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»Kommt Ihr nächste Woche wieder?«
Dirk Vogelskamp
Ein bunter und lautstarker Demonstrationszug, von den meisten Anwohnern allerdings unbeachtet, zog am letzten Septembersamstag im Osnabrücker Land durch das gleichgültig in der Sonne schlummernde Dorf Hesepe zum zweieinhalb Kilometer zwischen Birkenwäldchen und Maisfeldern entlegenen Rückführungs- und Abschiebelager Bramsche-Hesepe. Hier leben derzeit mehr als 500 asylsuchende Menschen, die nach Einschätzung der Asylbehörden keine Aussicht auf ein Bleiberecht in Deutschland haben. In diese Kategorie fallen mehr als 95 Prozent aller in Deutschland ankommenden Flüchtlinge. In Lagern wie diesem – es gilt als Modellprojekt – sollen sie von der »freiwilligen Ausreise« überzeugt werden.
Die Aktion, zu der das Komitee für Grundrecht und Demokratie und das No-Lager-Netzwerk unter dem Motto »Wer Menschen in Lager steckt, erniedrigt sie« aufgerufen hatten und an der etwa 450 DemonstrantInnen, darunter gut 100 MigrantInnen, teilnahmen, sollte mit einer gewaltfreien öffentlichen Inspektion des Lagers abgeschlossen werden, wobei wir auch mit den Lagerinsassen Kontakt aufnehmen wollten. Die Lagerleitung verweigerte jedoch dem Grundrechtekomitee eine öffentliche Inspektion durch eine Delegation von BürgerrechtlerInnen, JournalistInnen und MigrantInnen. Stattdessen bot sie an, eine kleine Gruppe von maximal zehn Personen durchs Lager zu führen. Das Komitee lehnte ab: Es wolle sich nicht die potemkinschen Dörfer einer ordentlich verwalteten Lagerwelt mit Werkstätten, Schule, Bibliothek und Kinderbetreuung vorführen lassen.
Ein Komitee-Sprecher erklärte: »Wir demonstrieren heute hier: um die Bedingungen der herrschenden Öffentlichkeit ein klein wenig zu verschieben; um das öffentliche Beschweigen der Lager zu durchbrechen; um Desinteresse, Gleichgültigkeit, Unwissenheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie ihre Unfähigkeit, das Leiden anderer wahrzunehmen, die das Lager wie ein undurchdringlicher Zaun zusätzlich umschließen, ein Stück einzureißen.«
Die Demonstranten, am Lager angekommen, stießen auf eine durch Absperrgitter markierte, mehrere Meter vorverlagerte Demarkationslinie, die sie auf Distanz zum Lager halten sollte. Zur Verstärkung warteten dahinter gewalttrainierte Bereitschaftspolizisten auf ihren Einsatz. Damit war der Weg zum Lagertor versperrt, hinter dem einige Lagerinsassen neugierig das Protestgeschehen beobachteten. Ein demonstratives – von den Medien begehrtes – Rütteln am Stahltor sollte dieses Mal verhindert werden.
Einige konfrontationserfahrene Demonstranten rissen ohnmachtswütend im ersten Ansturm zwei Absperrgitter aus der polizeilichen Sicherheitsordnung. Punktgewinn im ersten Schlagabtausch. Darauf entstand der gewohnte Demonstrationstumult: gegenseitiges Drücken und Drängen. Einige ältere Demonstrationsteilnehmer zogen sich verängstigt zurück. Die bereitgestellte Staatsgewalt, wahllos dreinschlagend, stellte kurze Zeit später die gewünschte Ordnung vor dem Lager wieder her. Die Demarkationslinie hielt. Ausgleich: eins zu eins.
Empörung über die Polizeigewalt kommt auf. Der Protest gegen die Gewalt der Lagerunterbringung trifft für einen Moment aggressiv die Polizei. Ein Migrant, der den Organisatoren hilft, die Redebeiträge ins Französische zu übersetzen, stellt lakonisch fest: »Ich werde sicherlich bald abgeschoben. Wehre ich mich nicht gegen diese Verhältnisse, werde ich auch abgeschoben. Also wehre ich mich lieber.«
Aufrufe zur Deeskalation ergehen an beide Seiten. Musik erklingt. Politische Balladen, begleitet von Geige, Querflöte und Gitarre, werden vorgetragen; anschließend singt ein lokaler Liedermacher. Die Situation entspannt sich; das lokale Kochkollektiv des No-Lager-Netzes verteilt Mittagessen und Getränke. Die Reden über das europäische Lagersystem und über den menschenrechtswidrigen Charakter der Lager werden kaum noch wahrgenommen. Zudem ist im weitläufigen Rund des Parkplatzes vor dem Lager die Stimme aus dem Lautsprecherwagen nicht überall zu vernehmen.
Flüchtlinge im Lager, die zu der Kundgebung wollten, wurden entgegen der Zusage der Lagerverwaltung nur einzeln durch einen Spalier aus Polizisten und Absperrungen herausgelassen. Nur wenige trauen sich. Flüchtlinge, die zurück ins Lager wollen, kommen nicht durch. Das polizeibewachte Nadelöhr des Lagereingangs ist verstopft. Beschimpfungen. Tumult. Polizisten schlagen erneut auf Demonstranten ein. Verletzen ein Flüchtlingskind. Zerren einen Mann in den Sicherheitskordon.
Mich trifft ein hilfesuchender Blick eines Mannes, der mit Frau und Kind an der Demarkationslinie unsicher wartet. Ich wende mich an die Einsatzleiterin und bitte, daß die Familie unbehelligt ins Lager zurückkehren kann. Plötzlich spüre ich eine weiche Hand in der meinen. Ich schaue ein Mädchen an. Die Kleine bittet: »Kommt Ihr nächste Woche wieder?« Ich bringe keinen Ton heraus. Suche verzweifelt nach tröstenden Worten. »Sie kommen nur einmal im Jahr!« antwortet neben mir ein Flüchtling aus dem Lager Hesepe, der seine Tränen kaum unterdrücken kann. Er trägt selbstgenähte KZ-Häftlingskleidung: gestreifte Jacke, Hose und Kopfbedeckung. Er war mir den Tag über schon aufgefallen. Darf man diese Parallelen herstellen? »Wie ist es, kommt Ihr nächste Woche?« Das Mädchen läßt nicht locker. Ich schüttele den Kopf, schlucke. »Wir kommen wieder,« bringe ich endlich hervor, »vielleicht im nächsten Jahr.« Die Kleine verschwindet mit ihren Eltern hinter Absperrgittern und gelangweilt herumstehenden Polizisten. Nach Auskunft der Lagerleitung beträgt die durchschnittliche Verweildauer der Flüchtlinge nur noch sieben bis acht Monate.
Erschienen in Ossietzky 20/2005
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