Unreifes Volk, reife Politiker?

Peter Söhren

Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und in den Niederlanden hat sich per Abstimmung gegen den Entwurf einer Verfassung der Europä-ischen Union entschieden, womit die Inhaber der Regierungsmacht nicht gerechnet hatten. In der Bundesrepublik Deutschland war die politische Klasse klüger, sie ließ ihr Volk erst gar nicht zu Worte kommen. Stattdessen durften Bundestag und Bundesrat das von Experten und Bürokraten ersonnene voluminöse Werk abnicken. Wenn die Befragungen durch Journalisten einigermaßen repräsentativ den Informationsstand von Bundestagsabgeordneten erfaßt haben, dann waren die VolksvertreterInnen offenbar nicht imstande gewesen und hatten es auch gar nicht für nötig gehalten, sich in den Inhalt der Verfassung einzulesen. Sie akzeptierten sie einfach.

Immerhin – prominente Intellektuelle wie Jürgen Habermas, die als kritische Geister gelten, hatten sogar in die französische Debatte einzugreifen versucht und ein Ja zum Verfassungsentwurf dringlich empfohlen. Merkwürdigerweise war es jetzt Habermas, der in der Süddeutschen Zeitung darlegte, daß gute Gründe für ein Nein bestanden: »Über die Köpfe der Menschen hinweg« habe das europäische Establishment entscheiden wollen, und nicht alle Bürgerinnen und Bürger seien gewillt, sich dem Diktat der Neoliberalen widerspruchslos zu unterwerfen. Da fragt man sich, weshalb unser Philosoph darauf nicht schon vor den Referenden gekommen war, aber das mag mit Hilfe seiner Theorie des kommunikativen Handelns zu erklären sein.

Wichtiger sind andere Reaktionen: In den Leitartikeln und Feuilletons der deutschen Presse mehren sich nun die ganz grundsätzlichen Warnungen davor, direkte Entscheidungen des Volkes überhaupt zuzulassen. Der Souverän leidet, so der Tenor, dauerhaft unter Unreife. Was nun? Aber wir haben ja den Bundes-präsidenten, und der weiß mit einem solchen Dilemma so cool umzugehen, daß zynische Journalisten hell begeistert sind. Man muß nur den demokratietheoretischen Ballast beiseite lassen und unternehmerisch denken, dann ist das Problem erkannt und die Lösung bei der Hand: Ohne kompetentes Marketing, so legte Horst Köhler vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik dar, ist auch ein neoliberales europäisches Politprodukt nicht unter die Leute zu bringen. Die geschäftsleitenden Politiker haben versagt, die Kundenbetreuung war miserabel. Der Bundespräsident hat das gerügt. Als höflicher Mann hat er darauf verzichtet hinzuzufügen: Notfalls muß man in der Abteilung Politik/Marketing personelle Veränderungen vornehmen.

Erschienen in Ossietzky 12/2005