Zur normalen Fassung

Hugo Chávez

Der rote Jaguar zeigt seine Krallen

von Utz Anhalt (sopos)

Ich bereiste Venezuela 1996. Die Militärpolizei hatte im Februar linke Studenten erschossen. Die Architektur in den Vierteln der Oberschicht von Caracas erinnerte an ein Manhattan in 20 Jahren. Die Barrios der Armen lagen wenige Kilometer entfernt, froh war, wer ein Wellblech hatte. Unterstände aus Planen, besiedelt von Menschen, Hühnern und Schweinen waren in die Schlammhügel gebaut. Die Regenzeit spülte ganze Slums hinweg. Die Schulbildung in den Siedlungen der Gran Sabana, bei den Landarbeitern, tendierte gegen 0. Eine Lehrerin bat einen Bekannten, ihren Unterricht zu besuchen. Die Schüler trugen ein Referat vor. Thema: Was besucht der Tourist in Paris? Einziges Material war eine Fotosammlung aus den 1950er Jahren. Das ist keine Anekdote, sondern ein Beispiel für den damaligen Zustand der öffentlichen Bildung.

Venezuela ist kein armes Land, eine sonst mögliche Erklärung der damaligen katastrophalen Volksbildung, medizinischen Versorgung und des Elends breiter Bevölkerungsschichten. Es ist eines der reichsten Länder der Welt, der größte Erdölproduzent nach den arabischen Staaten. Der Schriftsteller Galeano zeigte, wo der Reichtum aus dem Ölgeschäft blieb. Die "Miamieros", die Oberschicht von Caracas, hatte in den 1970ern zum Beispiel den höchsten Pro-Kopfverbrauch an schottischem Whisky und Äpfeln aus Europa weltweit. Dafür gab es kaum Überlandstraßen. Miamieros hießen die Angehörigen der Oberschicht von Caracas, weil sie am Wochenende nach Miami jetteten, um für ein paar tausend Dollar zu shoppen. Hätte Eduard von Schnitzler seine Karikatur des Kapitalismus belegen wollen, er hätte nur die Kamera draufhalten müssen.

Wenn ich mit kritischen Intellektuellen diskutierte, fielen drei Namen: Simon Bolivar, Fidel Castro und Alexander von Humboldt. Simon Bolivar war der Kämpfer für die politische Unabhängigkeit Südamerikas. Sein Traum war ein Großkolumbien, dass die heutigen Länder Kolumbien, Bolivien, Venezuela und Peru umfasst hätte - eine Art USA des Südens. Fidel ist bei dem Gros der Linken Venezuelas bis heute das Symbol für die Unabhängigkeit vom US-Imperialismus. Alexander von Humboldt gilt in Venezuela als wirklicher Entdecker Amerikas. Er war einer der wenigen, der nicht zum Raub, wegen Gold oder "Bekehrung der Heiden" an den Orinoko kam. Humboldt verausgabte vielmehr sein Millionenvermögen, um Land und Leute, Fauna und Flora wissenschaftlich zu erfassen. Er ist in Venezuela eine Art Nationalheld. "Green go home" riefen die Mexikaner einst der US-Army hinterher. "Gringo" hört man als Europäer, Kanadier oder US-Amerikaner in Venezuela dutzende von Malen - pro Tag. "Fuck you Gringo, fuck America" und "No americano, Alemangna" führt nicht zwangsläufig zum obligatorischen "Bueno, Adolf Hitler, Dobermann, Rottweiler, good", sondern manchmal zu Gesprächen über die bessere Seite der Entdeckung, über Humboldt und Simon Bolivar.

Was politisches Bewusstsein anging, musste ich in den Diskussionen - Kuba als einziger Realitätsbezug außer den Zapatisten, eine Kröte schlucken. Entweder Einparteiensystem, hohes Bildungsniveau, geringer Analphabetismus etc. oder "Demokratisierung" und US-Bordell. Soziale Demokratie erschien vielen meiner linken Gesprächspartner unvorstellbar: "Itīs such a rich country. Itīs called democracy. Some people getting fadder and fadder and you see your friends starving to death. Is that democracy?" Diese Antwort gab mir ein Castro-Anhänger in Ciudad Bolivar am Orinoko, als ich anmerkte, dass Kuba ein Polizeistaat ist.

Ich diskutierte mit Venezolanern darüber, wie ein besseres Gesellschaftssystem in diesem wundervollen Land aussehen könnte. Die Lösungen lagen auf der Hand: Verstaatlichung des Erdöls, Investition des Erlöses in das Bildungssystem und kostenlose Versorgung mit Medikamenten, Ausbau der lokalen Selbstverwaltung, Kooperation mit den Indigenen bei Anerkennung ihrer Landrechte und Schutz der Ökosysteme vor Ausbeutung durch Global Players. Diese Wunschliste war unerfüllbar - so die Meinung der meisten.

Die Reise liegt neun Jahre zurück. Der heutige Präsident Venezuelas heißt Hugo Chávez. Er ist ein Caudillo, ein Volkstribun aus der Gewerkschaftsbewegung. So einen gab es auch im Nachbarland Kolumbien, Jorge Elicier Gaitan. Diese Charismatiker mit ihrer Anhängerschaft der Ausgestoßenen tauchen in Südamerika immer wieder auf. Sie enden oft mit einer Kugel im Kopf wie Gaitan oder erweisen sich als ebenso korrupt wie ihre konservativen Gegner, gehen in die Guerilla oder verschwinden im politischen Nichts. Chávez wäre demnach nicht ungewöhnlich.

Chávez ist ungewöhnlich. Man möchte sich die Augen reiben vor seinem Programm: Kostenlose Versorgung mit Medikamenten, Zurückdrängen der Oligarchien und US-Konzerne, eine Million neue Schulplätze angekündigt, Verstaatlichung der Erdölgesellschaften, der Reichtum des Landes fließt in die Bildung und ein breites soziales System. 100 000 russische Kalaschnikows, um im Fall eines Falles einen asymmetrischen Krieg wie in Vietnam gegen die USA zu führen. Dazu Kooperation mit der Globalisierungskritik und Indioguerillas sowie ein Wiedererwachen der Blockfreiheit, um sich aus der US-Abhängigkeit zu befreien. Ein Bündnis mit traditionellen Kommunisten, deren Ansätze er aber für den Sozialismus im 21. Jahrhundert als überholt ansieht. Castro ist ein "Bruder", die Regierung Bush wird vor der Weltöffentlichkeit als Bedrohung für den Weltfrieden bezeichnet, eine strategische Allianz zwischen Brasilien und Venezuela will Chavez aufbauen, um Pflöcke gegenüber den USA einzuschlagen. Der rote Jaguar zeigt seine Krallen?

Enger Austausch mit anderen Regierungen im Süden der neuen Welt, die ebenfalls ihre neoliberalen Regime kippten, hat der Militär Chavez auf seine Fahnen geschrieben -. das alles mit einem Alt-68er Berater, der das Konzept des vierten Weges proklamiert: Demokratie als soziale Partizipation auf der Grundlage der Volksbildung, Bruch mit der orthodoxen Linken, Integration der Mittelklasse in die Perspektive einer zeitgemäßen sozialen Gesellschaft. Das erinnert an Prager Frühling in Südamerika.

Man wird doch noch träumen dürfen. Es ist aber kein Traum, sondern das partiell umgesetzte Programm der bolivarischen Revolution - so nennt die Regierung ihre Politik. Die Vorbilder des Commandante Chavéz sind Fidel Castro und Simon Bolivar. Simon Bolivar führte Südamerika in die Unabhängigkeit. Die bolivarische Revolution wäre nicht als bolschewistischer Putsch nach dem Vorbild Russlands zu verstehen. Bolivars Ziel waren die Vereinigten Staaten von Lateinamerika - nach dem Vorbild der Unabhängigkeit der USA. Bolivars Truppen gewannen ihre Schlagmacht erst, als sich die Lanzenreiter der Lianos - die Cowboys Südamerikas - ihm anschlossen. Ihre Bedingung war, dass auf die nationale Unabhängigkeit die soziale Revolution folgen müsse. Hier gibt es Überschneidungen zum Programm von Chavéz. Er vermeidet den Kardinalfehler der orthodoxen Linken Venezuelas in den 1970er Jahren - die Organisierung der Unterklassen gegen die städtischen Mittelschichten. Das Aufflackern dieser "Kinderkreuzzüge" war in Lateinamerika Legion - die Armen gegen die etwas weniger Armen, die vom Land gegen die aus der Stadt, die Landlosen gegen die Landbesitzer. Strohfeuer dieser Aufstände verliefen außerordentlich blutig - die Violencia in Kolumbien forderte zum Beispiel 200 000 Opfer. Nach den Massakern ging alles wieder seinen gewohnten Gang - die Großgrundbesitzer blieben - nicht einmal moderne - Feudalherren, die Polizei blieb brutal und korrupt, die Landlosen blieben ohne Land, die Elenden elend.

Ein zweiter Bogatozo - der Beginn des Massenmordes in Kolumbien - wo Anhänger des ermordeten Volkstribuns Gaitan die Läden Bogotas plünderten, ist in Venezuela kaum vorstellbar. Opfer des Bogotazos waren - ähnlich wie in Los Angeles - nicht die Oligarchen, sondern das Kleinbürgertum und der Mittelstand. Chavéz sucht das Bündnis der Parias, der Landlosen, der Bewohner der Barrios, der Indios mit den städtischen Mittelschichten, dem Bildungsbürgertum und Teilen der Bourgeoisie. Dieses Bündnis ist notwendig: Die Voraussetzung für soziale Emanzipation ist Volksbildung; die allgemeine Steigerung des Bildungsniveaus kann aber nur von den Gebildeten ausgehen - und nicht, indem diese wie in der Violencia Kolumbiens abgeschlachtet werden. Chavéz Gegner sind die Großgrundbesitzer und die Oligarchie.

Das Symbol der bolivarischen Revolution gibt Aufschluss. Die bürgerliche Revolution hat in Lateinamerika nicht wie in den USA statt gefunden. Eine wahlweise maoistische, stalinistische oder linkspopulistische Propaganda verdeckte im letzten Jahrhundert den entscheidenden Punkt. Es wäre in Lateinamerika erst einmal um die Entwicklung der nationalen Bourgeoisie gegangen, die in Europa und den USA der Träger der bürgerlichen Revolutionen war. Die Aufgabe hätte in der Schaffung eines lateinamerikanischen Binnenmarktes, eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes wie in den USA bestanden. Die Bourgeoisie Venezuelas, Argentiniens, Brasiliens, Guatemalas usw. als solche zu benennen, fällt schwer. Es handelte sich primär um eine Art Verteilercliquen, Zwischenhändler, die aus den Häfen die nationalen Reichtümer an die USA und Europa verschacherten.

Die historische Erfahrung lehrt, Haare in der Suppe zu suchen. Zu nah ist die Erinnerung an idealistische Studenten in Berlin oder Paris, die sich von den roten Khmern "praktizierten Kommunismus" vorführen ließen - ohne den Mord an Millionen zu bemerken. Zu nah sind realsozialistische Wahlen, in denen der "demokratisch Gewählte" 98% der Stimmen erhielt und der Gulag für die Dissidenten nebenan lag. Chávez hat keine derlei Leichen im Keller, im Gegenteil: Ein Generalstreik beendete einen Putsch rechtsradikaler Militärs. Der Populist wird von der Mehrheit der Menschen in Venezuela gewählt, ist erneut bestätigt worden und wird aktiv von ihnen getragen. Wo er auftritt, setzen sich Massen in Bewegung wie sonst nur bei Robbie Williams.

Noch ungewöhnlicher, als dass Chavez keine Leichen politischer Gegner verscharrt hat, erscheint, dass: Hugo Chávez selbst keine Leiche ist. Jeder Punkt seines Programms hätte ausgereicht, um unter den Kugeln der Großgrundbesitzer, der Geheimdienste, der Todesschwadronen oder ähnlich sympathischer Zeitgenossen zu enden - irgendwo in einem Straßengraben, wie Chico Mendes, wie Salvador Allende.

Condoleeza Rice bezeichnete den linken Popstar als "Gefahr für die Stabilität des Kontinents." Die aus solchen Formulierungen resultierende Todesdrohung ist bekannt. Und trotzdem: Ein schöneres Kompliment kann es für einen linken Präsidenten in Südamerika kaum geben. Die vereinigten Staaten von Lateinamerika verbunden mit der Nutzung der Ressourcen des Süden des Doppelkontinents für den Aufbau einer sozialen Infrastruktur - dagegen wäre die Bedrohung der Regierung Bush durch Al Quaida ein Treppenwitz der Geschichte.

Ein Populist ist er - Chávez Selbstschutz ist Öffentlichkeit. Er verkündete den Medien der Welt, dass die US-Regierung ein Attentat auf ihn plant: "Wenn mir in nächster Zeit etwas zustößt, trifft die Verantwortung den Präsidenten der Vereinigten Staaten." Ein Populist im Wortsinne ist Chávez auch hier. "Ich lehne die Regierung der USA ab, nicht das amerikanische Volk."

Das hört sich banal an, ist aber eine Erkenntnis, die in weit verbreiteten Mentalitäten der Venezolaner noch nicht vorgedrungen ist, dem "Fuck Gringo, Gringo Culo", denen Venezuelareisende mit euroamerikanischem Habitus - blonden Haaren und Sonnenbrand - ausgesetzt sind, egal, ob als Manager bei Pepsi-Cola sind oder Feldforschung bei den Yanonami. Die Kreolen, die diese netten Bezeichnungen verwenden, tragen bevorzugt US-Collegejacken, spielen Baseball und fahren amerikanische Straßenkreuzer. Verschwörungstheorien grassieren. Hitler als europäischer Fidel Castro, der Holocaust als US-Propagandalüge, das waren nur einige der Ansichten, mit denen ich mich damals auseinander setzen musste. Basisaufklärung wie "nicht alle US-Amerikaner sind wie Bush" ist vor diesem Hintergrund viel wert. Kritische Geisteswissenschaftler dürfen die Messlatte des vereinfachenden Populismus unter den Verhältnissen in Venezuela nicht zu hoch anlegen. Aufklärung bedeutet vielerorts in der Gran Sabana nicht, die richtige Theorie für den Sozialismus im 21. Jahrhundert parat zu haben, sondern den Menschen Lesen und Schreiben beizubringen. Wer die soziale und intellektuelle Emanzipation in Venezuela will, muss kleine Arepas backen.

Man mag Chavéz viel vorwerfen: Er ist ein Volkstribun, ein Populist, heutige Venezuela-Reisende erzählen, dass die Korruption nicht abgenommen hat, es lediglich den Parias ganz unten etwas besser geht als vor zehn Jahren. Seine Statements haben oft eher einen symbolischen als einen praktischen Sinn. Die Ankündigung, das Volk Venezuelas mit Kalaschnikows auszurüsten, wäre bei einer US-Intervention eine Luftblase.

Ohne diesen Populismus wäre Chavéz wohl nicht mehr am Leben; ohne vereinfachende Statements könnte er seine Basis, die Ausgegrenzten und Ungebildeten, nicht erreichen. Chavéz Qualitäten liegen gerade dort, wo er im Widerspruch zu seiner Verbalradikalität handelt. Er ist an der Schnittstelle zwischen städtischen Mittelschichten und den landlosen Underdogs ein Pragmatiker und Diplomat, Sozialreformer und kein Guillero mit der Waffe in der Hand. Das Erdöl wird dem Zugriff der USA auch nicht entzogen, sondern zu venezolanischen Konditionen verkauft. Die Regierung Chavéz kooperiert mit sozialdemokratischen, linkspopulistischen und linksreformistischen Regierungen in Lateinamerika ebenso wie mit Fidel Castro. Der Volkstribun macht sich zur Ikone, indem er auf den Events der Globalisierungskritik auftritt. Er hat den entscheidenden Punkt begriffen und ist dabei, ihn umzusetzen - das Geld aus dem Öl ist dafür da, Schulen zu bauen und die Gesundheitsversorgung zu verallgemeinern. Er hat das Glück, Präsident eines Landes zu sein, dass sich diese Sozialreformen leisten kann, ohne die Mittelschicht zu enteignen. Die Regierung Chavéz ist auf dem richtigen Weg. Wer in Venezuela allerdings in Zukunft freundliche Polizisten erwartet, die selbstlos Kriminelle verfolgen und bei der Fahrzeugkontrolle keinen zweiten Führerschein verlangen - so heißt der Dollarschein hinter dem ersten - wird nicht weit kommen. Die meisten Venezolaner glauben als Katholiken an Wunder. Die politökonomischen Verhältnisse lassen nur minimale Schritte zu. Ein Wunder ist es, daß Chavéz noch am Leben ist. Nicht nur deshalb würde ich gerne eine Flasche Sekt mit ihm trinken.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/4362a56d514bf/1.phtml

sopos 10/2005