Fragen an die Wähler

Herbert Rubisch

Hochverehrte Wählerin! Und du, hochverehrter Wähler! Bist du wirklich so dumm, wie es an allen Tagen Präsidenten und Vorstände der Wirtschaftsvereinigungen und -Institute uns glauben machen wollen? Die Vorsitzenden der Parteien sprechen ihnen nach und verkünden: Zu Unternehmenssteuersenkung, Lohnverzicht bei längerer Jahresarbeitszeit, Verzicht auf Urlaub, Auflösung der Sozialsysteme gibt es keine Alternative! Beschäftigte kosten zu viel. Betriebswirtschaftlich nicht vertretbar. Sie schmälern die Gewinne der Eigentümer, sind den Börsen ein Greuel.

Im Unterschichten-TV und in Zeitungen belegen Bundestagsabgeordnete, Konzernvorstände, Sinn, Rürup, Norbert Walter die Not des Systems. Die Zuschauer und Leser verstehen das und arbeiten länger, für geringeren Lohn, höhere Sozialbeiträge und weniger Urlaub. Sie gehen freiwillig ins ALG II. Sie zeugen keine Kinder. Denn: Weniger Kinderkrippen, weniger Kindergärten, weniger Schulen, weniger Lehrer, weniger Bibliotheken, weniger Ausbildungsplätze sind weniger Kosten. Nachhaltigkeit! Verstanden?

Nun wählt uns im Herbst, rufen Parteivorsitzende und Generalsekretäre.

Wir werden noch rigider streichen, kommt die Botschaft aus dem Süden. Also wählt uns! – Weg mit den Wachstumshemmern: den Gewerkschaften, tönen die besonders freien Demokraten. Also wählt uns! – Weiter mit der Agenda 2010, hören Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer und können sich Arbeit nicht nehmen. – Und ihr, Mütter, Ehefrauen und Bräute, auf mehr Tote out of area sollt ihr euch einstellen, sagt der Sozialdemokrat oder Struck.

Liebe Wählerin, lieber Wähler! Bist du so bescheuert?

Alfred Bäurle, Fragen an die Wähler (02. Aug. 2005, 12:45)

Erschienen in Ossietzky 13/2005