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Der Antiquar hat das Exemplar als »sehr selten« annonciert und versichert, daß dieses »Geburtstagsheft derzeit weltweit das einzige Exemplar ist«, das sich im Handel befindet. Was macht da der Kisch-Verehrer und -Forscher, auch wenn der Preis entsprechend einzigartig ist? Er greift zu. Dieses Heft der demokratischen Deutschen aus der Tschechoslowakei, die angesichts des deutschen Überfalls 1938/39 nach Großbritannien emigriert waren, ergänzt nun in meiner Kisch-Sammlung ein anderes Geburtstagsheft, das zum selben Anlaß von Emigranten auf einem anderen Kontinent herausgegeben wurde, nämlich in Mexiko. Titel: »Egon Erwin Kisch – Seine Reise um die Welt in 60 Jahren«. Und so ergeben die beiden Hefte mit Hilfe der kleinen Kunstrechnung 2 x 60 = Kisch 120 jenen aktuellen Anlaß, der hier genannt sein soll: Vor 120 Jahren wurde Egon Erwin Kisch in Prag geboren, am 29. April 1885. Mutter Kisch berichtete ihm später, die Hebamme Karolina Rosenthal habe ihr nach seiner Geburt im Haus »Zu den zwei goldenen Bären« in der Melantrichová gesagt: »Du hättest ein Grübchen im Nabel, Du wirst ein Herzganeff ein.« Egonek, wie ihn Mutter, Vater, die vier Brüder und die zahlreichen Freunde – und Freundinnen – auf allen Kontinenten nannten, ist wahrlich ein Herzganeff geworden, ein Herzensbrecher. Aber er hat nicht nur die Herzen schöner Frauen gebrochen, er hat die Herzen ungezählter Leser erobert. Und als Mann der Feder ist er eine Jahrhundert-Erscheinung geworden. Berühmt wurde er als »Rasender Reporter«, aber die Kenner wissen, mit welcher Mühe und Sorgfalt, mit welchem Zeitaufwand er die Worte wendete, die Sätze formte, die Manuskripte vollendete und die Reportage zu einem literarischen Genre entwickelte. Dabei hat er niemals in einem Elfenbeinturm gesessen. Stets hat er an den Kämpfen seiner Zeit teilgenommen. Unvergessen ist sein Sprung auf den fünften Kontinent im November 1934. In fünfeinhalb Metern Höhe hatte er sich in Melbourne über die Reling des britischen Liners »Strathaird« geschwungen, weil ihm die australischen Behörden den regulären Landgang verweigerten, er aber den Auftrag des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus unbedingt erfüllen wollte: Teilnahme am Antikriegskongreß in Melbourne, Information über die Verbrechen der braunen Diktatur in Deutschland. An Kischs Geist und Haltung wird man erinnert beim Blättern und Lesen in den beiden Geburtstagsheften aus dem Frühjahr 1945. Welch klangvolle Namen haben sich da in die Schar der Gratulanten eingereiht, wohlgemerkt, in jenen Tagen am Ende des verheerenden Krieges, da die weltweite Kommunikation nicht im mindesten so einfach war wie heutigentags: Anna Seghers, Alfred Döblin, Bruno Frei, Heinrich Mann, Upton Sinclair, Agnes Smedley, Kurt Stern, F.C. Weiskopf, Johannes R. Becher, Theodor Plivier, Friedrich Wolf, Balder Olden, Vladimir Pozner, Ludwig Renn. Auch Walter Janka ist dabei. Und Lenka Reinerová, damals noch blutjung, heute Grande Dame der deutschsprachigen Literatur in Prag und eine der wenigen Überlebenden aus der damaligen Emigrantenkolonie. Wie Janka war sie Sekretär des Komitees der Schriftsteller in Mexiko D.C., das eigens für die Aktivitäten zu Ehren von Kisch gebildet worden war. »Da Du nun schon sechzig Jahre alt bist und weit, weit weg von mir lebst und da ich als stiller Leser Deiner aufregendsinnvollen Bücher stets feststellen konnte, wieviel andere Leute von Dir gelernt haben, kann ich – die Regel durchbrechend – nur sagen: Marx sei Dank, daß wir Dich haben!« So beglückwünschte Oskar Maria Graf den Jubilar. »Als ich meine Berliner Bibliothek verloren hatte und daran ging, mir in meinem provisorischen Wohnsitz in Frankreich eine Bibliothek einzurichten, waren die Bücher von Kisch unter den ersten, die ich suchte«, beginnt Lion Feuchtwanger seine Hommage für das mexikanische Jubiläumsheft. »Als ich dann meine Bibliothek in Frankreich verloren hatte und daran ging, mir in meinem provisorischen Wohnsitz in Amerika eine Bibliothek einzurichten, waren die Bücher von Kisch die ersten, die ich suchte. Jetzt habe ich die alten und vertrauten Bände wieder zusammen, ja sie haben sich vermehrt.« Er schließt: »Kisch, diese einmalige Erscheinung,« könne »aus der literarischen und politischen Geschichte unserer Zeit nicht weggedacht werden«. Das Londoner Geburtstagsheft wird von Fritz Bruegel mit einer umfassenden Würdigung – »Der Chronist der Zeit« – eingeleitet. In den Tagen, da der vom Nazismus entfesselte Krieg sein Ende gefunden habe, so heißt es darin, stünden »alle Menschen, die der Fortdauer der europäischen Kultur überhaupt Bedeutung beimessen,« vor der Verpflichtung, eine Bilanz zu ziehen, wobei die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren eine besondere Pflicht hätten, nämlich: »Sie dürfen nicht übersehen, wie weit die deutsche Literatur Teil hat am nazistischen Verbrechen, wie weit sie ihm Widerstand geleistet und wie weit sie es bekämpft hat.« Kisch habe, so das Resümee zu seinem 60. Geburtstag, auf der richtigen Seite gestanden im Kampf gegen den Faschismus und für die Befreiung Deutschlands vom Hitler-Faschismus. All sein Werk gehöre »zum Kulturerbe, das hinübergetragen werden soll in eine Welt, die vom Faschismus gereinigt ist«. Dieser Maßstab sollte auch zum 120. Geburtstag gelten.
Erschienen in Ossietzky 9/2005 |
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