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Der Kampf um die Lehr- und Geistesfreiheit hat in Deutschland eine lange, unrühmliche Tradition. Ich will hier an eine zweijährige Auseinandersetzung erinnern, die am 25. April 1925 mit einem Artikel über Hindenburg im Prager Tagblatt begann. Die zitierten fünf kurzen Sätze, deren letzter hellsichtig Hitlers Ermächtigung ankündigte, führten bald zu Bedrohungen der beruflichen Existenz und des Lebens ihres Verfassers Theodor Lessing und schließlich zu seiner Ermordung. Aufgeheizt durch die Presse bedrängte zu Beginn des Sommersemesters 1925 eine Gruppe zum Teil mit Holzknüppeln bewaffneter Korpsstudenten den außerplanmäßigen Professor an der Technischen Hochschule Hannover und störte seine Vorlesungen. Der im Mai 1925 in Hannover gegründete »Kampfausschuß gegen Lessing« forderte, den »mit deutschfeindlichen Zeitungen schachernden Juden« als »Schmutzfleck im Lehrkörper« zu entlassen. Studenten randalierten vor der Stadtwohnung des bekennenden Juden, Pazifisten und unabhängigen Sozialisten, so daß Lessing sich gezwungen sah, in den Vorort Anderten umzuziehen. Zahlreiche Hochschullehrer unterstützten die Forderung, Lessing aus dem Lehrkörper zu entfernen. Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker bemühte sich, den Konflikt zu entschärfen. Er sah sich aber – nach der Vorlage der von ihm angeforderten äußerst negativen Gutachten von Max Scheler, Eduard Spranger und Edmund Husserl – genötigt, Lessing wegen seiner Publikationen über den Massenmörder Haarmann und den inzwischen zum Reichspräsidenten gewählten Hindenburg in einem persönlichen Schreiben als »Hochschullehrer und akademischen Forscher … mein Mißtrauen auszusprechen.« Offiziell verordnete er Lessing einen halbjährigen Urlaub, um die Gemüter der Studenten und Hochschullehrer zu beruhigen. Vergeblich. Denn nach dem Zwangsurlaub wurden Lessings Seminare und Vorlesungen erneut gestört. 700 Studenten skandierten am 31. Mai 1926 während des Kollegs »Juden raus! Verhaut ihn. Schlagt ihn nieder!« Und »Juden raus! Lessing raus!« Am 9. Juni 1926 äußerten zum wiederholten Mal Leitung und Professoren der TH Hannover den dringlichen Wunsch, Lessing die »venia legendi« zu entziehen, nachdem über 1000 Studenten am 7. Juni 1926 mit einem »Exodus« an die TH Braunschweig gedroht hatten. Aus dem »Fall Lessing« war ein »Fall Hannover« geworden. Der Leipziger Philosoph Hans Driesch sprach am 12. Juni 1926 gar von einer fatalen Ähnlichkeit mit der »Affäre Dreyfus«. Und Georg Bernhard schrieb tags darauf in der Vossischen Zeitung : »Der Fall Lessing ist zu einer Sache der Republik geworden.« Daß zahlreiche Studentenorganisationen und Professoren deutscher Hochschulen dem »Kampfausschuß« ihre Solidarität bekundeten, darf nicht unerwähnt bleiben. Auch das hannoversche Bürgervorsteher-Kollegium (Stadtrat) verlangte vom Kultusminister die Amtsenthebung Lessings – wegen der bei einer Abwanderung von Studenten für die Stadt drohenden wirtschaftlichen Schäden. Unterschrieben wurde der Antrag am 10. Juni 1926 u. a. von dem ehemaligen Stadtdirektor Tramm, der dem seit 1925 regierenden bürgerlichen »Ordnungsblock« vorstand, und von Bernhard Rust, der später zum NS-Gauleiter und preußischen Kultusminister aufstieg. Am 10. Mai 1926 hatte sich der preußische Landtag mit der Affäre Lessing befaßt. Der Sprecher der Deutsch-Völkischen, Danicke, verlangte die Entfernung Lessings aus dem Lehramt: »Dieser völkerversöhnende Herr kann immer noch gegen das Deutschtum hetzen, in Hannover seine Vorträge halten; dem geschieht nichts... Wir sind als Träger des Hakenkreuzes die treuesten Schützer des Deutschtums und jedes deutschen Staates, in dem Deutschtum und Christentum das Recht gewahrt wird.« Und was unternahmen die Anhänger der Republik? Carl von Ossietzky hatte in der Weltbühne gleich Mitte Mai 1925 gemahnt: »Der Kampf um Lessing kann die erste Probe aufs Exempel sein.« Protestversammlungen »gegen die Lessing-Hetze« – wie die der Sozialistischen Studentengruppe, des Freidenkerverbands, des Bundes Entschiedener Schulreformer und der Friedensgesellschaft im Juni 1925 – blieben Ausnahmen. Überregional beachtete Solidaritätskundgebungen für Lessing fanden erst 1926 vereinzelt statt, zum Beispiel am 28. Februar 1926 in Dresden und im Juni 1926 in Berlin mit den ebenfalls vom Berufsverbot bedrohten Privatdozenten Emil Julius Gumbel aus Heidelberg und Karl Korsch aus Jena. Die kleine Gruppe der Professoren des Weimarer Kreises um Friedrich Meinecke und Theodor Heuss, die sich zur Republik bekannten, war dagegen zu keiner Stellungnahme bereit. Nur einzelne Repräsentanten des Geisteslebens wie die Philosophen Ernst Cassirer, Leopold von Wiese und Leopold Ziegler oder Ludwig Quidde von der Deutschen Friedengesellschaft wie auch die »Jungen Menschen« um Walter Hammer bekannten sich zu Lessing. In der Frage der Lehrfreiheit kam es dann zu einem Kompromiß: Die am 18. Juni 1926 auf Grund der Vermittlung einiger renommierter sozialdemokratischer Hochschullehrer zustande gekommene Vereinbarung zwischen Lessing und dem preußischen Kultusminister garantierte den grundsätzlichen Erhalt der »venia legendi«, zwang aber Lessing, seine Vorlesungen dauerhaft einzustellen und dafür einen niedrig dotierten Forschungsauftrag anzunehmen (400 Mark im Monat). Lessing war fortan – mit seinen eigenen Worten formuliert – darauf angewiesen, als »Wanderlehrer, Vortragsredner, Kritiker, Publizist, Rezitator durch Deutschland und die Welt zu reisen«, um als »Philosoph der Not« zu überleben. Im Mai 1933 wurde die »Causa Lessing« endgültig erledigt, nachdem Rust im März schon Lessings Frau Ada als Leiterin der hannoverschen Volkshochschule aus dem Amt gejagt hatte. Zuvor hatte die »Volksdeutsche Gemeinschaft« aus Göttingen beim Ministerium beantragt, »zwecks Genugtuung für die deutsche Ehre… die auf diese Weise frei werdenden Mittel für einen Forschungsauftrag zur Aufdeckung der verschütteten germanischen Heiligtümer… auszuwerfen.« Am 30. August 1933 wurde Theodor Lessing das erste prominente Nazi-Opfer im Ausland. Gedungene Mörder erschossen ihn, während er am Schreibtisch arbeitete, durchs Fenster seiner Wohnung im Marienbader Exil, nachdem Goebbels als Minister für Volksaufklärung und Propaganda 80 000 Mark Kopfprämie auf Lessing hatte aussetzen lassen.
Erschienen in Ossietzky 19/2005 |
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