Gewohnheitsmäßig vorbeisehen

Sergej Guk

Der Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow hat falschparkenden Autofahrern den unerbittlichen Kampf erklärt. Er hat eidesstattlich versprochen, das Unheil von den Straßen wegfegen zu lassen. In der Tat: Unter dem rücksichtslosen Parken leiden in erster Linie die an Stromleitungen gebundenen Obusse samt den Fahrgästen, die manchmal eine Viertelstunde lang nicht weiterfahren können. Auch die Passanten müssen oft einen Umweg machen, um die frech auf dem Bürgersteig stehenden Saurier amerikanischer oder japanischer Fabrikation zu passieren. Die meisten Leute bringen ihren Unmut nicht einmal zum Ausdruck. Sinnlos. Die Besitzer der Prachtwagen gehören entweder zur Geldelite, oder es sind hohe Beamte oder große Kriminelle. Mit solchen legt man sich besser nicht an, sondern geht schweigend weiter. Auch die Verkehrspolizei guckt vorbei. Gewohnheitssache.

Obwohl Luschkow als konsequent und hart gilt und mehr als genug Vollmachten besitzt, bin ich bereit, jede Wette einzugehen, daß sein Vorhaben zu nichts führen und mit der Zeit in Vergessenheit geraten wird. Vor kurzem hat er angeordnet, nicht genehmigte Parkplätze in Moskau zu schließen. Die Fahrer sollten nurmehr den uniformierten Wächtern der stadteigenen Parkplätze Gebühren zahlen; den festen Tarif kann man vom Rücken der Uniformen ablesen. Privatpersonen ist es untersagt, Parkplätze zu unterhalten. Ergebnis der Aktion: Illegale Gebührensammler haben sich sofort die städtische Uniform mit den Preisangaben beschafft und kassieren ungestört weiter – und ich würde niemandem raten, ihnen unter Hinweis aus Luschkows Erlaß die Bezahlung zu verweigern, die Reparatur wird teurer. Nun müssen sie ihre Einnahmen mit den amtlichen Prüfern teilen. Gewohnheitssache. Was kann ein Feldmarschall machen, wenn die Feldwebel ihm keinen Gehorsam leisten?

Gewohnheitsmäßig nimmt man auf den Straßen auch die Reklame hin, die alles Erdenkliche verspricht. Welche nicht wiedergutzumachenden Schäden Reklame denen zufügen kann, die ihr vertrauen, habe ich in meinem Hause erlebt. Da wohnt eine 80jährige alleinstehende und sehbehinderte Rentnerin. Einmal hat sie im Fernsehen gehört, es gebe neue Augentropfen, die ein Wunder vollbringen. Das beteuerte ein solide aussehender Mann im weißen Arztkittel. Die alte Frau fiel darauf herein. Nun ist sie fast blind. An den Rechtsweg denkt sie gewohnheitsmäßig nicht – wegen der Aussichtslosigkeit.

Jeden Sommer wird landesweit in den Wohnungen das heiße Wasser für drei Wochen abgeschaltet. Begründung: Reparatur- und Wartungsarbeiten. Vielleicht wird in dieser Zeit tatsächlich das eine oder andere instandgesetzt. Wer kann das wissen? Wir wissen aber etwas anderes: Rohrbrüche oder andere Schäden treten gewohnheitsmäßig nachher ein – im Herbst oder Winter. Logischerweise wird dann jedesmal wieder das Wasser abgeschaltet.

Und jedes Jahr werden die Kommunaltarife erheblich erhöht – gewohnheitsmäßig ohne Gegenleistungen. Exekutive und Legislative beschränken sich darauf, diese traurige Tatsache zu konstatieren, und unternehmen nichts gegen die Wucher-Monopole. Ebenfalls gewohnheitsmäßig. Offensichtlich in der Hoffnung auf die unerschöpfliche Geduld des Volkes…

Erschienen in Ossietzky 14/2005