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Wachsende Willkür im StrafverfahrenMartin Lemke Bundesdeutsche Juristinnen und Juristen erlernen in ihrer Ausbildung Grund- sätze, die den Rechtsstaat vom Unrechtsstaat, namentlich vom NS-Staat, unterscheiden. Hierzu gehören: die Unschuldsvermutung, der Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten«, das Recht, die Aussage zu verweigern, das Verbot der rückwirkenden Geltung von Strafbestimmungen, der Grundsatz »Keine Strafe ohne Gesetz«, das Verbot, deutsche Staatsbürger auszuliefern, und die Verpflichtung für Polizei und Staatsanwaltschaft, bei Freiheitsentziehung eine richterliche Genehmigung einzuholen. Diese Grundsätze schützen beschuldigte Bürger vor staatlicher Willkür. Weil allerdings der Abgeordnete Christian Ströbele sich, wie er sagte, »normativ unfrei fühlte« und die anderen Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit ihren Gedanken, falls sie sich überhaupt welche gemacht haben sollten, woran man nach den Offenbarungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht erhebliche Zweifel hegen kann, offenbar woanders waren, weil also bei der Abstimmung im Bundestag über das Gesetz zur Übernahme der Brüsseler Ministerratsbeschlüsse über den Europäischen Haftbefehl ins bundesdeutsche Recht nicht ein einziger Abgeordneter die grundlegende Bedeutung der neuen Bestimmungen erkennen konnte oder wollte, sind mehrere der genannten Grundsätze – das Recht zu schweigen, das Rückwirkungsverbot, das Auslieferungsverbot und der Grundsatz »Keine Strafe ohne Gesetz« – nunmehr aufgrund dieser Parlamentsentscheidung Makulatur oder gleich ganz aufgehoben. Deutsche Staatsbürger können auf Antrag eines europäischen Vertragsstaates von und aus der Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert werden, ohne daß ein Richter prüft, ob die gegen sie erhobenen Vorwürfe begründet sind. Hierzu ist auch nicht erforderlich, daß die den Betroffenen vorgeworfene Handlung in der Bundesrepublik Deutschland strafbar ist oder früher strafbar war, und es bedarf keiner Haftgründe nach deutschem Recht. Falls Sie ausgerechnet nach Großbritannien ausgeliefert werden, dürfen Sie sich nicht durch Schweigen verteidigen, sondern müssen aussagen. Schweigen kann gegen Sie verwendet und darf vom Gericht als Schuldeingeständnis gewertet werden. Herr D., ein Deutscher aus Hamburg, befindet sich in Auslieferungshaft, nachdem die spanische Justiz gegen ihn Vorwürfe erhoben hat, deretwegen er in der Bundesrepublik mangels Strafvorschrift nicht verfolgt und bestraft werden konnte. Bis zur Übernahme des Europäischen Haftbefehls standen der Verfolgung des Herrn D. das Rückwirkungsverbot, der Grundsatz »Keine Strafe ohne Gesetz« sowie das bis dahin geltende Auslieferungsverbot entgegen. Die spanischen Vorwürfe beruhen offenkundig auf deutschen Ermittlungsergebnissen, die von der Bundesanwaltschaft und dem Bundeskriminalamt den spanischen Behörden übermittelt wurden und dann den spanischen Auslieferungsantrag begründeten. Der Verlauf der mündlichen Verhandlung in der Sache des Herrn D. vor dem Bundesverfassungsgericht gibt freilich Anlaß zu der Hoffnung, daß dieser Variante heutiger Kriminalpolitik der verfassungsrechtliche Garaus gemacht wird. Erschreckend bleibt, wie schnell und gedankenlos sicher geglaubte rechtsstaatliche Garantien parlamentarisch außer Kraft gesetzt worden sind. Der absolute Kernbereich von Beschuldigtenrechten in der Strafprozeßordnung wurde, weil der Haftbefehl aus Brüssel kam, der Willkür ausländischer Justizbehörden ausgeliefert. Die Bestimmungen des Europäischen Haftbefehls gelten gegenwärtig uneingeschränkt; das Bundesverfassungsgericht wird möglicherweise im Sommer oder Herbst darüber entscheiden. Herr D. sitzt nach wie vor in Auslieferungshaft. Er ist seiner Freiheit beraubt, ohne gegen eine deutsche Strafnorm verstoßen zu haben. * Die Erfahrungen mit dem Europäischen Haftbefehl sind nur ein Beispiel für die Auflösung rechtsstaatlicher Garantien im Strafverfahren. Ein anderes Beispiel sind die gegenwärtig eingesetzten, seit 2002 gesetzlich erlaubten technischen Mittel und Methoden von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Schilderung eines Verfahrens (geändert sind nur die Namensangaben) dürfte genügen, um deutlich zu machen, wie massiv sie unser aller Grundrechte bedrohen. Ein Vermerk des Kriminalbeamten A., tätig in der Drogenfahndung eines Landeskriminalamts, besagt, Herr W. beziehe regelmäßig kiloweise Marihuana aus den Niederlanden. Tatsächlich wurden Rauschmittel nicht gefunden. Herr W. lebt, wie die Polizei feststellte, seit Jahren unbescholten in der Bundesrepublik. Der verheiratete Mann, Vater eines Kindes, ist nicht vorbestraft. Vermeintliche Rauschmittel-Lieferanten oder -Kunden werden nicht genannt. Es gibt einzig und allein die in dem Vermerk enthaltene Behauptung der unbekannten Person über ihn. Offenkundig hat diese Person von der Polizei Geld für die Aussage erhalten. Das Polizeigeld sichert den Lebensunterhalt der Person, der die Staatsanwaltschaft ohne nähere Begründung Vertraulichkeit zugesichert hat. Aufgrund des Vermerks über die Vernehmung der unbekannten Person verfaßten Kollegen des Beamten A. eine Strafanzeige: Herr W. habe Betäubungsmittel in nicht geringer Menge ins Land geschmuggelt und mit ihnen Handel getrieben. Das ist eine sogenannte Katalogtat im Sinne des § 100a Strafprozeßordnung, die Mindeststrafe beträgt zwei Jahre. Diese Einordnung des nicht näher beschriebenen Tatvorwurfs diente der Polizei später zur Legitimation von Überwachungsmaßnahmen. Zunächst diente die Strafanzeige als Grundlage eines weiteren Vermerks. Da-rin heißt es: Aufgrund der Erkenntnisse aus der Strafanzeige und der Erkenntnisse des Beamten A. wird hiermit die kurzfristige Observation des Beschuldigten W. gemäß § 163 Strafprozeßordnung angeordnet. Das klingt so, als gäbe es inzwischen zwei Erkenntnisquellen. Aber die Grundlagen des Verdachts haben sich nicht verdoppelt. In den Akten ist nur dem Vermerk über die Vernehmung der unbekannten Person die ausschließlich darauf gegründete Strafanzeige angeheftet worden. § 163 Strafprozeßordnung regelt die gesetzliche Pflicht der Polizei, Straftaten zu verfolgen. Mehr nicht. Von Observationen steht dort nichts. Gleichwohl wird Herr W. nun umgehend, wie die Ermittlungsakte ausweist, an zwei Tagen nacheinander jeweils sechs Stunden lang polizeilich überwacht. Das Ergebnis liest sich wie folgt: Die kurzfristige Observation ergab, daß Herr W. sich am 15.11. und am 16.11. jeweils mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegte, dabei extrem umsichtig war und im Einkaufszentrum seine Umgebung beobachtete. Fassen wir die Verdachtslage zusammen: Eine unbekannte, von der Polizei bezahlte Person schildert einen Verdacht, und der Beschuldigte verhält sich nach Einschätzung der Polizei extrem umsichtig. Einen Beweis oder auch nur ein Indiz für den behaupteten Handel mit Marihuana gibt es nicht. Man sollte meinen, das Verfahren würde jetzt eingestellt. Die Drogenfahnder sehen das jedoch anders. Sie schreiben einen weiteren Vermerk. Darin wird das umsichtige Verhalten im Einkaufszentrum als sehr ungewöhnlich für eine Person gewertet, die kriminalpolizeilich bisher nicht aufgefallen ist. Aufgrund dieses Vermerks stellt die Polizei bei der Staatsanwaltschaft den Antrag, eine Observationsanordnung gegen Herrn W. zu erlassen und nach § 100i Strafprozeßordnung einen richterlichen Beschluß zum Einsatz mobilfunktechnischer Mittel (IMSI-Catcher) und nach § 100a StPO zur Vorbereitung der Anordnung der Telekommunikationsüberwachung einzuholen. Staatsanwaltschaft und Richter entscheiden antragsgemäß. Der IMSI-Catcher ist ein Gerät, das sich gegenüber jedem in seiner Nähe befindlichen Mobiltelefon wie eine Basisstation des Mobilfunknetzes verhält und eine eigene Funkzelle simuliert. Mit dem IMSI-Catcher kann die Teilnehmernummer auf der SIM-Karte des benutzten Handys festgestellt werden, desgleichen die Gerätenummer des Mobiltelefons und der Standort des Handys. Anschließend kann mittels der Teilnehmernummer die Telefonüberwachung geschaltet werden. Das alles ist auch dann möglich, wenn das Handy ausgeschaltet ist, sofern nur die SIM-Karte eingelegt ist. Die elektronische Fußfessel ist nichts im Vergleich zum mitgeführten Handy. Mittels des Handys kann die Polizei nun jederzeit und unmittelbar den Stand-ort des Handys und seines Trägers feststellen und sämtliche in der Umgebung des Handys geführten Unterhaltungen abhören. Das Handy dient als Mikrofon mit direkter Leitung ins Polizeipräsidium. Ohnehin können alle aus- und eingehenden Gespräche und SMS-Nachrichten sowie sämtliche Verbindungsdaten unmittelbar erfaßt werden. Der Provider ist zur Herausgabe früherer Verbindungsdaten verpflichtet. Die Auswertung der digitalisierten Funksignale ermöglicht Stimmproben und Stimmvergleiche. Aufgrund der seit 2002 geltenden Bestimmungen der StPO durfte das alles trotz oder gerade wegen der beschriebenen überaus dürftigen Verdachtslage gegen den Beschuldigten W. geschehen, und es geschah tatsächlich. Schon immer hatten im Strafrecht die technischen Möglichkeiten und die polizeiliche Praxis den Anwendungsfall bestimmt; die gesetzliche Normierung der Maßnahmen wird jeweils nachgereicht. Kurz: Nicht das Gesetz bestimmt die polizeiliche Praxis, sondern die Praxis das nachfolgende Gesetz. Da die Überwachung und Observation des Herrn W. nichts erbrachte, wurde in einem Fahrzeug, das nicht Herrn W. gehörte, in dem ihn jedoch Bekannte gelegentlich mitnahmen, eine Wanze installiert, alle im Fahrzeug geführten Gespräche wurden abgehört. Begründung: Herr W. habe sich am Handy konspirativ verhalten. Und man – gemeint ist die Polizei – habe nichts feststellen können, was den Tatverdacht erhärtet hätte. Marihuana-Lieferungen sind bis heute nicht nachgewiesen. Der Einsatz der Wanze ist jedoch nach § 100c StPO wegen des Verdachts der genannten Katalogtat zulässig. Je umfangreicher der Vorwurf und je schmaler die Beweisgrundlage, desto schneller und leichter darf die Polizei die neu eingeführten Vorschriften anwenden, die in der StPO dem § 100 folgen. Das Fehlen von Beweisen und Indizien begründet nach polizeilicher Logik nicht die Einstellung des Verfahrens, sondern im Gegenteil dessen Ausweitung. Übrigens habe ich als Strafverteidiger erst einmal erlebt, daß ein mitgeführtes Handy hilfreich war. Der flüchtende Beschuldigte Y. rannte von einer Autobahnraststätte aus in Richtung eines nahegelegenen Waldes. 50 Polizisten und ein Polizeihubschrauber waren ihm dicht auf den Fersen und hatten, wie es polizeilich heißt, unmittelbaren Sichtkontakt zu dem Flüchtigen. Herr Y., im Wald angekommen, warf sein Handy sofort im hohen Bogen nach links, in ein dichtes Gebüsch, während er einen Haken nach rechts schlug und weiterlief. Wider alles Erwarten gelang ihm die Flucht. 50 Polizisten und der Hubschrauber belagerten mehr als 30 Minuten lang das Gebüsch, sendeten und empfingen unablässig Funksignale und stellten nach Erstürmung im nunmehr niedergetretenen Blattwerk das Handy des Herrn Y. sicher. Herr Y. hatte sich – für ihn erfolgreich – der elektronischen Fessel entledigt. * Kurz noch ein drittes Beispiel für die Erosion der Rechte verdächtiger Bürger: die Folterdiskussion. Über polizeiliche Folter zu reden, sie gutzuheißen und ihr angesichts des verfassungsrechtlichen Folterverbotes nunmehr über den Umweg des Polizeirechts einen rechtlichen Rahmen geben zu wollen, ist eines. Als Polizeibeamter zur Anwendung der Folter bereit zu sein, ein anderes. Dozenten an Polizeifachhochschulen berichten, daß sie im Unterricht den Beamten und Polizeischülern den Frankfurter Fall der Androhung von Folter vorgestellt, die Rechtslage beschrieben und das Strafurteil gegen den Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner erörtert haben. Anschließend befragten die Dozenten die Seminarteilnehmer im Unterricht nach ihrer Meinung. Zwischen 50 und 70 Prozent der Teilnehmer hielten die Androhung von Folter für richtig. 30 bis 40 Prozent der Teilnehmer waren, wie sie kundtaten, sofort bereit, die Folter durch Zufügung erheblicher Schmerzen selbst zu vollziehen. Der Bonner Strafrechtslehrer Günther Jakobs hat bei verschiedenen Gelegenheiten, so auf dem jüngsten Strafverteidigertag in Aachen, ein »Feindstrafrecht« propagiert, wonach die strafrechtlichen Garantien für Beschuldigte, die als außerhalb des Rechts stehende Feinde angesehen werden, keine Geltung mehr hätten. Wir müssen annehmen, daß diese Polizeischüler keine Bedenken hätten, das Jakobsche Feindstrafrecht anzuwenden.
Rechtsanwalt Martin Lemke (Hamburg) ist Vorstandsmitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins und Vorsitzender der Werner-Holtfort-Stiftung. Sein Beitrag ist redaktionell gekürzt.
Erschienen in Ossietzky 12/2005 |
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