Demokratieverständnis in Europa

Renate Schoof

Mich quälen einige Fragen. Die bedrängendste zuerst: Wollten unsere Volksvertreter, allen voran Gerhard Schröder, Joseph Fischer und Angela Merkel, sehenden Auges wichtige Teile unseres Grundgesetzes abschaffen? Wollten sie die darin verankerte »Soziale Marktwirtschaft« einwechseln gegen eine »offene Marktwirtschaft« mit grenzenlos freiem Wettbewerb? Das klingt zwar harmlos, gehört aber zweifelsfrei zum Instrumentarium dessen, was wir Raubtierkapitalismus nennen.

Die vom rechtskonservativen ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing mit anderen Interessierten ausgearbeitete Europäische Verfassung verpflichtet ihre Mitglieder auf die Grundsätze neoliberaler Wirtschaftspolitik. Sie bedeutet das Ende der Rechte für Arbeitnehmer. Auf der Strecke bleiben Beschäftigung, ein handlungsfähiges Gemeinwesen, öffentliche Infrastruktur, soziale Wohlfahrt und Zukunftssicherung. Außerdem wird die Europäische Zentralbank jeder politischen Aufsicht enthoben; das gibt es nicht einmal im Paradies des Großkapitals, in den USA.

Des Weiteren werden die Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung verpflichtet. Über weltweite Militäreinsätze entscheidet der Ministerrat für alle Mitgliedsstaaten. Damit wäre der Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes ausgehebelt: Freie Fahrt für Auslandseinsätze.

Bevor ich weitere Fragen stelle, ein Zugeständnis: Ich kann nicht glauben, daß die von uns gewählten Abgeordneten uns und sich absichtlich wichtige demokratische Rechte nehmen wollen. Das traue ich nicht einmal Gerhard Schröder zu, der merkwürdigerweise noch immer in der SPD ist. Es wäre doch viel einfacher, einer ginge, als daß alle sozial und demokratisch eingestellten Mitglieder und Wähler abwandern.

Und war nicht beim grünen Partner früher sogar von Basisdemokratie die Rede? Joseph Fischer mag wissen, wie sich das mit diesem Brüssel verträgt.

Angela Merkel traue ich ohnehin nicht mehr über den Weg, seit sie sich angesichts des Irakkrieges bei Georg W. Bush meinte anbiedern zu müssen.

Was aber ist mit den anderen Abgeordneten los (abgesehen von einigen PDS-Vertretern, die ebenso wie unsere französischen und niederländischen Nachbarn gegen diese EU-Verfassung stimmten)? Können die meisten Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht lesen, jedenfalls nicht sinnerschließend? Und können wir uns Politiker leisten, die nicht einmal jemanden kennen, der beim Lesen und Interpretieren hilft? Probleme mit Juristenlatein und Kleingedrucktem auf so vielen Seiten haben natürlich auch wir. Eigentlich müßten uns die Medien beim Lesen und Verstehen eines so wichtigen Dokuments behilflich sein.

Doch die suchen sogar noch die Gründe für das Scheitern der Verfassung werweißwo und nicht im intelligenten Umgang der Franzosen mit ihren Rechten und im Demokratieverständnis der Menschen im guten alten Europa.

Übrigens: Alle Abstimmungsberechtigten in Frankreich hatten den vollständigen Text der EU-Verfassung ins Haus geschickt bekommen. Red.

Erschienen in Ossietzky 12/2005