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Wer den Aufdruck liest, staunt über die Titelseite der Leipziger Neuesten Nachrichten vom 25. Februar 1930. Unter der Überschrift »Wirtschaftskrise und Leihamt« steht dort: »Die Wirtschaftsdepression des vergangenen Jahres wirkt sich u. a. auch in einer erhöhten Tätigkeit der Leihhäuser aus. […] An der abermals erhöhten Inanspruchnahme des Leihamtes waren alle Berufsstände beteiligt.« Da sage noch einer, nichts sei so alt wie die Zeitung von gestern! Heute heißt es im Radio: »Der Wirtschaftsbericht wurde Ihnen präsentiert von cash life – wir kaufen Ihre Lebensversicherung«, und auf der Titelseite des wöchentlichen Anzeigenblattes steht: »Goldschmuck – Münzen – Besteck – Zahngold auch mit Zähnen + Altgold. Barankauf zum Superpreis!«. * Es gibt eine neue Szenekneipe in unserer Stadt, sie heißt »Hartz IV«. Wer hier als Bezieher von ALG II ein Glas Bier trinken will, muß allerdings eine Stunde lang dafür arbeiten – der Gerstensaft kostet einen Euro. * Unsere Ein-Euro-Läden haben Absatzprobleme. Der erste ist gerade pleite gegangen. Kommt jetzt der Zehn-Cent-Laden? * Überall erlebe ich, wie die Menschen um mich herum aggressiver werden. Schikanöse Busfahrer, knurrige VerkäuferInnen, schreiende Jugendliche, rücksichtslose Autofahrer, Glatzköpfe mit Kampfhunden. In manchen Stadtteilen wird die Lage sehr ernst, aber das dürfe man den Stadtoberen so offen nicht sagen, »sonst kriegst Du gleich auf die Fresse von denen«, berichtet mir ein erfahrener Jugendarbeiter. Man dürfe nicht pauschal über ein Viertel sagen, es sei problematisch, solche Worte setzten die Ghetto-Bildung erst in Gang. Aber für das, was er im einzelnen erzählt, ist »problematisch« ein harmloses Wort: Da prügeln Alkoholiker einander in den Rollstuhl. Vor den zwei einzigen Supermärkten des Viertels finden sich jeden Tag Neonazis ein, die Passanten anpöbeln und auf Krawall aus sind. »So schlimm war das noch nie«, sagt er. Am gefährlichsten sei es im Ansgarweg: Dort quartiert die Stadt Obdachlose ein und überläßt sie ihrem Schicksal. »Ich hab' letztens einen Mann getroffen, der im offenen Pavillon auf den Königswiesen übernachtet hat – drei Wochen lang. Im Ansgarweg war bei ihm mit einer Axt die Tür eingeschlagen worden; und er hatte Todesängste ausgestanden. Aber sicher ist er auch in dem Pavillon nicht. Nur wenige Schritte entfernt haben Neonazis einmal einen Obdachlosen totgeschlagen. * Eine Freundin wartet beim Hausarzt, nachdem sie mit ihrem letzten Geld die Praxisgebühr bezahlt hat. Ihr fällt ein alter Mann in abgewetzter Kleidung auf, der schüchtern im Anmeldebereich herumsteht. Als eine Arzthelferin ihn zu sich ruft und von ihm zehn Euro haben will, flüstert er ihr etwas zu. Darauf wird sie wieder laut: »Sie müssen erst zum Automaten und Geld ziehen.« Wieder flüstert der alte Mann. Doch die Reaktion ist die gleiche: »Das kann ich nicht tun, dann krieg' ich Riesenärger. Ohne Geld geht das nicht.« Der alte Mann winkt verzweifelt ab und bringt mit halb erstickter Stimme vor: »Dann sagen Sie dem Doktor einen schönen Gruß von mir.« Er geht. Niemand würdigt ihn auch nur eines Blickes; alle tun so, als hätten sie nichts gehört. Die Reformen wirken. * Einkauf im Supermarkt: Ich habe bezahlt und will meine Waren im Leinenbeutel verstauen. Ein Jugendlicher greift in meinen Einkaufswagen, hebt eine Packung Chips heraus und sagt: »Die gehören jetzt mir.« Ich packe ihn am Handgelenk und bestimme, daß die Packung bleibt, wo sie ist. Er gibt nach, grinst schief und verschwindet. Ich erschrecke über mich. Für einen Augenblick war ich bereit, mich für eine Handvoll Kartoffelchips mit einem Halbwüchsigen zu schlagen. Mir wird klar, daß sein Griff in den Einkaufswagen ein Griff in das dunkle Herz unserer Wirtschaftsordnung war. Wann wird der erste versuchen, mir Brot oder Milch aus dem Wagen zu stehlen? Was werde ich dann tun? * Freund S. gibt mir immer Nachricht, welche Fernsehsendungen ich nicht verpassen dürfe. Er schreibt Leserbriefe, neulich wurde einer im Lokalblatt gedruckt. S. geißelte die fehlerhafte Ankündigung eines Spielfilms in der TV-Beilage des Blattes. Vor einigen Monaten hatte er noch geholfen, die Kieler Demonstrationen gegen Hartz IV zu organisieren. Das verlief schnell im Sande, weil irgendwann kaum noch jemand kam. Heute hat S. berechtigte Angst, in einem Ein-Euro-Job verheizt zu werden, und glotzt zur Beruhigung TV. Gerade hat TV Spielfilm einen Brief von ihm abgedruckt. Es geht um die dauernden Werbeunterbrechungen auf Pro Sieben . Für Politik interessiert S. sich nicht mehr – »ich will nur noch, daß die Politiker ordentlich auf die Fresse kriegen.« * Die Berufsschule in Pinneberg liegt neben einem kleinen Wald, der angeblich voller Drogennester ist. Zu den Konsumenten gehören SchülerInnen dieser Schule: Mietschläger haben kürzlich einen zahlungssäumigen Schüler grün und blau geschlagen; er mußte für einige Wochen ins Krankenhaus. Unser Dozent erzählt in einer Pause von seiner Verlobten, die als Streetworker in Hamburg gearbeitet hat – bis die Kündigung kam. Einige Wochen später bot man ihr dieselbe Stelle wieder an – als Ein-Euro-Job. »Die denken, daß ein sozial engagierter Mensch auch für ein Taschengeld tätig wird. Hauptsache, er kann seinen Helfertrieb ausleben.« Da ist der Schritt zum Ein-Euro-Lehrer nicht mehr weit. Auf einmal sehe ich mein Lehramtsstudium mit anderen Augen: Hartz IV statt A 13. Und davon zahle ich dann auch noch mein vollverzinstes BAFöG-Darlehen ab. Die Zukunft war früher mal etwas, worauf ich mich gefreut habe. Aber warum soll es ausgerechnet mir besser gehen als so vielen anderen? Und wie bekäme mir ein Wohlstand inmitten von Armut und Verzweiflung?
Erschienen in Ossietzky 19/2005 |
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