Deutsches Hinterfragen gegen den Strom

Matthias Biskupek

Journalist ist heutzutage ein Traumberuf. Man darf sich clever kleiden, fragt im Fernsehen Prominente aus, kann quer denken und gegen den Strom schwimmen, während alle anderen mit den Wölfen heulen müssen. Man erhält angemessene, also hohe Honorare, auf die man aber sofort verzichten könnte, denn Journalisten denken sozial, gerecht und hinterfragen alles. Merke: Nicht nur fragen: hinterfragen. Nicht nur denken: vordenken.

Als Vordenker und Hinterfrager erkundete ich neulich auf soziale, will sagen: mehrheitsfähige Weise, Oberschwaben. Meine Neue Mitte war das Fahrrad, mein Oberschwaben hieß Donautal. Eingedenk meines Berufsethos schwamm ich gegen den Strom, befuhr also das Donautal Richtung Quelle. Natürlich war ich clever gekleidet – ein Radler trägt preisintensive Radlerhosen. Auch mußte ich komfortable Unterkünfte nutzen, wie die meisten Radtouristen, denn als Rechercheur darf man vor nichts zurückschrecken. Mir kamen jene Leute entgegen, die mit den Wölfen heulen, also nicht gegen den Strom schwimmen, sondern sich sanft vom Strom der allgemeinen Meinung zu Tal tragen lassen, bis Passau, wo man niederbayerisch denkt, und Österreich, wo man seine Niedertracht hat.

Weil ich hinterfragen wollte, las ich die Tafeln, die allüberall über Orts- und Weltgeschichte informieren und direkt am Radweg aufgestellt sind. Wenn man gegen den Strom radelt, also langsam, hat man dazu Zeit. Wie ich las, kam ich durch uraltes österreichisches Gebiet: Vorderösterreich nannte sich das einst, obwohl hier auch die Stammesburgen der hinterpommerschen Regierungsbeamten stehen, denn den Hohenzollern gehörte einst viel Oberschwaben und später mal fast die ganze Welt, bevor die Bündnisuntreue der Italiener und die Schlamperei der Österreicher den Dolchstoß im Rücken bewirkte, der Deutschland einen Schandfrieden aufzwang – ich habe die ortsgeschichtlichen Tafeln, wie man merkt, genau hinterfragt. Dort stehen Daten und Fakten aus dem 4. (römische Siedlung, nagelneues Weltkulturerbe Limes), dem 12., dem 13. und dem 15.–19. Jahrhundert. Auch vom Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es wichtige Ereignisse: Einweihung des Feuerwehrhauses, Badegäste aus sieben Fürstenhäusern, Lebensabend eines berühmten Erforschers wilder Stämme. Dann dünnen die Jahreszahlen aus; es bleiben meist drei Ereignisse: 1939–1945 Zweiter Weltkrieg (kommentarlos), 1990 Deutsche Einheit (kommentarlos), 1999 Donauhochwasser, es werden 17 Gebäude beschädigt, Wiederaufbau des Feuerwehrhauses.

An der Donauquelle schlägt die Geschichte dann richtig zu: Wo man einst vom fürstlichen Park direkt zu jenem altdeutschen Swimming-Pool gelangen konnte, der die Donauquelle repräsentiert, gibt es jetzt Beschränkungen. Der ortsansässige Fürst, der auch das kräftige Fürstenberg-Pilsner herstellen läßt – etwas Werbung gehört, wie man weiß, zum modernen Berufsbild des Journalisten –, denkt marktwirtschaftlich. Er pflegt sein Eigentum – Eigentum verpflichtet – mit modernen finanztechnischen Methoden und läßt seit einigen Jahren nicht mehr jeden Dödel kostenlos herumlatschen.

Endlich beginnt die deutsche Welt nach den Schrecknissen von Homo-Ehe, Kindergartenkollektivierung und mangelhaften Studiengebühren sich wieder jener Großen Zeit vor hundert Jahren anzunähern. Damals spielten wir eine Welt-Rolle. Von der Donauquelle bis zur Donaumündung – via Balkan bis Bagdad – schaltete und verwaltete deutscher Erfinder- und Entdeckergeist. Dem sind wir wieder auf der Spur. Man muß nur Heimatgeschichte – immer gegen den Strom – als Vordenker hinterfragen.

Erschienen in Ossietzky 18/2005