Mischung von Mehrheits- und Verhältniswahl gewählt. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, daß die in den Direktwahlkreisen errungenen Mandate nicht auf die Landeslisten angerechnet werden. Wer bei uns in Deutschland kleineren Parteien das Leben schwer machen wollte, bräuchte nicht unbedingt die Fünf-Prozent-Klausel zu erhöhen, er könnte nach japanischen Vorbild auch schlicht den Passus streichen, nach dem (abgesehen von Überhangmandaten) nur die Zweitstimme die Zusammensetzung des Parlaments bestimmt. Dann bekäme eine Partei mit zehn Prozent der Erst- und zehn Prozent der Zweitstimmen, wenn sie kein Direktmandat holt, nur fünf Prozent der Sitze.
Zudem ist in Japan die Zahl der Sitze, die nach Direkt- und Listenwahl vergeben werden, nicht halbe-halbe geteilt. Stattdessen werden 300 der 480 Sitze durch Direktwahl besetzt und 180 durch Listenwahl nach regionalen Blöcken.
So erklärt es sich, daß die LDP bei der Listenwahl zwar nur 38 Prozent der Stimmen (bei der Direktwahl durchh Absprachen mit der Komei-Partei 48 Prozent), aber mehr als 60 Prozent der Sitze errang, während die DP mit 34 Prozent bei der Listen- und 36 Prozent bei der Direktwahl nur auf 24 Prozent der Sitze kam. Die JKP erhielt bei 7,3 Prozent der Stimmen gerade 1,8 Prozent der Sitze.
Die stabilsten, kriegerischsten Regierungen der westlichen Hemisphäre sind zur Zeit die der USA und Großbritanniens. Es ist kein Zufall, daß es diejenigen mit dem sogenannten Mehrheitswahlrecht sind, das die Mehrheitsmeinung des Volkes am zuverlässigsten verzerrt. Begründet wird das oft damit, daß es die Regierungsbildung erleichtere. In Japan gab es vor der Wahl und gibt es selbst nachher Forderungen, die Zahl der nach dem Verhältniswahlrecht vergebenen Parlamentssitze noch weiter zu reduzieren. Wir tun gut daran, die deutsche Wahlrechtsdiskussion genau zu beobachten. Sie wird lebhafter werden, je länger sich Frau Merkel mit ihrer Regierungsbildung hinquält.
Erschienen in Ossietzky 20/2005
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