Reformbesessenheit

Sergej Guk

Ich behaupte: Die Politiker entstammen einer anderen Affenart als unsereins. Urteilen Sie selbst. Vor ein paar Tagen erklärt unser Vize-Premier Alexandr Schukow: »Die Leute sind unserer Reformen müde.« Ganz recht. Reformen sind bekanntlich dazu da, die Situation im Lande zu verbessern – bei uns ist das Gegenteil der Fall. Ich bezeuge: Es gab im postsowjetischen Rußland keine einzige Reform, die dem Allgemeinwohl gedient hätte. Jeder Eingriff machte das Leben noch schwerer. Und welche Schlußfolgerung zieht der Staatsmann aus dieser düsteren Tatsache? Kurskorrektur? Behebung der Fehler? Seien Sie nicht naiv. »Vielleicht«, fährt Schukow fort, »sollte man ein anderes Wort gebrauchen, statt ›Reformen‹: ›Änderungen zum Besseren‹.«

Ich erzähle keine Witze. Das ist das übliche intellektuelle Niveau unserer Obrigkeit (mit seltenen Ausnamen). Ihr Rezept für die Lösung sozialer Probleme ist äußerst einfach: nicht die Strategie, sondern das Vokabular ändern. Es sind kei-nerlei Verbesserungen in Sicht, aber ein Sloganwechsel würde genügen, damit das einfältige, irregeführte Volk alles hinnimmt, was die Reformer ihm noch bereiten. Und sie bereiten Verhängnisvolles.

Hören Sie bitte einen unserer unermüdlichen Erneuerer, den Wirtschaftsminister German Gref. Gleichzeitig mit Schukows Sprachreformvorschlägen verheißt er, nach den »leichten und populären Reformen« kämen jetzt die »schmerzhaften«, die »den gewohnten Alltag stören«. Das heißt: Die bisherige Armut von zwei Dritteln der Bevölkerung war lediglich das Fegefeuer, bald werden wir erst in die eigentliche Hölle stürzen. In der Tat: Uns droht jetzt die Kommerzialisierung des Gesundheits- und Bildungswesens sowie der Kommunalwirtschaft. Zweck ist allemal die Abwälzung finanzieller Lasten auf die Bevölkerung, die keinerlei Gegenleistungen zu erwarten hat.

Dazu kommen die Exmittierungen. Allein in einem Moskauer Bezirk sind rund 2000 Familien von Zwangsräumung wegen Mietrückständen bedroht (landesweit hunderttausende), denn ein geltendes Gesetz verlangt pünktliche Mietzahlung. Es gibt ein anderes Gesetz, das pünktliche Lohnzahlung verlangt. Doch die Unternehmer pfeifen darauf: Die Sanktionen bei Zahlungsverzug sind nicht der Rede wert. Oft mußten Beschäftigte in den Hungerstreik treten, ehe sie das Geld erhielten, das sie verdient hatten. Wie kann eine Familie unter solchen Verhältnissen die Mietkosten rechtzeitig begleichen? Wie kommt sie überhaupt zurecht? Nein solche Fragen interessieren die Behörden nicht, die Mietschuldner werden in Häuser zwangseingewiesen, in denen nicht jeder Penner wagen würde zu übernachten.

Der Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow, Spitzenpolitiker der regierungsnahen Partei »Einheitliches Rußland«, wird in der letzten Zeit nicht müde, die Obrigkeit vor den katastrophalen Folgen ihrer Politik zu mahnen – vor einer landesweiten Meuterei oder gar einer Revolution. Vergebens. Der bereits erwähnte Gref formuliert den Regierungskurs so: »Die Interessen des Staates werden denen der großen Bevölkerungsschicht, die den Reformfortgang stören wird, entgegengesetzt.« Anders gesagt: Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt…

Und was ist mit unserer letzten Hoffnung, dem Parlament? Schützen uns vielleicht die Volksvertreter vor der reformbesessenen Exekutive? Sie denken nicht daran. Und lassen jeden Gesetzentwurf der Regierung automatisch passieren. Um die Bitterkeit der Menschen zu versüßen, haben sie kürzlich mal wieder eine Schlägerei in der Duma arrangiert. Wie gut, daß wir per Fernsehen dabei sein konnten. So können wir wenigstens das Geld für einen Zirkusbesuch sparen.

Erschienen in Ossietzky 10/2005