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Ein beleidigter BeleidigerExzellenz Wolfgang Clement, der Superminister mit dem traurigen Bernhardinerblick, trat neulich aus dem Schatten, der ihn umgibt wie den Priester die Soutane, und verkündete, die Arbeitslosigkeit im Osten sei die Folge von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft. Er vergaß nur, damals hatten die Leute Jobs, die sie in den letzten 15 Jahren bürgerlicher und sozialdemokratischer Bereicherungswirtschaft verloren, weil sich der Export von Arbeitsplätzen so schön rechnet. Und längst hatte er vergessen, daß die Ostdeutschen Reparationszahlungen für alle Deutschen leisten mußten, einbeschlossen den Ruinenbaumeister Clement von der Peripherie des Weltgeschehens, der an seinen bisherigen Wirkungsplätzen die teuersten Spuren von Mißmanagement hinterließ – womit er sich dafür qualifizierte, das eigens für ihn geschaffene Doppelmini-sterium für Wirtschaft und gegen Arbeit zu übernehmen, um dem Sozialstaat größtmöglichen Schaden anzutun. Folglich richteten sich im vorigen Jahr die Montagsdemonstrationen in vielen ostdeutschen Städten vor allem gegen Clement. Doch natürlich stand ihm die heilige FAZ als Sirene des begünstigten Großkapitals zur Seite: »Das demokratische Markenzeichen ›Montagsdemonstration‹ als Sammelbegriff für den Protest gegen die Arbeitsmarktreform ist ›eine Zumutung‹, eine Beleidigung der Zivilcourage, die viele Ostdeutsche damals gezeigt haben.« Ab sofort sollten die werten Ostdeutschen beim unfehlbaren Clement und seiner Frankfurter Zensorengazette jeweils vorher um Erlaubnis nachsuchen, falls sie zu demonstrieren gedenken. Und montags nie, verbot ihnen der vom Main her unterstützte rheinische Held mit dem Feuerschwert. Das zückt er nun gegen die neue Linkspartei, vor der die Rechten sich fürchten, als wär's eine Stalinsche Panzerarmee, vor der die Großväter und Väter schon stiften gingen. Gerhard Zwerenz
Stoiber und die 68erUm »der Frau Merkel«, wie er sie gern nennt, weiß-blaue Schützenhilfe zu geben, hat es der bayerische Ministerpräsident beim Wahlkampfauftakt der CSU mal wieder so richtig krachen lassen: Die Bundesrepublik befinde sich vor einer »Schicksalsstunde« – nun komme es darauf an, »den Alt-Achtundsechzigern« endlich die Macht zu entreißen. Disziplinlos und leistungsfeindlich seien sie, die ewig studentenbewegten Politiker mit ihren rot-grünen Phantastereien. Doch trotz der Kracher wollte die richtige Stimmung nicht aufkommen. Schon zu oft hatte das Publikum diese Sprüche gehört. Kann es sein, daß Edmund Stoiber überschätzt wird? Hat er nicht begriffen, daß sich aus dem sogenannten 68er-Erbe Kapital schlagen läßt? Zu empfehlen ist ihm die Lektüre eines Leitartikels in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung . Da erklärt Chefredakteur Thomas Schmid, ein gelernter Alt-68er, was die Politiker heutzutage beim Abbau von Bürgerrechten psychologisch zu beachten haben: »Eine Partei, der nicht anzumerken ist, daß sie die Einschränkung von Bürgerrechten schmerzt, kann in der modernen Welt nicht überzeugen.« Also, Herr Stoiber oder Herr Beckstein: Die Schmerzensmiene einüben, damit weitere Abbrucharbeiten am grundgesetzlichen Altbau kein böses Blut erregen. Schon beim Krieg gegen Jugoslawien haben Ihnen Alt-68er vorgemacht, wie modernes Politmarketing betrieben wird: Nicht kriegerisches Säbelrasseln, sondern Friedensgesang ist angesagt, wenn man militärisch zugreift. Arno Klönne
Wanderlust mit und ohne MPManchmal erzählen Veranstaltungen viel über den Zustand unserer Gesellschaft. In Thüringen fielen jüngst zwei Eröffnungen auf einen Tag. Im Saalebogen, dort, wo Rudolstadt, Saalfeld und Bad Blankenburg ein Städtedreieck bilden, wurde der 105. Deutsche Wandertag eröffnet. Prominenz aus, wie es früher hieß, »Partei und Regierung« war angereist. Der Thüringer Ministerpräsident lobte die wanderlustigen Gesellen und vor allem seine eigene Regentschaft, unter deren segensreichem Wirken diese Region jetzt so wunderbar erblüht sei wie vor fünfzehn Jahren kaum vorstellbar. Dann wurden Wanderhymnen angestimmt, und der MP samt Begleit-Schwanz klatschte minutenlang im Takt mit. Zwei Stunden später wurde in der – laut Wandersprache nur wenige Meilen entfernten – Landeshauptstadt das 5. Sozialforum eröffnet, erstmals in Deutschland. Mit Musik, weniger zum Mitklatschen denn zum Mittanzen. Reden und Liedtexte gab es in Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch, nicht selten zur Wanderlust des Kapitals – viele attac-Gruppen waren Mitveranstalter des Sozialforums. Junge und grauhaarige Leute aus Deutschland und Europa begrüßten sich und diskutierten miteinander – der Thüringer Ministerpräsident mit Getreuen allerdings fehlte. Der klatschte wohl noch im Saalebogen. Zu einem Lied, das früher, in der Deutschen Demokratischen Unrechtsrepublik, gar taktlos »Oberdoofer Bauernmarkt« hieß. Matthias Biskupek
Die ExpertenrundeAm letzten Juli-Sonntagabend traf Bundeskanzler Schröder bei Sabine Christiansen auf vier Fachmänner: zwei Professoren, einen Mittelständler, einen vormaligen Banker. Die Herrschaften wurden circa je anderthalbmal zur Meinungsabgabe zugelassen, auch das Publikum durfte sich räuspern. Der Kanzler redete sie alle an die Studiowand, und selbst beim Atemholen spendete ihm eine TV-SPD-Betriebsgruppe Applaus zum Steinerweichen. Dennoch war der Abend lehrreich. Wir dachten bisher, die Regierung regiere, die Opposition opponiere und das Fernsehen berichte darüber. Seit dem 31. Juli 2005 wissen wir: Frau Christiansen regiert, der Kanzler ist ihr Echo, die Opposition findet nicht statt, und wir, das gemeine Volk, werden von Experten vertreten, deren Unzuständigkeit nur noch von ihrer puddinghaften Charakterlosigkeit eingeholt wird. Einen gutplazierten, reichlich bemessenen Sendetermin mit Schröders Wiederholungsmarathon zu verschwenden, ohne auch nur ein einziges ernsthaftes Gegenargument vorzubringen, das ist eine Leistung, die der junge Marx gemeint haben muß, als er über die Deutschen schrieb: »Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tage ihrer Beerdigung.« Und dabei kannte er noch gar nicht unsere Fernseh-Diskussionsrunden. G. Z.
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Kirchliche WohltätigkeitWer ist der größte Arbeitgeber auf der ganzen Erde? Der Deutsche Caritas-Verband und das Diakonische Werk – wenn wir sie mal zusammenrechnen wie CDU und CSU. Die Beschäftigtenzahl der sogenannten karitativen Verbände der beiden Großkirchen in Deutschland erreicht (einschließlich Auszubildenden) fast 1,5 Millionen. Der Jahresumsatz beträgt rund 45 Milliarden Euro. Kirchliche Mittel, größtenteils als Steuern staatlich erhoben, tragen dazu nur 1,8 Prozent bei. Für Investitionen kommt meist der Staat oder die Kommune auf, wodurch das Vermögen der Verbände wächst und wächst; derzeit liegt es bei etwa 230 Milliarden Euro. Das mit Immobilienbesitz reich gesegnete Paar verfügt zudem über beträchtliche finanzielle Rücklagen, die es aus seinen Erträgen bildet. Genaue Angaben darüber verdanken wir nicht den Kirchen und Verbänden selbst, die darüber lieber vornehm schweigen, sondern dem fleißig recherchierenden Carsten Frerk, der früher schon mit einer Untersuchung über »Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland« hervorgetreten ist. Aus seinem neuen Buch über »Caritas und Diakonie in Deutschland« erfahren wir auch, daß diese beiden Verbände auf dem Markt der Altenheim-Pflege, der Kindertagesbetreuung, der ambulanten sozialpflegerischen Dienste, der Behindertenwerkstätten, der Sucht- und Drogenhilfe u. a. einen Anteil von um die 40 Prozent haben, in manchen ländlichen Gebieten bis zu 100 Prozent. Die Umleitung öffentlicher Mittel – darunter Steuern vieler Menschen, die keiner Kirche angehören – an kirchliche Einrichtungen ist politisch oft mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet worden: Der Staat müsse freie Träger zum Zuge kommen lassen und unterstützen, weil sie leistungsfähiger seien als er selbst. Die geradezu wettbewerbsverzerrende Leistungsfähigkeit der konfessionellen Wohltätigkeitsverbände nährt sich aber gerade an den Wohltaten, die Staat und Kommunen ihnen angedeihen lassen. Caritas und Diakonie sind auch insofern leistungsfähiger, als sie ihr Personal stärker ausbeuten dürfen. Dafür sorgen die verfassungsrechtliche Privilegierung der Kirchen sowie der Tendenzparagraph im Betriebsverfassungs- und im Mitbestimmungsgesetz. Gewerkschaftliche Interessenvertretung ist unerwünscht. Caritas und Diakonie mögen, wenn überhaupt, nur mit speziellen Mit-arbeitervertreterInnen verhandeln, abhängig Beschäftigten, die auch konfessionell gebunden sein müssen. Kirchlichen Machtanspruch haben viele Nichtchristen in Ostdeutschland besonders drastisch zu spüren bekommen, wenn ihre Arbeitsstätten aus kommunaler oder staatlicher Trägerschaft in kirchliche überführt wurden. Wollen sie zum Beispiel eine Leitungsfunktion übernehmen, müssen sie nun zuerst in die Kirche eintreten und »Schrift und Bekenntnis« auch in ihrer privaten Lebensführung anerkennen, wie es in einer »Loyalitätsrichtlinie« der Evangelischen Kirche in Deutschland heißt. Ausdrücklich sollen alle Einrichtungen der »Verkündigung« dienen. Dieser »kirchliche Auftrag« gilt als Grundlage der Beschäftigungsverhältnisse. Aus einem CaritasArbeitsvertrag zitiert Frerk: Wichtige Gründe, aus denen das Verhältnis fristlos gekündigt werden könne, seien schwerwiegende Verstöße gegen die Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre, der Kirchenaustritt, eheähnliches Zusammenleben, Heirat nach Scheidung, öffentliches Eintreten für den Abtretungsgedanken, Mitgliedschaft in Organisationen, die überwiegend derartigen Bestrebungen dienstbar sind. Wir leben eben in einem freien Land mit freien Trägern. Eckart Spoo Carsten Frerk: »Caritas und Diakonie in Deutschland«, Alibri Verlag, 366 Seiten, 22,50 €
SelbsterlösungChrista Wolf hat den Verlag gewechselt. Die Argusaugen der Kritiker suchen nach der Sensation im ersten Christa-Wolf-Band bei Luchterhand und finden: Nichts Neues! Man ist empört, enttäuscht und mäkelt. Dabei ist für mich der Band als Ganzes nicht eben die Sensation, aber ein Glücksfall: Die neun Texte, allesamt nach 1990 geschrieben und zumeist in wenig bekannten Sammelpublikationen schon einmal veröffentlicht, erschließen Zusammenhänge, zeigen Entwicklungen, ergänzen und relativieren sich erstaunlich vielschichtig. Das beginnt eher düster und sehr ernst: Christa Wolf beschreibt Augenblicke einer schweren Krankheit und Operation. Die Frau »im Stein« (1996) ist gelähmt und narkotisiert, abhängig und dennoch wach – »ein Stück Fleisch auf der Schlachtbank«, und natürlich assoziiert auch der gesunde Leser damit ein bekanntes Lebensgefühl: von Nägeln bedroht und »mit Näglein besteckt«. Das wiederum ist ein Text (»Nagelprobe«, 1992), der mit dem Wort »Nagel« spielt und zugleich einen aktuellen Seelen- und Weltzustand entblößt. Der lastet auf der Autorin – was man ihr ebenfalls übelnahm: Sie nehme sich zu ernst. Christa Wolfs wunderbare Reaktion heißt »Selbsterlösung«. Natürlich schreibend. Gelassener, heiterer, privater. Ihr Erlebnis Amerika mag viel dazu beigetragen haben. Da traf deutsche Schwermütigkeit und Pedanterie auf amerikanische Sorglosigkeit, Improvisationskunst und Oberflächlichkeit. Da wurde sie sich aus der Distanz der Wurzeln und der Freunde bewußt, sah die Gegensätze und das Verbindende, das für sie Prägende. Noch immer bedroht vom Weltenchaos, das sie allein nicht zu ändern vermag, aber auch nicht verdrängt oder verharmlost, lebt sie »ihrs« und beschreibt es. Den Partner, der sie beschützt und bekocht. Den Tag im Jahr, der zu ihrer Chronistenpflicht gehört. Christel Berger Christa Wolf: »Mit anderem Blick«, Erzählungen, Suhrkamp Verlag, 192 Seiten, 14.80 €
Verschüttet und verschwiegenNanu? Hatten wir nicht gerade...? Ja, wir hatten 2002 eine Inge Müller-Biografie, verfaßt von Ines Geipel. Wieso nun schon wieder eine? Weil Sonja Hilzinger, Autorin der jüngsten Biografie, ihre begonnene Arbeit nicht aufgeben wollte, als die von Geipel geschriebene erschien? Weil nicht genug getan werden kann, um Inge Müller ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen? Wer war denn diese Inge Müller (1925–1966), die sich mit Gas vergiftete? Die Zwanzigjährige war, als noch im April 1945 Bomben auf Berlin fielen, verschüttet worden, mußte ausgegraben werden. Später, als Schriftstellerin, war und blieb sie, auch in der literarischen Welt der DDR, vielen unbekannt. Lyriker wie Bernd Jentzsch und Richard Pietraß mühten sich, sie vorm Vergessen zu retten, während der dritte Ehemann der Ingeborg Müller, geborenen Mayer, Heiner Müller, ihre Autorenschaft an gemeinsamen dramatischen Arbeiten verschwieg, ihre Leistung verschüttete. Ines Geipel ist die erzählerisch emotionalere, Sonja Hilzinger die essayistisch rationalere Biografin. Ihr Buch ist, obwohl es vieles wiederholt (es wiederholt auch häufig sich selbst) eine Ergänzung und Erweiterung zum Buch von Ines Geipel. Für Inge Müller ist noch immer nicht genug getan! Bernd Heimberger Sonja Hilzinger: »Das Leben fängt heute an. Inge Müller«, Aufbau-Verlag, 302 Seiten, 22,90 €
FrauenpaareWann, wo, wie lebten Frauen in ihrer Liebe zueinander miteinander? Der Band »Berühmte Frauenpaare« konzentriert sich auf Freundschafts-Liebes-Geschichten von Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts – Frauen, deren Bedeutung in der Öffentlichkeit nicht gering war, deren Privatleben aber sehr privat blieb. (Berühmt waren die Frauen, nicht die Paare.) Rosa Bonheur, Katherine Mansfield, Rachel Carlson mögen als Ausnahmen erscheinen, stehen aber stellvertretend für jede, die den Schneid hatte, der eigenen Bestimmung gemäß zu leben. Was das für die menschliche Existenz bedeutete, hat Margarete Buber-Neumann formuliert, die im KZ Milena Jesenská traf, die einstige Freundin Franz Kafkas: »Ich hatte das Glück, nach Ravensbrück gekommen zu sein, weil ich dort Milena getroffen hatte.« Sooft auch von unglücklichen Umständen der Partnerschaften berichtet wird, es überwiegt das Glück verläßlicher Beziehungen zwischen den Frauen. »Berühmte Frauenpaare« ist ein Buch für alle Paare. B.H. Joey Horsley und Luise F. Pusch (Hg.): »Berühmte Frauenpaare«, Suhrkamp Verlag, 318 Seiten, 10 €
Ein Autor empfiehlt sichAuf der Leipziger Buchmesse zieht mich ein Mann ins Gespräch, der dringend eine Rezension seines neuen Buches in Ossietzky wünscht. Da ist er nicht der einzige. Die meisten der ausgestellten neuen Bücher werden in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Er spricht beharrlich auf mich ein. Er läßt mir das Buch zukommen, er schreibt mir, ruft an, spricht aufs Band, bittet um Rückruf, ruft nochmals an, fordernd, lästig. Ich schaue in den Erzählungsband, stolpere über schwierige, gestelzte, verunglückte Sätze und lese dann, was er in einer Erzählung den Ich-Erzähler, der einen Brief bekommen hat, über einen darin gefundenen Satz sagen läßt: »Der Rhythmus stimmte. Trotzdem mußte man, dieser Eindruck wollte nicht weichen, sich an dem Satz entlang drücken wie an einem Gartenzaun, den man nach einer verbotenen Öffnung absucht, wollte man das Gefühl haben den Satz zu verstehen.« Dies zu zitieren, denke ich, reicht aus, um ihn abzufertigen. Aber dann lese ich doch weiter und stelle fest: Dieser Schriftsteller Ewart Reder schreibt mindestens so kraftvoll, wie er mich bedrängt hat. Ein heller Kopf. Daß ich auf ihn aufmerksam machen muß, weiß ich spätestens nach der letzten, mit überraschenden Pointen gespickten Erzählung dieses Bandes: Ein leitender Beamter des Auswärtigen Amtes empfiehlt einem alten Freund, Filmproduzent in München, einen schokoladenbraunen Ghanaer als Chauffeur. Als dieser, Joseph heißt er, abgeschoben werden soll, schreibt der Filmproduzent nach einem Besuch in einer Asylbewerberunterkunft an den für Westafrika zuständigen Beamten des AA: »Ihr habt sie doch nicht alle. Der Typ, der sich Verwaltungsrichter nennt in Ansbach, wo ich letzte Woche war, hat gemeint, die Gewerkschaft, als deren Aktivist mein guter Freund Joseph in Ghana in den Knast sollte, gibts nicht. Jeder Dritte in der Unterkunft ist Mitglied – einer nicht existierenden Gewerkschaft! So sieht das eben der FAZ -Korrespondent, auf den sich das Gericht in jedem Verfahren beruft. Und weißt Du, von wo aus der das sieht? Von Nairobi. Viertausend Kilometer Luftlinie von der unbedeutenden Hauptstadt eines irrelevanten Staates in Westafrika entfernt, wohnt der Mann und verdient die Kopeken für das Harvard-Studium seiner Enkel damit, daß er der bleichen Mutter Deutschland Abtreibungsscheine für ihre afrikanischen Kinder ausstellt. Ach ja, und alle vier Wochen der alten Tante in Frankfurt einen Bericht aus den vier afrikanischen Winden zupustet.« Prall voller Realität aus vielen verschiedenen Milieus und Lebenslagen – dieses Buch und sein Autor sind es wert, mindestens so dringend empfohlen zu werden, wie er sich mir aufdrängte. E.S. Ewart Reder: »Ein und Aus«, Dielmann Verlag, 166 Seiten, 19 €
Weltsicht in PsychostudienIn Wladimir Makanins »Geglückter Liebesgeschichte« stellt der einstige Schriftsteller Tartassow als heutiger Moderator der Fernsehsendung »Tee und Konfekt« jedem Gesprächspartner die Frage: »Ging es Ihnen (Ihnen persönlich) früher schlechter, oder geht es Ihnen heute schlechter?« Die Frage wird nicht beantwortet, obwohl ihr sehr ernüchternd die ganze Vordergrundhandlung gewidmet ist: die Beziehung zwischen Tartassow, dem längst schreibunfähig Gewordenen, zu seiner einstigen Zensorin und Geliebten Larissa Igorjewna, jetzt Chefin eines »extravaganten Etablissements« (besseren Puffs). Seinen Fernsehposten hat sie ihm durch erzwungenen Sex mit ihrem einstigen Kollegen und jetzigen Wendegewinnler Wjuschin erkauft. Während sie sich aber noch immer nach Zärtlichkeiten von Tarassow sehnt, bettelt der »fade alte Knacker« – in Geldnöten – um eine Gratisnummer bei einem ihrer Mädchen. In allen Werken besticht Makanin mit eindringlichen, geradezu atmosphärischen Spiegelungen gesellschaftlicher Vorgänge in der menschlichen Psyche. So, wenn er in der Titelgeschichte des neuen Buches »Der kaukasische Gefangene« verfolgt, wie der Soldat Rubachin, während er einen »sehr schönen« Gefangenen abführt, homosexuelle Gefühle aufkommen fühlt, ehe er ihn schließlich beim Zusammenstoß mit einem gegnerischen Trupp erwürgt. Oder wenn er in der Erzählung »Der Buchstabe A« verfolgt, wie sich in einem Sträflingslager im Osten der UdSSR die »Perestroika« bemerkbar macht : vom »Bekloppten«, der in nächtlichen Schreien an die namenlos Beerdigten erinnert, über Veränderungen im Verhalten der Bewacher bis zum möglich gewordenen Sex-Besuch einer Gruppe aus einem Frauenlager und dem Abriß der Wachtürme. Was Makanin in den anderen Erzählungen über die Entwicklung von Emotionen und Gedanken vermittelt, gestaltet er in der »Geglückten Liebesgeschichte« mit Hilfe von Zeitsprüngen: durch »Hineinbohren« in ein Mauseloch, einen Spalt oder ähnliches, was ins Damals oder zurück ins Heute versetzt – erinnernd an den weiblichen Schoß, durch den wir »ins Leben treten« (wie wir auch durch einen »Engpaß« aus dem Leben scheiden). Die schillernde Metapher des »Schlupflochs«, des »Engpasses«, durch den »wir uns alle durchgezwängt haben«, gilt auch der Perestroika. Makanin, geboren 1937 in Orsk (am Ural-Fluß), ursprünglich Mathematiker und Filmemacher, kommt nicht aus dem »Underground«, dem er vor diesen Erzählungen ein großes Gesellschaftsbild gewidmet hat. Dank eigenwilliger Themen und bestechenden Stils erfuhr er schon ab Ende der siebziger Jahre internationale Anerkennung; deutsche Ausgaben erschienen in Ost und West. Zu einem Lesegenuß werden seine jüngsten Werke in Annelore Nitschkes poetischer deutscher Wiedergabe. Leonhard Kossuth Wladimir Makanin: »Der kaukasische Gefangene«, drei Erzählungen, Luchterhand, 240 Seiten, 19,90 €
Press-KohlPeter Neumann, Verkehrsexperte der Berliner Zeitung , widmete kürzlich einen Beitrag der betrüblichen Erkenntnis: »Ostdeutsche Eisenbahn startet mit Pannen.« Gemeint ist die Ostdeutsche Eisenbahn GmbH (Odeg), deren Triebwagen im Brandenburger Ostnetz die Züge der Deutschen Bahn abgelöst haben. Ist die Ostdeutsche Bahn besser als die DB? »Obwohl alle Fahrer fünf Monate lang von DB Bildung geschult worden waren«, stellte Neumann fest, »lief der Betrieb noch nicht ganz rund.« Obwohl? Oder weil? »In Eberswalde startete der Fahrer des 15.36-Zuges nach Templin am Montag zu früh. Er fuhr los, obwohl das Signal noch rot war.« Da müssen die Reisenden eben eine Stunde früher auf dem Bahnsteig sein. Etwas Rücksicht auf einen farbenblinden Fahrer darf man doch erwarten. »Als Reaktion« auf solche und ähnliche Pannen »wird das Fahrpersonal drei Tage lang erneut in die Betriebsabläufe unterwiesen.« Wenn die unsicheren Triebwagen-Kapitäne erneut in die Abläufe unterwiesen werden (hoffentlich nicht von der DB Bildung), und das sogar drei Tage lang, werden sie sich in diese Abläufe sicher zurechtfinden, vielleicht nicht gleich, aber doch in die nächste Zukunft. Aber noch gibt es »betriebliche Unregelmäßigkeiten auf Grund von nicht vorhandener Routine. Wir nehmen diese Vorfälle sehr ernst und sind uns sicher, daß wir die Probleme fix ausmerzen können«, versicherte Andreas Ernst, Sprecher der Hamburger Hochbahn Aktiengesellschaft, welche alle Probleme von Hamburg aus durch ferngelenkte Drei-Tages-Unterweisungen in alle Ab- und Zuläufe fix ausmerzen kann, bis alles schön rund läuft. Oder eckig. * Es gibt Zeitungs-Meldungen, bei denen einem das Lächeln einfriert. »Die Leichen der beiden in Afghanistan getöteten Bundeswehrsoldaten sind am Mittwoch nach Deutschland heimgekehrt« (Neues Deutschland ). Überschrift: »Tote Soldaten zurück aus Afghanistan«. Ich frage: Können Leichen heimkehren? Wie kommen tote Soldaten zurück in die Heimat, aus der Struck & Co. sie als lebende Soldaten nach Afghanistan kommandiert hatten? Und warum? Warum? Warum? Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 16/2005 |
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